Eine glanzlose Angelegenheit3

 
 

Die NSDAP hatte bei der Wahl am 6. November 1932 einen erheblichen Stimmenverlust zu verzeichnen, und nicht zuletzt aufgrund innerparteilicher Streitigkeiten konnte die Frankfurter Zeitung zum Jahreswechsel schreiben, dass »der gewaltige nationalsozialistische Angriff auf den Staat« als abgeschlagen zu gelten habe. Hitler verständigte sich indes mit von Papen auf eine gemeinsame Regierung der Nazis mit den Nationalisten und Konservativen, der er selbst vorstehen wollte, wovon sich von Papen allerdings erst in langwierigen Verhandlungen im Laufe des Januars überzeugen ließ.

In diesen Tagen kam es in der Akademie zu einer Auseinandersetzung um eine gemeinsame Erklärung »gegen die Kulturreaktion«.4 Seinen Anfang nahm diese Auseinandersetzung, als von einer direkten Einflussnahme der Nationalsozialisten auf die Akademie noch nicht die Rede sein konnte. Franz Werfel zeigte sich während der Akademiesitzung vom 6. Dezember 1932 wie die meisten anderen Anwesenden entsetzt über die in massenhafter Auflage in der Deutschen Buchgemeinschaft erschienene völkische Literaturgeschichte von Paul Fechter, seines Zeichens Feuilletonredakteur bei der Deutschen Allgemeinen Zeitung. Heinrich Mann solle eine Resolution verfassen, in der vor Fechters 800 Seiten dickem Buch gewarnt werde. Der Zwist um diese Resolution sollte sich bis Februar hinziehen. Heinrich Mann schrieb den gewünschten Entwurf, aber, wie zu erwarten, kam es in der Sitzung am 5. Januar zu keiner Einigung, und im Anschluss trafen sich Loerke, Döblin, Fulda und Benn im Fürstenberg-Bräu am Potsdamer Platz, um eine Lösung zu finden. Man wollte Fechters Buch auch nicht zu viel Ehre zuteilwerden lassen und entschloss sich also, Heinrich Manns Erklärung zu erweitern und zu einer allgemeinen Stellungnahme gegen die immer stärker um sich greifende Kulturreaktion umzuarbeiten.

Eine Woche nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler – »dieser denkwürdige Tag, dieses unabsehbare Datum«5 des 31. Januar, als Benn bei klirrender Kälte in Oldenburg anlässlich einer Einladung der »Vereinigung für junge Kunst« aus seinen Werken las, deren Veranstaltungsreihe an jenem Tag ihr erzwungenes Ende fand,6 während in einem bis weit nach Mitternacht währenden Fackelzug die jubelnden Massen an den Fenstern der Reichskanzlei vorbeizogen – wurde in der Akademie immer noch über die in Frage stehende Resolution diskutiert. Angesichts der veränderten politischen Lage beschloss man, abzuwarten und wachsam zu bleiben. Hierzu blieb jedoch kaum mehr Gelegenheit, denn nur wenige Tage später wurde der Nationalsozialist Bernhard Rust zum kommissarischen Leiter des Preußischen Kultusministeriums ernannt; damit hatte die Akademie einen Kurator, der sich als fähig erweisen sollte, seinen »neuen Kulturwillen«7 energisch durchzusetzen. Binnen kürzester Zeit gelang ihm die Gleichschaltung der Akademie, die mit dem freiwilligen Austritt von Käthe Kollwitz (von der Gottfried Benn eine Kohlezeichnung besaß) und dem Austritt Heinrich Manns als »Selbstreinigung« der Akademie in Gang gebracht worden war. Max von Schillings, der Präsident der Akademie, hatte Heinrich Mann im persönlichen Gespräch zum Austritt bewegen und so verhindern können, dass im Dichterplenum über seinen Ausschluss abgestimmt werden musste – zur Erleichterung der Mehrzahl der Anwesenden, die auch auf einen Protest aus ihren Reihen verzichten wollten, um die Situation, in der sich die Akademie befand, nicht weiter zu belasten. Heinrich Mann, so argumentierten sie, hätte niemals den »dringenden Appell«, dass sich die Linke zu einer gemeinsamen Liste verständigen solle, unterschreiben dürfen, da dieser mit der Zeile »Setzt die Verantwortlichen unter Druck!« einen Kampfaufruf gegen die Regierung formuliert habe. Zwar richtete sich der Appell an die Verantwortlichen von SPD und KPD, doch das hatte man vor dem Hintergrund der neuen Machtverhältnisse schlicht übersehen. Die Sitzung endete damit, dass eine von Binding formulierte Presseerklärung verabschiedet wurde, in der Heinrich Manns Austritt bedauert, seiner Arbeit gedankt und der Auffassung der Sektion Ausdruck gegeben wurde, »daß der Reichtum der deutschen Kunst zu allen Zeiten aus der Mannigfaltigkeit der Weltanschauung erwachsen ist«.8 Durch eine Indiskretion, die man Döblin zuschrieb, wurde der Text der Presse bekannt, noch bevor Max von Schillings ihm zustimmen konnte, und von der völkischen Presse zum Anlass genommen, den verpassten Austritt all derer zu beklagen, die Heinrich Mann zum Vorsitzenden gewählt hatten.

