»Man zigeunert sich so durch«42

 
 

Am späten Nachmittag des 8. Mai 1914 ging für Gottfried Benn eine Reise zu Ende, an die er sich weit über die »Winter der Verdammnis und der Feuernächte«43 hinaus erinnerte – zwar lückenhaft, so doch nicht weniger eindrucksvoll.

 

Ich, von der Einfahrt in New York und dem Anlegen in Hoboken, erinnere mich nur noch der Mädchenhändlerin, wegen der die Polizei an Bord kam, sie allein leuchtet, wenn ich zurückblicke, aus dem Hafengewirr zu mir herüber. Über wieviel Auswahl leuchtet diese Dame, wieviel Verlust, wieviel Erlöschen wieder schweigsam gewordener Welten! Entweder ist das Erinnerungsvermögen nicht so bedeutungsvoll, wie es immer dargestellt wird, oder es hat Krankheiten, gewissermaßen Zahnlücken und Haarausfall, jedenfalls schafft es nicht in jedem eine Basis, einen Fond, der so wichtig wäre, um in Schifferkreisen zu verkehren. Es drängt etwas an, aber flüchtig. Ein totenstiller Sonntag, wir lagen in Hoboken. Es war so heiß, als ob ein Feuer über Deck fegte. Es fehlte uns an money, um es den Astors gleich zu tun und die City zu genießen. Wir lagen in den Korbstühlen, die endlich einmal für uns da waren, die widerlichen Passagiere waren ausgeschifft und tummelten sich wohl schon in ihren Kreisen. Eine unbekannte Stadt, ein Land, dessen Gebräuche mir fremd waren, im Grunde waren es nur tief gestaffelte Mauern, die man sah, mit Flecken drauf – wohl die Fenster. Also, dieser Sonntag voller Öde, unser fremder Steamer auf dem Hudson, keine Dollars, um Anschluß zu bekommen, menschliche Wärme, Sinnlichkeit, – nur diese Korbstühle, Besitzer unbekannt, Aktiengesellschaft oder wie schon der Begriff sagt: Société anonyme, – auf der lagen unsere Glieder, dazwischen mußte man seine Stunden behaupten, die sich nie sammelten, nie eine eigentliche Blüte hervorbrachten und darum den echten Schiffererzählungen nie das Wasser reichen.44

 

Den Amerika-Roman Benns gibt es nicht. Wie auch? Ein größerer von ihm gedeuteter Zusammenhang als: »fuhr nach Amerika, impfte das Zwischendeck«,45 taucht im Werk nicht auf. Eigentlich hätte ein langgehegter Traum in Erfüllung gehen sollen: »Im Oktober geht es zu Schiffe. Ägypten liegt mir sehr am Herzen. Indien dämmert auf.«46 1950 antwortete er auf die Frage, in welcher Metropole er gerne leben würde: »Ich kenne Paris u New York«, um dann allerdings hinzuzufügen: »möchte immer nur in Berlin leben.«47

Die Reise war, um es mit einem Benn-Wort zusammenzufassen: schlimm! Einzig ein Ausflug in die nur vier Meilen vom Hafen entfernte Met, dort, wo die 39ste Straße auf den Broadway trifft, am 23. April, einem Mittwochabend, machte bleibenden Eindruck. Der »kleine, dickbäuchige« Enrico Caruso mit »seiner wahrhaft arielhaften, arionschönen Stimme«48 hatte – als Maler Cavaradossi in Puccinis Tosca, die Benn immer mehr sagte als Bachs Kunst der Fuge – einen seiner legendären 863 Bühnenauftritte im diamantenen Hufeisen der Metropolitan Opera.

