»Wenn man Durst hat«25
In der »Juliruhe«26 des ersten heißen Sommers, den er, da er keinen Urlaub nehmen konnte, in der »köstliche Gelegenheit zu Doppelleben und Dämonenzauber«27 bietenden Stadt verbrachte, trank Gottfried Benn jede Menge Bier. An Pfingsten hatte er für diesen Zweck die Stadthallenterrassen entdeckt: »links wein-, r. Bier Terrasse, in der Mitte eine Kapelle, wenig Menschen, vor einem ein bisher völlig unveränderliches Gemälde: ein Bassin mit 2 Schwänen, eingefasst von Alleen u. Blumenbeeten«.28 Eine Zeitlang fuhr er fast jeden Abend dorthin. Benn litt unter der Hitze dieses Sommers, hatte mit Migräne und Schweißausbrüchen zu kämpfen, und im Büro gab es mehr Arbeit, als ihm lieb war: »Ich glaube wahrhaftig, ich muß das Saufen lassen. Werde mal ein paar Tage mich völlig trockenlegen, austrocknen, entwässern. … Ich verstehe meinen Kadaver nicht mehr.«29 In jenen Wochen entstand die erst kürzlich aufgetauchte Bierode:
Bierode (für Mor).
O Berliner Kindl! Edles Bräu,
vergleichbar den Hannoverschen Besonderheiten:
Härke, Gilde, Lindener Spezial,
Wülfeler und das Ricklinger Kaiserbier!
Juli! Frieden!
O Lebensmittag, feierliche Zeit,
der Sommer steht und
sieht den Rosen zu,
die Gerste reift, schon wächst aus Spelz u Korn
die Grundlage des Gär- u. Sudprocesses!
Von Bier zu Bier –
Erinnerung spinnt seine Schleier,
die Netze webend
vom kaltbeschlagenen Becher:
Ureisvisionen, Auskühlung tiefer Art
dem Blick u. Griff vorgaukelnd
zur schaumgekrönten Tulpe!
Vor-Warmblütererde –!
Als alles ungetrennt
mit Meer u. Land
Frost u Erwärmung teilte
angepasst fraglos dessen entzweit geregelten Temperaturen
bis zu dieser durstbetäubten, hitzigen, ewig biergierigen Eigenbluterde!
Welch gewaltiger Schritt der Natur
Bis zum Gerstensaft!
Autochthone Durstregelung,
Flüssigkeitszufuhr
halb aus Trieb u halb aus Lust,
Erhabenes Erhobensein
über die Vorstufen
von Dahindämmern u. Arterhaltung!
Aufstützt sich die Natur erkennt sich etwas näher,
ruft sich an:
schon rundet sich die Kehle
beweglich zu süssem Menschenlaut,
schon tritt sich gegenüber
die grosse Doppelwoge:
Natur u Geist,
u spaltet sich u flutet wieder zu
u atmet sich Versöhnung an, ja Juli, Frieden feierliche Zeit
vergleichbar den Hannoverschen Besonderheiten.
Härke, Gilde, Lindener Spezial,
von Bier zu Bier
die grosse Linie der Menschwerdung
Hallelujah, Pröstchen!30
Erst seit kurzem hatte Benn seine alte Schreibmaschine wieder, ohne die an einen geordneten Schreibprozess überhaupt nicht zu denken gewesen wäre. Aber zu mehr und zu Tieferem als diesem Gelegenheitsgedicht wollte er sich nicht hinreißen lassen: »Ich halte mich bewusst u. konsequent von allem zurück, das mich zum Denken treiben könnte, zur Arbeit, zur Produktion. Das würde wahrscheinlich einen solch Krakatau- u. Stromboli-Ausbruch hervorrufen, dass ich es vermeide.«31 Manchmal blieb er am Wochenende zu Hause, weil er kein Geld hatte: »Was für ein Dreck: Mangel an Geld u gezähmte Triebe.«32 Einmal schrieb er: »Meine Sublimation hat hohe Grade erreicht.«33 Aber in Wirklichkeit entsprach diese äußere Mischung aus amnestischen Übungen, Mangel und Not genau seiner Art, »das Leben anzugehen und ein Gedicht zu vollenden«.34 Sie erwies sich als überaus geeignet, den inneren Prozess in Gang zu setzen, der bewusst an Benns Militärzeit in Brüssel anknüpfen sollte, als sein Leben in einer Sphäre von Schweigen und Verlorenheit schwang. Am Ende standen die »Stadthallen-Gedichte«, die zum Teil auf Speisekarten-Rückseiten geschrieben waren. Als das erste mit dem programmatischen Vers »Tag, der den Sommer endet«35 beginnende vierstrophige Gedicht, mit je vier Versen, in Kreuzreimen und wechselnden Kadenzen, fertig war, sandte Benn es in die Hartwigstraße nach Bremen und bat Oelze: »Bitte 10 Tage jetzt nicht schreiben.«36 Sein Plan war, jeden zweiten Tag ein weiteres Gedicht auf diese Weise zu versenden, doch nach der dritten Karte zerstörte der Bremer den Zauber, und die Korrespondenz zwischen den beiden nahm wieder ihren gewohnten Gang.