Benns Glaube an die Institution der Akademie war zu diesem Zeitpunkt unerschüttert. All seine Ressentiments gegen den in den letzten Jahren öffentlich auf seinem Rücken ausgetragenen politischen Kampf hatte er auf die Situation innerhalb der Akademie übertragen, die er als einzige Stätte der reinen Kunst im Sinne »seines dritten Reichs«9 bewahrt wissen wollte. In diesem Sinne äußerte er sich auch in der Sektion über Heinrich Manns Fürsprecher. Oskar Loerke protokollierte:

 

Er wendet sich gegen die Einstellung aller derjenigen Mitglieder, die immer und ohne Weiteres geneigt sind, alles, was die Akademie und ihr eigenes Wesen betrifft, zu bagatellisieren. Alles sei nach deren Meinung weit wichtiger: die Weimarer Verfassung, der Zusammenschluß der Arbeiterparteien, hemmungslose politische Agitation, als gerade die Akademie. Die Akademie sei aber nach ihrer jahrhundertelangen Tradition und nach ihrer Funktion eine glanzvolle Angelegenheit, sie könne es jedenfalls sein als die einzige Stätte zur literarischen Traditionsbildung und zur künstlerischen Repräsentation, die Deutschland heute hat.10

 

Abermals bereitete er mit seinem Verhalten den Rechten das Feld. »Sie wollen es nicht, aber Sie tun es trotzdem«:11 Nie war Klaus Manns Analyse des Bennschen Handelns, Denkens und Schreibens richtiger als im Februar 1933. Dessen Vorstellung von der haushohen Überlegenheit der Kunst hatte ihn zwar (noch) nicht in die Arme der Nationalsozialisten getrieben, aber seine Vision, als »letzten Ausweg« »ästhetische Werte in Deutschland«12 Realität werden zu lassen, verführte ihn zu dem Kurzschluss, dass die ihrem Wesen nach ungestaltbare Geschichte seine hart erarbeitete »existentiell glaubhafte Perspective«13 wie durch ein Wunder bestätige und ihr in Zukunft von Staats wegen zuarbeite: »Wo die Geschichte spricht, haben die Personen zu schweigen.«14

 