Sechs Tagen New York bei 40 Grad Hitze standen vier Wochen Meerfahrt und rund 7500 Seemeilen auf dem mit vier Masten, einem Schornstein und zwei Schrauben ausgestatteten Schnelldampfer »Graf Waldersee« gegenüber. Jeden Tag mussten Hunderte meist aus Osteuropa stammende Auswanderer aus dem Zwischendeck geimpft werden. Vor allem der Anblick der Passagiere mit money, die sich auf den Comfortsesseln an Deck sonnten, war ihm unerträglich. Nein, es gab »keine langweiligere Landschaft als diese Wogen, die sich ewig heben und senken«.49 Schlimm: »Nachts auf Reisen Wellen schlagen hören / und sich sagen, daß sie das immer tun.«50

Zwölf Tage lang hatte die Rückreise vom Abfertigungshafen in Hoboken bis zum Kronprinzen-Kai des Hamburger Hafens gedauert. Eine Nacht blieb er noch hier, dann packte er die wenigen Sachen, die er dabeihatte, nahm die Briefe, die ihn in den letzten Wochen erreicht hatten, und fuhr mit dem Zug nach Süddeutschland; in Berlin hatte er keine Bleibe mehr. Bis er wieder in See stechen musste, blieb genau eine Woche. Dann nicht nach Amerika, sondern nach Asien: »Ich hatte am Brodway die ersten Veilchen gekauft; nun will ich ein par Tage die Baumblüte an der Bergstraße feiern und Sonnabend fahre ich ab nach Indien u Japan.«51 Über diese lapidare Ankündigung hinaus verlor er kein Wort über die anstehende Reise, die zu unternehmen er wohl auch keine rechte Lust hatte. Gelangweilt berichtete er dem mittlerweile in Freiburg gelandeten Studienfreund Koenigsmann: »Man zigeunert sich so durch. Die Medizin beschränke ich auf ein Minimum. Vielleicht auch heirate ich bald …«52

Euphorie klingt anders. War das ernstgemeint? Oder war es nur eine Phrase, wie sie unter Studenten normal war und die im Grunde nichts anderes hieß, als dass die Zeit des ungebundenen Lebens zu Ende gehen und sich den üblichen Mustern bürgerlicher Prägung fügen würde? Was im Frühsommer 1914 wirklich geschehen ist, lässt sich leider nur vage rekonstruieren. Aber angenommen, es stimmt, dass Benn seine spätere Frau, die verwitwete Edith Brosin, bereits im Sommer zuvor kennengelernt hatte, so bestand zwischen den beiden kein übermäßig leidenschaftliches Verhältnis.

Die 36-jährige Schauspielerin, eine von drei Töchtern des wohlhabenden Dresdner Arztes Paul Osterloh, hatte einen knapp dreijährigen Sohn namens Andreas,53 dessen Vater ein holländischer Sänger war; sie wohnte mittlerweile in München. Der unter dem Künstlernamen Eva Brandt auftretenden, wohl nicht allzu begabten Schauspielerin, die bis dahin in Flensburg, Kassel und Hannover gespielt hatte, war es nicht gelungen, in Berlin beruflich Fuß zu fassen. Möglich also, dass die beiden verabredet hatten, eine Woche der Baumblüte an der Bergstraße im hessischen Odenwald gemeinsam zu verbringen.

Wenn dem aber nicht so war und Nele, die Tochter der beiden, Recht hatte – »Meine Mutter traf meinen Vater 1914 in Hiddensee«54 –, ging es bei der »ins Auge gefassten« Heirat um eine andere Frau, oder er hatte gar niemand Bestimmtes im Sinn. Dann bleibt zwar die Frage offen, warum Benn nach seiner Amerikareise die wenigen Tage an Land an der Bergstraße verbringen wollte, aber es ist durchaus denkbar, dass er sich, zurück in Hamburg, spontan dazu entschloss, nicht nach Asien, sondern auf die Insel Hiddensee zu fahren – zu seinem Glück:

 

… als ich als Schiffsarzt bei der Hapag fuhr, ging ich mit einem Segler nach Wladiwostok nicht auf große Fahrt, da meine Neigung zur Seekrankheit schon auf Passagierschiffen so groß und unbeeinflußbar war, daß ich mich scheute – und der Segler kam nie zurück.55

 

Offiziell war es wieder eine »Krankheit«, die Gottfried Benn seine eigentlichen Pläne über den Haufen werfen ließ: in der Armee eine Wanderniere, während des praktischen Jahres das Phänomen der Depersonalisation, und nun war er auch noch seekrank. Bis zum Beginn der großen Katastrophe im August 1914 waren freilich noch knapp drei Monate Zeit.