Nun war der Bann gebrochen. Benn, der mittlerweile mit seinem Vorgesetzten Generalmajor von Zepelin37 eine »interessante lange Unterhaltung über meine Schriftstellerei« geführt hatte, bei der man sich »ganz gut verstand«,38 war auf der Suche nach »technisch-sekretärmäßiger« Hilfe, »meine Briefschaften u. sw. häufen sich an u. alles bleibt unordentlich liegen«.39 Trotz gelungener innerer Emigration erhielt Benn Post aus aller Welt:
Bald 50 Jahre, Mitglied der Akademie, vor mir ein Schreiben aus Tokio, die führende japanische Literaturzeitschrift bittet mich um eine Photographie, sie bringt einen grossen Aufsatz über mich; daneben ein Dankesschreiben von Evola u. eine Einladung zum Polnischen Botschafter zu einer Soirée.40
Im Sommer erreichte Benn »eine Einladung nach Monacco zum 30 X zur Eröffnung der Mittelmeer Akademie, unterschrieben von d’Annunzio, Pirandello, Valéry u. Maréchal Petain«,41 ebenfalls aus Frankreich kam die zweifache Aufforderung von der von Jean Ballard geleiteten Zeitschrift Cahiers du Sud, für ein geplantes Sonderheft »Le romantisme allemand« einen Beitrag zu schreiben. Unmittelbar nach Beendigung der »Stadthallen-Gedichte« machte er sich an die Arbeit und resümierte seine Situation:
Ich zog in eine fremde Stadt, lebe wie als Student in einem Zimmer, der Schreibtisch ist nicht gross, ich kann umfangreiche Arbeiten nicht beginnen … Was ich dagegen versuchen will, ist aufzuzeichnen, wie in diesem Sommer 1935 auf mich in Norddeutschland zwischen Stunden ärztlicher Tätigkeit, Übungen im Wasser, Kinobildern von den Vorbereitungen zur Olympiade 1936 in Berlin, zwischen Sonntagsfahrten in mittelalterliche deutsche Städte wie Hildesheim, Braunschweig, Hameln, in die Lüneburger Heide, an die Weser, vorbei an den neuen »Thingstätten«, auf denen die Germanenkultur vor und ohne Karl den Grossen zu neuem Leben erwachen soll, auf mich, innerlich stark beschäftigt mit der aus Frankreich an mich gelangten, mich sehr ehrenden Einladung zum Kongress der Mittelmeerakademie in Monako am 31. Oktober –, wie in dieser Lage Schlegels »Luzinde« auf mich wirkt …42
Der Sommer war vorbei, und Benn erhielt von Walther Kittel die definitive Nachricht, dass er am 1. Oktober die Uniform eines Oberstabsarztes anziehen durfte. Das provisorische Wohnen in möblierten Zimmern konnte nun aufgegeben werden. Anfang 1936 fand er in der Arnswaldtstraße 3 / I eine geräumige Dreizimmerwohnung: »Wenn sie auch nach hinten liegt, auf Wände u. Höfe geht, keinen Anblick für Götter bietet, so kann man doch eine Kette vormachen, die Aufwartung nach Hause schicken u. für sich selber sein.«43 Zwei Wochen bevor die Uniform fertig sein musste, kam der Schneider extra aus Berlin angereist, um Maß zu nehmen, worauf sich Benn eine Traubenkur verordnete. Die fertigen Uniformen für je 200 Mark nahm er am Sonntagvormittag vor Dienstbeginn persönlich im Berliner Atelier von Schneider Bublitz entgegen. Sie saßen gut, hörte er von allen Seiten. Doch sie waren ungewohnt. »Und der Säbel will noch nicht so recht, wie er soll.«44
In der Woche darauf lud Benn dreizehn Kollegen zum Herrenabend in das Weinhaus Wolf: »Bier u Korn u kaltes Abendbrot. In Uniform.«45 Doch der »Gesellschaftsrock«, das war die Uniform für besondere Anlässe, mit aufgesetzten Brust- und Seitentaschen, passte nicht: »Dumme Sache. Wo ich sie schon an sich so ungern anhabe.«46 Die Rede, die Benn hielt, war halb militärisch und halb zivilistisch. Jedenfalls »preußisch hart«.47 Sie endete pflichtgemäß mit einem »Die Wehrersatz-Inspektion Hannover – hurrah!«48 Dank Aufputschmitteln und starkem Kaffee hielt der Gastgeber durch bis morgens um vier. Dann war die Verwandlung in das Gewand des Militärischen vollendet: »In Zivil wollte man nichts von mir.«49