»Zwei Seiten einer Münze«57
Im Mai 1926, gerade vierzig geworden, stellte Gottfried Benn in der Weltbühne fest, dass er summa summarum als Schriftsteller durch Bücher, Nachdrucke, Anthologiebeiträge, Zeitschriften- und Zeitungsartikel, im Original oder übersetzt, 975 Mark verdient habe. Wir müssen es nicht nachrechnen und können es nicht – schon gar nicht wegen der mittlerweile überstandenen Inflationsturbulenzen. Zwar wird sich die bürgerlich linke Leserschaft der kleinen roten Hefte der Weltbühne über den weitgehend statistischen Beitrag amüsiert haben, doch die Pointe der Abrechnung, seines »Kalküls über Dichten und Denken«,58 war ernst gemeint:
Nein, ich will weiter meine Tripper spritzen, zwanzig Mark in der Tasche, keine Zahnschmerzen, keine Hühneraugen, der Rest ist schon Gemeinschaft, und der weiche ich aus.59
Seine fachärztliche Tätigkeit hatte Benn bisher ernährt. Die »primären Bekannten zu behandeln, ist mir das einzige Vergnügen, das mir die Praxis bereitet«60 – gemeint waren Carl Sternheim, Klabund, George Grosz, der Vater Antonina Silbersteins, die sich später Vallentin nennen sollte, Else Lasker-Schüler, Egmont Seyerlen, um nur einige zu nennen.
Eine seiner Primär-Patientinnen war auch die Schauspielerin und Schülerin von Max Reinhardt, Ernestine Costa. Über Jahre hinweg schrieben sie sich, interessierte sich Benn für Einzelheiten ihres (Liebes-)Lebens: »Was macht Ihr kleines Herz?? Haben Sie was gefunden?? Wohin denkt es?? Wohin lenkt es?? Was macht das Theater? Unangenehm? Schreiben Sie mir bitte bald wieder!«61
Die Liste der Frauen, für die Benn schwärmte, ist gigantisch. Arnolt Bronnen berichtete, dass er sich von den Werckshagen-Schwestern für Hildegard stärker als für Traute interessierte.62 Eta Harich-Schneider erinnerte sich daran, dass sie und ihre hübsche Schwester Paula, auf die es Benn abgesehen hatte, dem Schwerenöter mehrfach begegnet seien: »Mir gegenüber lobte Benn eine seiner Geliebten, weil sie immer gleich die Bettlaken auf Schadhaftigkeit hin musterte und, wenn nötig, ausbesserte.«63 Der Schauspielerin Elsa Wagner berichtete er im Sommer 1925 von der »angenehm[en] u. elegant gegliedert[en]« Lola, die »überzittert von Zügen der lettischen Leibeigenschaft: ganz Sclavin u. dem Gebieter hingegeben [sei], nur behält Sie die Augen während der Liebe auf u. das mag ich nicht.«
Im Übrigen war Lola eine Jubiläumsnummer: ich führe seit Kriegsausgang Protokoll, eine hübsche kleine Jubiläumszahl, keineswegs überschwenglich … Manchmal kommt mir der Gedanke, wenn so eine nette reizende u garnicht unangenehme Frau, der viele Männer nachjachtern, in mich hineinsehn könnte, ihr würde die Stachelbeere im Halse stecken bleiben. Vielleicht oder auch nicht? Vielleicht ist das Frönen garnicht unangenehm: der Waldschratt im Saccoanzug, Pan mit Houbigant, bitte trösten Sie mich, bin ich schlecht?64
An Ernestine Costa dachte er »wie an ein kleines rotes Rosenblatt, das ich zwischen den Lippen trug u. auf dem ich ein Balalaikaliedchen summte. Sind Sie darüber böse?« – Nein, er war nicht böse, nur promisk, eine Eigenschaft, die er wie sein dichterischer Vorfahr Villon oder sein Freund Klabund nicht nur lobte, sondern auch ausgiebig praktizierte. »Was machen die Affären?«, wollte er wissen und plauderte selbst: »Neulich war ich einen Abend bei Frl. Weigel.«65
Bertolt Brecht, der Helene Weigel seit 1923 kannte und seit letztem Jahr der Vater ihres gemeinsamen Kindes Stephan war, und Benn sind sich nur ganz selten begegnet und in den letzten 25 Jahren ihres beinah gleichzeitig endenden Lebens wohl gar nicht mehr.66 Dabei gab es Parallelen genug: Beide lebten in Berlin, Benn seit 1904 fast immer im Westen, der aus Augsburg stammende Brecht von 1924 bis 1933 und seit seiner Rückkehr aus dem Exil 1949 im Ostteil der Stadt. Benn war Arzt, Brecht hatte Medizin studiert, allerdings nicht sehr lange. Beider Mütter starben qualvoll an Brustkrebs, als die Söhne kaum älter als zwanzig Jahre alt waren. Bis heute gelten sie als misogyn, egoman und politisch verdächtig. Vor allem aber waren diese beiden Antipoden der deutschen Literaturgeschichte verbunden in ihrer Ablehnung des hohlen Pathos bürgerlich-romantischer Kunstideale und einem bereits früh ausgeprägten Hang zum Katastrophalen oder, produktiv gewendet, zur Radikalisierung.