Eins jedoch kann festgehalten werden: Gottfried Benn wollte nach seiner Heimkehr nicht mehr zurück nach Berlin. Der Ast, auf dem er gesessen hatte, war gründlich abgesägt. Pünktlich zum Abschied war im Märzheft der Weißen Blätter sein Drama Ithaka erschienen, in dem er den Assistenzarzt Rönne Studenten dazu anstiften ließ, seinen Chef, den Pathologie-Professor Albrecht, zu erschlagen. Eine Rückkehr in das Fach, das »ihn in einer merkwürdigen und ungeklärten Weise erschöpft«56 hatte, war für Benn definitiv ausgeschlossen. Er musste sich ein neues Fachgebiet suchen, und allem Anschein nach fiel seine Wahl recht bald auf die Dermatologie.57

 

München! Ich lernte es 1914 im Sommer kennen … Die Erinnerung an diese drei Monate München lebt unvergesslich in mir.58

 

Ohne feste Wohnung und ohne Arbeitsstelle zog es ihn also in die bayerische Hauptstadt, wo er abwechselnd entweder in einer Pension in der Kaulbachstraße 40 oder in Leoni am Starnberger See wohnte. Die Medizin beschränkte er, wie er sich ausdrückte, auf ein Minimum, indem er, wie bereits erwähnt, bei Leo von Zumbusch volontierte oder hospitierte59 und Gelegenheitsjobs annahm: z. B. »in jenem Frühling (also wohl noch im Mai) vor dem Krieg, als ich im Schwarzwald, in Schömberg, in der Lungenheilstätte mal Studentenferien vertrat …«60

Eine weitere Vertretung, die literaturhistorisch von ungleich größerer Bedeutung war, nahm Benn nur wenige Wochen später an. Es war Mitte Juni, vielleicht ein paar Wochen später, also in den Tagen der sich überstürzenden politischen Ereignisse der Julikrise, als der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau in Sarajevo ermordet wurden, sich binnen weniger Wochen extreme Spannungen aufbauten und schließlich auch entluden. In diesen Tagen verließ Benn die hübsche Gegend am Starnberger See – »in Leoni, gleich links an der Anlegestelle ein kleines bäurisches Haus«,61 hatte er zeitweise gewohnt –, bestieg den Zug nach Bayreuth und fuhr »von einem See und über die Berge«,62 wie er später in der Novelle Gehirne schreiben sollte. Er setzte sich auf einen Eckplatz, Stift und Papier in der Hand, und schrieb auf, was ihm durch Kopf und Augen ging.63 Zeit der Heuernte, an den Rändern der Felder blühte der Mohn, in den Vorgärten die Rosen. Sein Ziel war die 1907 eröffnete Lungenheilstätte in Bischofsgrün, die ziemlich genau zwei Jahre zuvor von der Landesversicherungsanstalt Oberfranken übernommen und seitdem als Rehabilitationsklinik betrieben worden war. Als die Zugfahrt beendet war: »eine Stadt und ein Wagen über Berge vor ein Haus. Veranden, Hallen und Remisen, auf der Höhe eines Gebirges, in einen Wald gebaut – hier wollte Rönne den Chefarzt ein paar Wochen vertreten.«64