Die Revolution ist da und die Geschichte spricht. Wer das nicht sieht, ist schwachsinnig. Nie wird der Individualismus in der alten Form, nie der alte ehrliche Sozialismus wiederkehren. Dies ist die neue Epoche des geschichtlichen Seins, über ihren Wert oder Unwert zu reden ist läppisch, sie ist da. Und wenn sie nach zwei Jahrzehnten vorüber ist, hinterlässt sie eine andre Menschheit, ein anderes Volk. Hierüber rede ich mir den Mund fusselig, die Linksleute wollen es nicht wahrhaben. …

Ein neues Geschlecht wächst heran, ein uns sehr fremdes, möge es sich eine glücklichere Geschichte, eine frohere Zeit, ein anständigeres Volk heranzüchten und bilden als wir es hatten. Wir wurden zu sehr von alten steifen Strebern geführt; diese wachsen arm heran, das wird ihr Glück sein und ihre Stärke.

Ich nehme sehr stark Abschied von mir und allem, aus dem wir wurden und das uns schön und lebenswert erschien. Ich schliesse mit dem meiner Verse, der mir der liebste ist und der tiefste erscheint, Ihnen ins Gästebuch: »Leben ist Brückenschlagen über Ströme, die vergehn.«15

 

Die Intensität, mit der Benn die veränderte politische Lage empfand, war zweifellos auch der eigentümlichen Lust geschuldet, die er sein Leben lang an allen Untergängen empfand, an Abschieden oder sonstigen Katastrophen, allen einschneidenden Wendepunkten des Lebens, die durch den Tod naher Menschen oder durch eigene psychosomatische Krisen provoziert wurden. Ob Benn ein Nazi geworden wäre, wenn man ihn nicht in die Akademie gewählt hätte? Zumindest als Projektionsfläche seiner elitären Kunstauffassung hätte diese »glanzvolle Angelegenheit« nicht herhalten können. Alles Weitere weiß man nicht.

 

Im Februar 1933, als die »Selbstreinigung« der Akademie anfing auf vollen Touren zu laufen, war Gottfried Benn häufig mit seinem Lyrikerkollegen Oskar Loerke zusammen, der wie er ein stolzes Mitglied der Akademie geworden war: Auch ihm tat »die Ehre wohl. Nach soviel Entbehrungen.«16 Nun, nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, häuften sich Tagebucheinträge wie diese: »Alles bricht zusammen.« (14.2.) »Ich stehe zwischen den Terroristen von rechts und links. Möglicherweise muß ich zu Grunde gehen.« (19.2.) »Mit Benn konnte ich nicht sprechen, da er Herzprobleme hatte.« (3.3.)

Da waren sie wieder: Benns »Herzprobleme«. Wie bereits im Sommer 1931 wird er »dank des herrlichen Theominal wieder etwas Mut gefasst haben«.17 Es war Wahlsonntag, der 5. März, die Nationalsozialisten feierten mit 43,9 % bei einer Beteiligung von beinah 90 % einen überwältigenden Wahlerfolg, und Gottfried Benn entwickelte gespenstische Theorien: Die Geschichte arbeite nicht demokratisch, sondern terroristisch.

 

Wenn von 100 % Zeitgenossen über 60 % an Zahl oder alle Führer den neuen Typ darstellen, ist die neue Geschichte, der neue Stil da … Alle neuen geschichtlichen Bewegungen beginnen als barbarisch: Mohammed, Dschingiskhan, Christentum, französische Revolution, Sozialismus, Lenin. Alle enden in kulturellen Leistungen. Immer hiess es: die Kultur ist bedroht, die Freiheit ist bedroht; lächerlich: jede geschichtliche Bewegung brach Freiheit u schuf neue, machte Kultur überflüssig u. enthielt gleichzeitig den Boden für eine neue.18

 

Gebetsmühlenhaft wiederholte Benn seine Position, um sich vor seinen ehemaligen Freunden zu rechtfertigen.

