»Ich bin etwas erstarrt von all
den Erlebnissen des letzten Jahres«
92

 
 

Wann Gottfried Benn seine Uniform abgelegt und gegen Straßenanzug, Mantel und Herrenhut eingetauscht hat, wissen wir nicht. Benns Ehrentag wurde einen Tag verspätet gefeiert, aber in der allgemeinen Erleichterung über das Ende der Kämpfe machte das niemandem etwas aus. Gemeinsam gingen sie zur Kommandantur. Tote Soldaten lagen zwischen den ausgebrannten Häusern. Aus den verwaisten Räumen, die einmal Läden waren, drang der Gestank der Verwesung von Pferdekadavern. Das Elend von Raub, Plünderung und Vergewaltigung war nicht zu übersehen. Heute wollten sie den Aushang des Stadtkommandanten studieren. Später waren dort die Lebensmittelkarten abzuholen und in einer Woche die Schreibmaschine anzumelden. Als provisorische Lebensmittelversorgung, so stand zu lesen, sahen die neuen Machthaber 200g Brot, 10g Zucker, 25g Fleisch, 10g Salz, 400g Kartoffeln und 2g Kaffee vor. Patientenbesuche standen an, dringende Reparaturarbeiten in der Wohnung, und Wasser musste vom Brunnen am Bayerischen Platz geholt werden. Jeden dieser unendlich anstrengenden Tage beschloss Benn mit dem Eintrag: Früh schlafen.

»Sache mit Kommissar!«93 – Nach einer Woche wurde es ungemütlich für den ehemaligen Sanitätsoffizier. Seit ein paar Tagen hatte seitens der sowjetischen Geheimpolizei (GPU) die Jagd auf Nazis begonnen. Benn, den man oft genug in Uniform gesehen hatte, muss angezeigt worden sein. Mehr als drei Jahre danach, zu Beginn der sowjetischen Blockade Berlins, erinnerte er sich:

 

Ich … war 1 Tag von G.PU mitgenommen, dann quartierte sie sich 2 Tage mit Maschinenpistolen hier bei mir ein u. vernahm mich u. liess mich Tische u Stühle schleppen – u. allein, weil meine Wohnung – absichtlich von mir so gelassen – völlig verkommen u. verjaucht war (das ganze Haus hatte die letzte Woche bei mir kampiert), zog sie dann wieder ab.94

 

Am 8. Mai, dem Tag der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht in Berlin-Karlshorst, musste sich der Oberstarzt a. D. in der Kommandantur, Hauptstraße 45, melden. Allem Anschein nach konnte Benn in den Tagen vom 7. bis zum 9. Mai gegenüber dem Kommissar der GPU entlastende Angaben zu seiner Person machen, denn die Sache, wie er sich ausdrückte, wenn etwas Unangenehmes anstand, fand danach keine Erwähnung mehr. Am Abend, als er bei seinen Bekannten Ruth und Marion Hecht in der Meraner Straße saß, hörten sie Schüsse. Aus allen Rohren wurde geschossen. Doch diesmal war es ein Friedenssalut.

Seit dem Dreißigjährigen Krieg hatte Berlin nicht Mangel und Not in einer Dimension erlebt wie nach der Zerschlagung des Hitler-Regimes. Zu beklagen war vor allem das Fehlen von Ärzten, Medikamenten und Krankenhausbetten – bei Kriegsende gab es gerade einmal 9000 – in einer Zeit, da massenhaft auftretende Infektionskrankheiten bekämpft werden mussten. Bereits in den ersten Maitagen veranlasste die sowjetische Militärkommission die industrielle Herstellung des hoch wirksamen Antibiotikums Penicillin, das schon nach drei Wochen ausgeliefert werden konnte.

Zuerst einmal musste Benn die behördlichen und personellen Voraussetzungen schaffen, um seine Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten wieder in Schwung zu bringen. Er verabredete sich mit Kollegen, man besprach sich, unternahm mehrere Gänge zum Gesundheitsamt Schöneberg, um sich registrieren zu lassen, bis er es nach zwei Wochen geschafft hatte, als einer von achthundert Berliner Ärzten wieder offiziell zu praktizieren.