Spätestens hier beginnt die Geschichte des Dr. Rönne von der Lebenswirklichkeit des Dr. Benn abzuweichen. Es ist ausgesprochen unwahrscheinlich, dass Benn binnen weniger Wochen in Schömberg eine Studentenvertretung und jetzt die Vertretung des Chefarztes übernahm. Seitdem das Verweigerer-Alter-Ego Assistenzarzt Dr. Rönne zum ersten Mal aufgetreten war und seinem Chef die ihm übertragene Arbeit vor die Füße geworfen hatte, während Gottfried die Arbeit pflichtgemäß zu Ende schrieb, war das Ventil entdeckt, mit dessen Hilfe einerseits der Belanglosigkeit des Daseins getrotzt werden konnte und andererseits dem gespaltenen Ich die stabilisierende Möglichkeit geschaffen wurde, beides sein zu können, Arzt und Patient, und aus beiden Perspektiven die alles entscheidende Frage zu stellen: »Was ist es denn mit den Gehirnen?«65 Die Art der Benn-Rezeption jedenfalls, Werk und Biographie in eins zu setzen, treibt nirgends so absurde Blüten wie jene, aus der Bischofsgrüner Vertretungsepisode biographisch zu destillieren, Benn habe den Chefarzt für mehrere Wochen vertreten sollen, der nach nur einer Woche habe zurückgerufen werden müssen, da Benn sich am Rand einer Psychose befunden habe. Gleichzeitig jedoch – »was ich sicher weiß, ist, daß das Prosastück ›Gehirne‹ von mir im Juli 1914 verfaßt wurde«66 – müsste es ihm möglich gewesen sein, in der Woche nach jenen sieben Tagen bis zum Kriegsausbruch den Text zu schreiben, der seinen Ruhm als Prosaist von europäischem Rang begründete und der bereits im Oktober 1916 als 35. Band der renommierten Reihe Der jüngste Tag im Leipziger Kurt Wolff Verlag erschien, wo vier Wochen zuvor Franz Kafkas Geschichte Das Urteil erstmals veröffentlicht worden war.

Aus dem Benn zu Beginn des Ersten Weltkrieges einen entscheidungsschwachen Psychopathen machen zu wollen, ist gefährliche Spekulation. Wer innerhalb weniger Wochen Prosaseiten von solcher Qualität produzieren kann, dem mangelt es nicht an Selbstbewusstsein und Entscheidungskraft. Nachdem er am letzten Juliwochenende, mit dem ersten Schub der Mobilmachung, seinen Gestellungsbefehl zu einer der beiden Spandauer Reservekompanien des 3. Pionierbataillons von Rauch erhalten hatte, hieß es zu Wochenbeginn Sachen packen. Rasch beantwortete er eine Karte seines Verlegers A. R. Meyer, der ihn um ein Gedicht für den neuen Frauenlob,67 eine Sammlung von Gedichten junger expressionistischer Dichter auf geliebte und verehrte Frauen, gebeten hatte. Doch nichts war ihm »gleichgiltiger als die Weiber, ich kann sie nicht besingen«.68 Drei Tage später, am 30. Juli 1914, heiratete er in einem Münchner Standesamt Edith Brosin, die ihn vermutlich zu diesem Akt überredet hat, um die Familienunterstützung zu erhalten, die verheirateten Frauen zustand. Am 1. August stieß er, zum Oberarzt befördert, zu seiner Kompanie in Spandau.69

 

Ich empfinde so:

Marie

Du Vollweib!

Deine Maße sind normal, jedes Kind kann durch dein Becken.

B r e i t hingelagert

Empfähest du bis in die Stirn

Und gehst. –

… Wenn es sein muß, nehmen Sie die Drohung aus »Söhne« mit irgendeinem Namen.

Ich bin in Eile. Ich muß in den Krieg u. bin nicht ausgerüstet, muß sofort nach München u. dann nach Berlin, wo ich mich stellen muß.

1000 Grüße Ihr Benn

(Oberarzt bei den Luftschiffern in Spandau!)

Gut Blut! Gut Hades!70

 

Danach überstürzten sich die Ereignisse:

»Seine Majestät der Deutsche Kaiser ordnet die allgemeine Mobilisierung des deutschen Heeres und der deutschen Flotte an.« Die auf dem Schlossplatz versammelte Menschenmenge stimmte unter dem Läuten der Domglocken Nun danket alle Gott an, später intonierte die immer größer werdende Schar plötzlich parteilos gewordener deutscher Brüder Heil Dir im Siegerkranz und Lobe den Herrn. In Eile verabschiedete er sich von der Stadt und einigen seiner Bekannten. In der Nähe des Cafés des Westens traf er Kurt Hiller, den revolutionären Pazifisten. Beide trennten sich herzlich voneinander und zogen in den Krieg.

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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