 

Man muß sich entschließen, Sie müssen sich entschließen, in den heute vorliegenden Fragen des Volkes u. seiner Regeneration Grundlegendes zu sehen. Es hat mit Politik, Schiebung, Wirtschaft nichts zu tun. Es ist der Kampf um die neue Substanz, von dem wir so oft gesprochen u. geschrieben haben. Darum bin ich dabei. Nicht für mich. Mir persönlich könnte alles schnuppe sein, ich habe meine Gonorrhöen u. meine Lyrik, basta. … Hier ist Stoff u. inneres Erlebnis – ran! Hier ist Geschichte – ertrage sie. Hier ist Schicksal – friß Vogel oder stirb! Gefahren, Untergang – liebe sie! Amor fati – »dennoch die Schwerter halten«.19

 

Geradezu manisch glaubte Benn, die Zukunft Deutschlands am Horizont sehen zu können, und machte sich in einer Art vorauseilenden Gehorsam an die Abfassung einer Erklärung, die er am Tag, als Joseph Goebbels zum Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda ernannt wurde, allen Mitgliedern der Akademie zur Beantwortung mit »Ja« oder »Nein« vorlegte:

 

Sind Sie bereit, unter Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage weiter Ihre Person der Preußischen Akademie der Künste zur Verfügung zu stellen? Eine Bejahung dieser Frage schließt die öffentliche politische Betätigung gegen die Regierung aus und verpflichtet Sie zu einer loyalen Mitarbeit an den satzungsgemäß der Akademie zufallenden Aufgaben der Nation.20

 

In jenen Tagen brachte Max von Schillings Benn als möglichen Sektionsvorsitzenden ins Spiel. Am Ende der Sitzung des 13. März, in der Benn die Loyalitätserklärung präsentierte, wurde er gebeten, bis zur endgültigen Wahl des Vorsitzenden in der sich neu ordnenden Abteilung vorläufig den Vorsitz zu übernehmen. So geschah es.

Benns Revers beantworteten mit »Nein«: Ricarda Huch, Alfons Paquet, Alfred Döblin, Thomas Mann, Rudolf Pannwitz, René Schickele und Jakob Wassermann. Anschließend, jedoch ohne Benns Zutun, wurden Ludwig Fulda, Leonhard Frank, Georg Kaiser, Bernhard Kellermann, Alfred Mombert, Franz Werfel und Fritz von Unruh aus der Akademie ausgeschlossen. Ersetzen wollte sie Kultusminister Rust, so konnte man der Presse am 8. Mai entnehmen, durch Hans Carossa, Peter Dörfler, Paul Ernst, Friedrich Griese, Erwin Guido Kolbenheyer, Agnes Miegel, Börries Freiherr von Münchhausen, Wilhelm Schäfer, Emil Strauß und Will Vesper.

Bis zur Neuwahl, bei der am 7. Juni Hanns Johst zum 1. Vorsitzenden, Hans Friedrich Blunck zum 2. Vorsitzenden und Werner Beumelburg zum Sekretär gewählt wurden, nutzte Benn neben zahlreichen öffentlichen Auftritten, wie etwa der Kranzlegung am Grab von Arno Holz zu Ehren seines 70. Geburtstages, in Funk und Presse jede Gelegenheit, sich für die bevorstehende Wahl in Szene zu setzen – jedoch vergeblich.

Bereits im April müssen Benn Zweifel gekommen sein, ob er mit seiner glorifizierenden Beschreibung der veränderten »geschichtlichen Lage« richtig gelegen hatte. Am 1. April sollte Benn als Repräsentant der Akademie, für die er weiterhin pflichtgemäß Gutachten verfasste, an einem Konzertabend teilnehmen, war jedoch »nur für den ersten Teil des Konzerts geblieben, dann nach Hause gefahren, um den befohlenen Frack und Orden abzulegen und wiederzukommen«. Anschließend saß er lange mit Loerke »im Franziskaner am Bahnhof Friedrichstraße … Benn stand unter dem Eindruck des Boykotts in seinem Hause, wo es fünf Kollegen getroffen hatte.«21 Und er musste erfahren, dass auch er selbst von den neuen Machthabern nicht unbedingt gelitten war. Am Tag nach dem sich Else Lasker-Schüler telefonisch von ihm verabschiedet hatte, um Berlin für immer zu verlassen, an Hitlers 44. Geburtstag, erschien Benn auf Einladung Rusts bei der Uraufführung von Hanns Johsts dem »Führer« gewidmeten Drama Schlageter im Berliner Staatstheater. »Benn nahm Anmaßung und Feindlichkeit wahr. Er meinte, wir würden nicht nur ausgeschaltet, sondern auch körperlich vernichtet werden.«22