In ihren expressionistischen Anfängen attackierten beide den Zivilisationsmenschen der Großstadt und die Unmenschlichkeit der dahinterstehenden Institutionen. Bei allen Divergenzen der ästhetischen Stoßrichtung ihrer Lyrik – »Lyrik ist niemals bloßer Ausdruck«67 (Brecht), »Das Wort des Lyrikers ist Existenz an sich«68 (Benn) – eint sie der ästhetische Wille, die fundamentale Frage nach dem Mensch(lich)en formal mit der literarischen Kategorie des Fragmentarischen und dem poetischen Verfahren der Montage zu verknüpfen.
Längst ist klar, dass es bei den Klassifizierungen, die Benn als »Ästhetisierer der Politik« und Brecht als »Politisierer der Kunst« einordnen, nicht um die Unterscheidung bürgerlicher und antibürgerlicher Kunst geht, sondern um unterschiedliche Perspektiven des historischen Phänomens der Moderne, die nichts anderes sind als »zwei Seiten einer Münze«.69
Das wenige im Werk Überlieferte, das sie übereinander sagten, ist eindeutig: Als am 27. 2. 1926 in der Berliner Illustrierten Brecht in der Rubrik »Köpfe der jungen Generation« genannt wurde, bemerkte dieser: »Burri, Benn, Bronnen stehen an der Grenze.« Seine Hauspostille (1927) steht in Benns Nachlassbibliothek mit der Widmung: »Herzlich Brecht«. Soeben waren Benns Gesammelte Gedichte erschienen, seine Akzeptanz in den Feuilletons gestiegen. Bis in die späten zwanziger Jahre respektierte man die künstlerische Leistung des anderen. Noch im September 1929 setzte sich Benn in seiner Eigenschaft als Korrespondent der Pariser Literaturzeitschrift Bifur – wenn auch vergeblich – für Brecht ein:
Ich habe also Herrn Brecht gebeten, mir den Lindbergh-Flug zu schicken, er hat es getan, ich habe es mir durchgelesen und finde es recht nett … Es ist vielleicht besonders geeignet, da es ja zum Schluss in Paris Bourget spielt.70
Später war Benns Haltung, bei aller Achtung gegenüber Brechts Lyrik, zunehmend bestimmt von Rivalität, Missgunst und Neid. »Aber das Unaufhörliche … will nicht im Wohlstand leben, wo es angenehm ist …«,71 schrieb er in der Einleitung zu Paul Hindemiths Oratorium Das Unaufhörliche (1931). Mit diesem Zitat aus der Ballade vom angenehmen Leben (Dreigroschenoper) und einer Anspielung auf die Mahagonny-Oper in Benns Rundfunkrede Die neue literarische Saison (1931) erreichte eine Polemik ihren Höhepunkt, die sich daraus ergeben haben mag, dass Bertolt Brecht Benns direkter Vorgänger als Librettist Hindemiths war. Danach wurden der Ton noch rauher und die Urteile apodiktischer: »Seine Lyrik – ja. Aber seine theoretische Fundierung – nein.«72 Nach Benns Rundfunkrede Der neue Staat und die Intellektuellen (1933) notierte Brecht: »Von Beruf Arzt, veröffentlichte er einige Gedichte über die Qualen der Gebärenden und den Weg chirurgischer Messer durch Menschenleiber. Jetzt bekannte er sich emphatisch zum Dritten Reich.«73