Etwa zur selben Zeit stellte sich ein Fräulein Lotte Bischoff vor, das Benn Wohnung und Haushalt besorgen und in der Praxis zur Hand gehen sollte; eine Empfehlung des Kollegen Dr. Ritter. Wohnen könne sie vorerst bei ihm. Platz genug gab es ja, seit Herta nicht mehr da war. Tüchtig musste sie sein und gut kochen können. Bereits zwei Tage später, am 14. Mai, trat sie zu Wochenbeginn ihren Dienst an, als vieles andere ebenfalls wieder begann: Der erste Magistrat unter dem parteilosen Architekten Arthur Werner wurde eingesetzt, die Berliner Sparkassen öffneten, unmittelbar danach die Nachfolgerin der Reichsbank, die Berliner Stadtbank. Vor allem aber wurde Schöneberg am 16. Mai wieder an das Strom- und Wassernetz angeschlossen. Die ersten Busse fuhren durch Zehlendorf, die erste U-Bahn in Neukölln, Mitte Mai erschienen die ersten Tageszeitungen, es wurden wieder Konzerte gegeben. Aber Benn nahm am langsam erwachenden öffentlichen kulturellen Leben nicht teil, weder aktiv noch passiv. Von der Existenz der mittlerweile von dem Schauspieler Paul Wegener geleiteten »Kammer der Kunstschaffenden«, die unter anderem auch für die Verteilung von Lebensmittelkarten zuständig war, nahm er kaum Kenntnis. Vor allem wollte er nicht an der Geschäftigkeit der scharenweise in der Schlüterstraße 45, dem Sitz der Kammer, auftauchenden Kultur- und Kunstschaffenden teilnehmen, obwohl derselbe Lebensmittelanspruch wie für Schwerarbeiter lockte: Klasse I.

Ein Privatleben gab es für Gottfried Benn in diesen Wochen beinahe überhaupt nicht. Er machte Hausbesuche, gab Spritzen und impfte gegen Typhus. Er war vollständig vom Aufbau seiner Praxis und der damit verbundenen Sicherung der Existenz absorbiert und litt dabei unter depressiven Stimmungen. »Hier war im April u Mai die Hölle«,95 klagte er der alten Freundin Tilly Wedekind seine Not. Oelze ließ er kurz darauf ebenfalls wissen: »Meine Depression war grenzenlos, meine Hoffnungslosigkeit so tief, dass ich keinen Gedanken mehr fassen konnte.«96 Mit welchen Gefühlen er an seine Frau Herta in den Wochen nach der Befreiung dachte, lässt sich nicht sagen – wieder kein Wort über sie im Kalender. Wie ein Echo der Gedankenlosigkeit notierte er am 24. Mai erstmals Hertas Kürzel, aber er meinte nicht sie, sondern seine vor vier Jahren gestorbene Schwiegermutter: »H Muttis Geburtstag«.97 Ende des Monats hatte er immer noch nichts von Herta gehört und wollte seinen Bekannten Georg Kühn nach Neuhaus schicken, was diesem offenkundig zu gefährlich war, denn er blieb in Berlin.

Fronleichnam 1945 eröffnete das Kabarett der Komiker am Lehniner Platz wieder. Benn saß alleine in seiner Wohnung: »Tiefe Depression – grosse Tristesse.«98

Die nächsten Wochen verliefen gänzlich unspektakulär. Im Juni beantragte Benn einen Telefonanschluss und genoss die ersten Erdbeeren des Sommers. In der Stadtbank eröffnete er ein Konto mit der Nummer 123 /4765 und zahlte 1200 Mark ein.

Knapp vier Wochen war es her, dass er mit Georg Kühn vergeblich einen Boten nach Neuhaus schicken wollte. Jetzt beschloss er, seine Haushaltshilfe Lotte auf die gefährliche Reise zu schicken: »Lotte zu Polizei usw Herta«.99 Ausweise und Bescheinigungen mussten für Hertas Rückreise besorgt werden.

Dienstag, den 26. Juni, machte sich Lotte Bischoff bei Sommerwetter auf die Reise. Am vierundzwanzigsten Tag kehrte sie zurück. Ohne Herta. Lotte kam, so gab Benn später an, nur bis dreißig Kilometer an Neuhaus heran, dann sei sie von Russen verschleppt und gepeinigt worden und unverrichteter Dinge wieder nach Hause zurückgekehrt.