Ganz offensichtlich änderte sich trotz der persönlichen Anfeindungen, die Benn wahrnahm, und der spürbar seltener werdenden Aufgaben, die er als vorläufiger Vorsitzender der Sektion übernehmen konnte, noch nichts Grundsätzliches an seinen Einsichten über die nicht mehr zu bestreitende Wirklichkeit des neuen Staats, denn am 24. April sprach er zwanzig Minuten in der Sendung Welt in der Wende über den Neuen Staat und die Intellektuellen. Seine Dichterfreunde waren entsetzt: »Bis in die Nacht hätten sie geweint.«23

Einerseits wollte Benn, der sich offensichtlich als Vermittler zwischen alter Akademie und neuem Staat verstand, »zunächst mal öffentlich [zu] zeigen, dass ein Intellectueller, der Zeit seines Lebens auf Klasse gehalten hat, trotzdem zum neuen Staat positiv stehn kann, stehn muss! Schmerzlich ist natürlich die Absage u Trennung in Bezug auf alte ›liberale‹ Werke u. Personen. Aber das Gesetz der Geschichte ist so völlig klar, m. E., dass kein Zögern möglich ist«.24 Doch mit jedem Tag wurde ihm klarer, dass seine Position in der Akademie nicht zu halten war.25 Am Vorabend der Feiern zum 1. Mai, die in einer Massenkundgebung von mehr als einer Million Menschen auf dem Tempelhofer Feld gipfelten, sah Benn zusammen mit Tilly Wedekind von seinem Fenster aus auf die Straße. »Ich sehe die Möglichkeit kommen, dass ich meine weitere Tätigkeit einstelle, um die Dinge den bereits bereit stehenden neuen Leuten zu überlassen. Am Mittwoch habe ich noch eine Unterredung mit dem Herrn Minister und wenn ich dann den Eindruck gewinne, dass meine vermittelnde Tätigkeit keinen Erfolg haben kann, mache ich nicht mehr mit als z. Z. Verwalter der Abteilung.«26

 

Da saß ich als einziger und wenig angesehener Vertreter der Belasteten, den wie ich wußte, Rust wegen seiner gelegentlichen Mitarbeit an der »Weltbühne« schon auf dem Strich hatte, recht schweigsam da und hörte mir an, wie die neue Front sich ihrer kolossalen internationalen Beziehungen rühmte und ganz Europa in ihre Strömungen einzubeziehen sich anheischig machte. In der Diskussion gebrauchte ich einmal die Wendung von »veränderten politischen Verhältnissen«, Rust lief rot an und: »es handelt sich nicht um politische Veränderungen, sondern um eine geschichtliche Wende«, verwies er mich. … Damit endete meine persönliche Tätigkeit für die Akademie. Dann nahm ich, wie alle anderen noch hier gebliebenen Mitglieder, an der Sitzung vom 6. /7. Juni 1933 teil … doch erinnere ich mich sehr deutlich, wie es einige der neuen Mitglieder kaum über sich gewinnen konnten, mir bei der Begrüßung die Hand zu geben. Seit dieser Sitzung habe ich nichts mehr von der Akademie gesehen und gehört.27

 

