»Letzte Runde, Pokerface u.
keine Schips mehr auf dem Tisch«
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Gottfried Benn erlebte die Tage des Endkampfes um Berlin allein ohne seine Ehefrau. Die Verbindung zu Herta nach Neuhaus war abgerissen. Seit einem Vierteljahr war er nun wieder in der Stadt. Tochter Nele, die mit ihrem Mann Preben Topsoe und ihren im Juli geborenen Zwillingen Tine und Vilhelm in Kopenhagen lebte, hatte ihm das letzte Mal zu Weihnachten 1944 geschrieben. Diese Tage und Wochen mit ihren Erlebnissen müssen in Erinnerung gerufen werden, um die tiefe Resignation zu verstehen, die er gegenüber Oelze, sowohl was seine äußere als auch seine innere Lage betraf, zum Ausdruck brachte:

 

Viele Leichen gestern wieder, offenbar giebt es keine Bahren u Tragen mehr, die Toten werden an den Beinen in die nahe gelegenen Wohnungen geschleift. Aus Dresden sagte einer beiläufig: »sie liegen immer noch da, man fasst sie mit Messer u. Gabel an, da sie so weich sind«. Also, – davon abgesehn, es ist eindrucksvoll, wie dies gewiss enge religiöse Milieu selbst des Protestantismus etwas von Haltung u. Feinheit an sich hat, was mein altes Pfarrhaus sympathisch berührt. Während die Bomben fallen, unterhalte ich mich mit dem Pfarrer über das religiöse Leben in seiner Gemeinde …

Dass von den 2 ½ Millionen Menschen, die schätzungsweise noch in Berlin leben, irgendjemand arbeitet, halte ich für ausgeschlossen. Entweder sind Lichtsperrstunden oder es ist Alarm oder Voralarm, Telefon geht kaum noch irgendwo, die Verkehrsmittel sind unzuverlässig, kaum in Betrieb. Tags Staubstürme von den Trümmerhaufen, nachts fallen die Fensterscheiben heraus, die Ruinen heulen u. stürzen ein, Zeitzünder gehn hoch in grossen Massen u. die Wände zittern. Auch die noch stehenden Häuser haben soviel Erschütterungen erlebt, dass sie jeden Moment umfallen können. Eine verlorene Stadt.80

 

Wie mir überhaupt immer klarer wird, dass überhaupt ausser Ihnen u. mir keine Menschenseele von der totalen Verwahrlosung unseres Inneren, seinen Lügen, seinen Korsettstangen, seinen Suspensorien, kurz seinen traurigen hygienischen Hilfs- u. Rettungsmitteln, Yohimbinträumen, Krücken, Urinarien, dem ganzen faulen Zauber seiner künstlichen Aufrechterhaltung etwas weiss. Sein Kern ist völliger Zusammenbruch, kein Gestern, kein Morgen, keine Ahnen, keine Enkel –81

 

In der Peripherie dagegen war Benn auf dem Weg der Normalisierung erstaunlich weit fortgeschritten. Seit März zahlte er wieder regulär Miete: 137 RM. Seine Konten bei der Deutschen und bei der Dresdner Bank waren geklärt, inklusive Sparstrumpf kam er bei einem Kassensturz auf 8715 RM. Er korrespondierte mit Oelze, den alten Freundinnen Alice Schuster und Else C. Kraus, Marie Diers, Alexander Lernet-Holenia und Horst Lange. Sogar der »Rhythmus des vierzehntägigen Haarschnitts«82 hatte sich wieder eingestellt.

Die Wochen seit Beginn des russischen Großangriffs waren vor allem geprägt durch den allabendlichen und -nächtlichen Bombenalarm, Nächte ohne Licht, ohne Gas und ohne Wasser, die Gottfried Benn wie all die andern entweder im Bunker, in der Kirche zum Heilsbronnen am Bayerischen Platz oder im Luftschutzkeller Meraner Straße, im eigenen Keller oder in Kleidern schlafend zu Hause verbrachte.