Nach dem Krieg schienen die Fronten geklärt. Beide wurden Repräsentanten der politischen Systeme und ihrer Akademien. Im Juli 1950 kam es zum letzten Kontakt. Benn, der für die Lyrikanthologie Geliebte Verse als eines seiner zehn Lieblingsgedichte Brechts Terzinen über die Liebe74 nannte, rief Helene Weigel an und bat sie um die Abdruckgenehmigung und den Text des Gedichtes. Das Telefonat endete unbefriedigend: denn »sie hat meiner Bitte nicht entsprochen«.75 Wenige Tage später schrieb sie jedoch: »Lieber Gottfried Benn, hier ist das besprochene Gedicht; Brecht ist einverstanden. Ich soll einen Gruss bestellen.«76 Im Februar 1956 schickte Brecht mit einem Gedichtentwurf einen allerletzten »Gruß« an den Kollegen:
beim anhören von versen
des todessüchtigen benn
habe ich auf arbeitergesichten einen ausdruck gesehen
der nicht dem versbau galt und kostbarer war
als das lächeln der mona lisa.77
Mit dem Erscheinen des Gedichtbandes Spaltung im November 1925 hatte Benn nicht nur die Zusammenfassung der »unbesoldeten Arbeit des Geistes«, seiner »Aktion[en] am Sandsack«78 der letzten zwei Jahre abgeliefert, die ihren Ausdruck in der achtzeiligen (vornehmlich kreuzgereimten) Strophe mit wechselnder Hebungszahl fand, wie sie z. B. das evangelische Kirchenlied kennt; sondern er hat auch die denkbar kürzeste Formel dafür gefunden, was ihm im Weg stand und ihn hemmte, was ihn aber auch im Innersten provozierte und antrieb, nämlich die »Gespaltenheit«, die er in der Rönne-Figur zwar literarisch ausgereizt hatte, die aber immer noch existenziell, im Selbst-Erleben übermächtig und unversöhnlich war. Der späte Benn wird es weniger martialisch ausdrücken: »Teils-teils«.79 Lassen sich die Teile wieder zusammenführen? Lässt sich die Spaltung überwinden? Auf diese Frage gibt es keine Antwort, aber es gibt ein nicht endendes Programm, des Dichters Auftrag, es gibt die Kunst:
Es mußte etwas Drittes eintreten, eine Vermischung, und der strebte er unaufhörlich zu, etwas, was gleichzeitig eine Aufhebung war und eine Verschmelzung, aber das gab es nur für Momente, in Fallkrisen, von Durchbruchscharakter, und das war immer der Vernichtung nahe.80
Fast ein ganzes Jahrzehnt lang wird die achtzeilige Strophe das Maß von Benns Lyrik sein: Für die Gedichte der Spaltung gilt in hohem Maß, was er ein Vierteljahrhundert danach, zusammenfassend für die Moderne, aber wohl in erster Linie für die eigene Produktion in den Problemen der Lyrik formulieren wird:
Bei der Herstellung eines Gedichtes beobachtet man nicht nur das Gedicht, sondern auch sich selber. Die Herstellung des Gedichtes selbst ist ein Thema, nicht das einzige Thema, aber in gewisser Weise klingt es überall an.81
Der Sänger
Keime, Begriffsgenesen,
Broadways, Azimut
Turf- und Nebelwesen
mischt der Sänger im Blut,
immer in Gestaltung,
immer dem Worte zu nach Vergessen der Spaltung
zwischen ich und du.
Neurogene Leier,
fahle Hyperämien,
Blutdruckschleier
mittels Koffein,
keiner kann ermessen
dies: dem einen zu,
ewig dem Vergessen
zwischen ich und du.
Wenn es einst der Sänger
dualistisch trieb,
heute ist er Zersprenger
mittels Gehirnprinzips,
stündlich webt er im Ganzen
drängend zum Traum des Gedichts
seine schweren Substanzen
selten und langsam ins Nichts.