Und wieder war es Klaus Mann gewesen, der Benn im Vorfeld seines Abschiedes aus der Akademie den Spiegel vorgehalten hatte, als er, seit März im Exil, am 9. Mai, also am Vortag der »Bücherverbrennung«, einen leidenschaftlichen, nicht »ohne Rührung«28 zu lesenden Brief verfasste, in dem er Benn aufforderte, seine Position dem neuen Staat und der Akademie gegenüber eindeutig zu klären:

 

Sie sollen wissen, dass Sie für mich – und einige andre – zu den sehr Wenigen gehören, die wir keinesfalls an die »andre Seite« verlieren möchten. Wer sich aber in dieser Stunde zweideutig verhält, wird für heute und immer nicht mehr zu uns gehören. Aber freilich müssen Sie ja wissen, was Sie für unsere Liebe eintauschen und welchen großen Ersatz man Ihnen drüben dafür bietet; wenn ich kein schlechter Prophet bin, wird es zuletzt Undank und Hohn sein. Denn, wenn einige Geister von Rang immer noch nicht wissen, wohin sie gehören –: die dort drüben wissen ja ganz genau, wer nicht zu ihnen gehört: nämlich der GEIST. Ich wäre Ihnen dankbar für jede Antwort.29

 

Klaus Mann war ein guter Prophet. Für sich selbst hatte Benn seine Position geklärt, doch auf eine Weise, die weder die Nazis noch Klaus Mann verstehen oder gar akzeptieren konnten. Noch bevor Benn sie in der Zeitung gedruckt an Mann schickte, wurde seine Antwort am 19. Mai im Rundfunk verlesen:

 

Verstehen Sie doch endlich dort an Ihrem lateinischen Meer, daß es sich bei den Vorgängen in Deutschland gar nicht um politische Kniffe handelt, die man in der bekannten dialektischen Manier verdrehen und zerreden könnte, sondern es handelt sich um das Hervortreten eines neuen biologischen Typs, die Geschichte mutiert und ein Volk will sich züchten. Allerdings ist die Auffassung vom Wesen des Menschen, die dieser Züchtungsidee zugrunde liegt, dahingehend, daß er zwar vernünftig sei, aber vor allem ist er mythisch und tief.

… ich erkläre mich ganz persönlich für den neuen Staat, weil es mein Volk ist, das sich hier seinen Weg bahnt. Wer wäre ich, mich auszuschließen, weiß ich denn etwas Besseres – nein! Ich kann versuchen, es nach Maßgabe meiner Kräfte dahin zu leiten, wo ich es sehen möchte, aber wenn es mir nicht gelänge, es bliebe mein Volk. Volk ist viel! Meine geistige und wirtschaftliche Existenz, meine Sprache, mein Leben, meine menschlichen Beziehungen, die ganze Summe meines Gehirns danke ich doch in erster Linie diesem Volke. Aus ihm stammen Ahnen, zu ihm kehren die Kinder zurück. Und da ich auf dem Land und bei den Herden groß wurde, weiß ich auch noch, was Heimat ist. Großstadt, Industrialismus, Intellektualismus, alle Schatten, die das Zeitalter über meine Gedanken warf, alle Mächte des Jahrhunderts, denen ich mich in meiner Produktion stellte, es gibt Augenblicke, wo dies ganze gequälte Leben versinkt, und nichts ist da als die Ebene, die Weite, Jahreszeiten, Erde, einfache Worte –: Volk. …

 

Schließlich noch etwas, über das Sie im Ausland, wenn Sie das Vorstehende lesen, sicher Bescheid wissen wollen: ich gehöre nicht zu der Partei, habe auch keine Beziehung zu ihren Führern, ich rechne nicht mit neuen Freunden. Es ist meine fanatische Reinheit, von der Sie in Ihrem Brief so ehrenvoll für mich schreiben, meine Reinheit des Gedankens und des Gefühls, das mich zu dieser Darstellung treibt.30

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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