Zu essen hatte er in den letzten zwei Wochen vor dem Ende genug. Von Frau Wirth bekam er Marmelade, bei Herrn Paulat Wurst, ins Restaurant »Böse« ging er noch bis zum 19. April, er aß bei Frau Büttner oder Herrn Himmelsbach. Als der Endkampf bevorstand, wurde der Ladenschluss aufgehoben. Benn musste bei starkem Regen »Extrazuteilungen holen«, aber man teilte sich auf, »Herr Kraus besorgt mir Brod u Bohnen«.83 Dies war der Tag, als in Berlin permanente Standgerichte eingerichtet wurden (auf Kochstromverbrauch stand jetzt die Todesstrafe) und mit der Zauberflöte am Gendarmenmarkt die letzte Oper aufgeführt wurde. Bis auf wenige S-Bahnen gab es keinen öffentlichen Verkehr mehr. Und immer wieder Fliegerangriffe: Anfangs hörte man noch das stechende Summen der englischen Mosquito-Flugzeuge; als die nicht mehr flogen, Abwürfe von russischen Bombenteppichen, Kanonenschläge, Granaten, Feuerüberfälle, nicht aufhörenden Beschuss durch Tiefflieger, Artillerie, die Motoren der heranrückenden Panzer und das vergebliche Flakfeuer.

Am 23. April wurde für Benn die Lage dramatisch: »Artilleriebeschuss. / Kein Wasser mehr / Kein Gas, kein Alarm.«84 Er beschloss, seine Wohnung in der Bozener Straße zu verlassen, und blieb in seiner Dienststelle im Reservelazarett 114 am Barbarossaplatz. In diesen Tagen sah man sich unentwegt Luftangriffen ausgesetzt. In den Hausfluren lagen Soldaten in Deckung. Auf die Straßen traute sich kaum jemand. Überall wurden Barrikaden errichtet und Minen darin versteckt. Die letzten deutschen Truppen sammelten sich an wenigen Punkten der Stadt. Wer sich weigerte, wurde verfolgt, einige sogar öffentlich gehängt. Der Platz in Benns Kalender reichte kaum aus, um festzuhalten, was ihm an diesem 23. April, dem vorletzten Tag der Bombardierungen, notierenswert erschien:

 

Schön Wetter / zum Res Lz 114, mittags schwerer russischer Luftangriff! / Lagebesprechung. Berlin eingeschlossen. Dann in Bozenerstr Bombe in Dramburgs Haus / 5h zurück / Schwerer Luftangriff 5–7 abends / 3 Volltreffer im Laz / Im Keller geschlafen. Nachts wieder Angriff Park auf Bayerischer Platz85

 

Der Angriff auf das Eckhaus Bozener / Grunewaldstraße, in dem sich Benns Stammlokal Dramburg befand, forderte vier Todesopfer. Nachdem am 27. eine »Granate ins Mittelzimmer« eingeschlagen war, kehrte Benn zurück in seine Wohnung: »Flucht aus Res Lz 114«.86 Dann ging alles sehr schnell. Die Sowjettruppen drangen in die Innenstadt vor. Keiner verließ mehr das Haus, wenn er nicht musste. Die Straßen waren keine Straßen mehr, sondern überschüttete Furchen inmitten von Ruinen. Zum Zeitpunkt, als der Führer erfuhr, dass der Duce del Fascismo, Benito Mussolini, öffentlich hingerichtet worden war, standen der Oberstarzt Benn und sein Nachbar Wündisch abends Wache.

 

Grauer Himmel, 8° C. Mittwoch, 2. 5. 1945 – Gottfried Benns 59. Geburtstag. Die von Marschall Schukow angeführten sowjetischen Truppen hatten die deutsche Hauptstadt eingeschlossen und vollständig besetzt. In der Nacht des 16. April hatte der Großangriff, der von der Oder aus in zwei Keilen vorgestoßen war, begonnen. Stadtteil für Stadtteil war erobert worden. Tag für Tag, zehn Tage lang, waren die Russen dem Bayerischen Platz näher gekommen. Am frühen Morgen des 29. April hatten sie das Schöneberger Rathaus besetzt und die Vorräte des Ratskellers geplündert.

Tags darauf schließlich waren Rotarmisten mit Maschinenpistolen in der Hand und Granaten am Gürtel, die Taschen voller Armbanduhren und anderem Silber- und Goldschmuck, durch die Bozener Straße gelaufen: »8h die ersten beiden Russen gesehn. / Uhren / … / Abends betrunkene R an der Haustür«.87 Fünftausend Berliner hatten im vergangenen Monat Selbstmord begangen. Dass Hitler sich an diesem Nachmittag das Leben genommen hatte und auf dem Reichstag die rote Fahne gehisst worden war, hatte Benn am Abend darauf am Radio gehört, als er mit seinen Nachbarn, dem Polizeipräsidenten im Ruhestand Ernst Wündisch und dem Bankkaufmann Freiherr Georg von dem Busche-Haddenhausen, zusammensaß. Emotionslos notierte er: »Hitler †«.88

Der 2. Mai war der Tag der Stürmung des Führerbunkers, der Tag der Kapitulation Berlins und der Tag, an dem jeder Mann, der eine Uniform trug, gefangen genommen wurde. Aber es war auch der Tag des Beginns der Aufräumarbeiten: Vierzig Prozent des Wohnraums waren vernichtet, jedes fünfte Gebäude zerstört. In dreihundertundsechzig Luftangriffen waren fünfzigtausend Berliner getötet worden. Die Bevölkerungszahl von zweieinhalb Millionen war beinahe halbiert. Gerade eintausendfünfhundert Juden lebten noch hier, nachdem seit 1933 neunzigtausend Stadt und Land hatten verlassen müssen und von 1941 bis 1943 fünfundfünfzigtausend, meist nach Theresienstadt oder Auschwitz, deportiert und ermordet worden waren.

»Ruhige Nacht mit viel Schiessen«,89 notierte Benn. Die zehn Funktionäre der Gruppe Ulbricht begannen damit, die KPD, die Gewerkschaft und eine funktionsfähige Verwaltung aufzubauen. Jetzt, am Morgen seines Geburtstages, war es wirklich still, keine Stalinorgeln, keine Granateinschläge, keine Maschinengewehrsalven, überhaupt kein Schuss mehr war zu hören: die Straßen, selbst der Kurfürstendamm – wie ausgestorben.

Zweimal verließ Gottfried Benn an diesem »trostlosen Tag«90 das Haus: erst um eine Patientin in der Kufsteiner, dann eine andere in der Bozener Straße aufzusuchen. Von seiner Familie besuchte ihn an diesem Tag niemand. »Sehr down. Tiefe Trübsal.«91 Sein jüngerer Bruder Ernst-Viktor war vor zwei Wochen noch an die Front geschickt worden, Ruth und Stephan waren nicht in Berlin, seine kleine Schwester Edith und Elsbeth, die Frau seines Bruders Theodor, mit dem er kaum verkehrte, kamen tags darauf und brachten das größte Geschenk mit, das sie in diesen Tagen machen konnten: Bohnenkaffee.

Persönlich gratulierten nur Zahnarzt Freese und Wündischs, die ihn zur Feier des Tages zum Essen einluden. Einen funktionstüchtigen Herd gab es in seiner Wohnung nämlich nicht mehr. Noch nicht! Himmelsbach, ein Bekannter aus der Nachbarschaft, zuständig im Versorgungsnetzwerk Benns für Elektrosachen und Reparaturarbeiten in der Wohnung, mauerte zu Benns 59. Geburtstag auf dem Küchenfußboden einen Herd aus Ziegelsteinen mit einer Tür zur Feuerstelle, aus der es ab jetzt qualmen konnte. Brennmaterialien gab es genug.

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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