Am 30. Juni, Tag fünf nach Lottes Abreise, mussten die Menschen in Neuhaus lesen, dass eine 24-stündige Ausgangssperre verhängt, die Engländer am nächsten Tag abziehen und das Feld den sowjetischen Truppen überlassen würden. Als die Häuser wieder verlassen werden durften, packte auch Herta, die bei einer Familie namens Wenk untergekommen war, ihre wenigen Sachen und »wollte über die Elbe auf das andere Ufer, wurde im Stich gelassen u. kam nicht mit. Kehrte um u. fand ihr Unterkommen besetzt. Hatte wohl niemanden, der ihr helfen konnte.«100 Am 2. Juli setzte sie sich aus Angst vor möglichen Plünderungen und Vergewaltigungen durch die einrückenden Soldaten eine tödliche Morphiumspritze.

Im September fuhr Benn erstmals nach Neuhaus. Dort sprach er

 

die Leute, bei denen sie gewohnt hatte, wo sie die M.spritze sich gemacht hatte, war im kleinen Krankenhaus, in dem sie dann noch die Nacht gelegen u. behandelt war u. wo sie am 3 VII früh starb, sprach den Arzt, die Schwestern, den Pfarrer, der sie beerdigt hatte. Dieser Pfarrer ist ein besonders tragisches Kapitel: er erfuhr ihren Namen erst nach der Beerdigung, er hatte den Namen falsch verstanden bzw. gelesen, und nun stellte sich heraus, er kannte mich, meine Brüder, war der Nachfolger meines Bruders gewesen auf einer Pfarre, ihm stand die Familie Benn sehr nahe, – er u seine Frau reizende Menschen, bestimmt hätte Herta an ihnen jeden Schutz u. jede Hilfe gehabt, wenn sie voneinander gewusst hätten, aber sie waren nicht in Berührung gekommen. Alles, alles ist von einer unaussprechlichen Unglückseligkeit gewesen, vor allem, dass keiner meiner Boten zu ihr gelangte, dann, dass durch die Besetzung durch die Russen nun die unmittelbare Verbindung mit Berlin möglich wurde, aber H. es nicht mehr erlebte u. abwartete. Ihre letzten Briefe an mich waren durchaus gefasst u gutgestimmt. Sie hat nichts Schriftliches mehr hinterlassen, offenbar war es eine völlige Panikhandlung von ihr, als die Russen einzogen, alle hatten dort den Kopf verloren.101

 

Die Tage von Lottes Fortbleiben hat Benn im Kalender nummeriert; allerdings nachträglich, nachdem er am 27. Juli 1945 von einem Mann namens Reich102 die schreckliche Nachricht vom Tod Hertas erhalten hatte. Über diesen fremden Mann wurde bislang viel spekuliert. Erst ein Blick in den Kalender, wo Benn ihn neben einem überdimensional großen Kreuz notierte, gibt seinen Namen preis – aber auch nicht mehr. Noch am selben Abend berichtete er Gerhard Wilcke, dem Apotheker vom Bayerischen Platz, der im selben Haus wie die mit Benn befreundete Renée Sintenis wohnte, von dem Schock:

 

… ich habe eben die Nachricht bekommen, dass meine Frau sich das Leben genommen hat. Die Russen liessen sie nicht durch, zurück konnte sie nicht – irgendwo auf der Landstrasse umgekommen u. vergraben. Sie hatten als einziger so ein besonderes Gefühl dafür, wie sehr ich litt u. wie sehr ich an meiner Frau hing, – ich danke Ihnen dafür u. teile Ihnen als Einzigem das Vorstehende mit.103

 

Nach vier Tagen kam Besuch aus Neuhaus, und Benn erhielt nähere Auskünfte zu den tragischen Ereignissen. Unmittelbar danach informierte er seine Schwägerin:

 

Sie nahm sich das Leben, als die Russen dort einrückten,104 nachdem vorher Amerikaner u Engländer den Ort besetzt hatten u. ihr Leben dort – nach einigen Briefen, die ich durch Flüchtlinge erhielt, –105 ganz erträglich gewesen war. Sie war ohne Nachricht von mir geblieben106 u. verlor offenbar die Nerven. Dies habe ich erst jetzt auf vielen Umwegen erfahren.107 Sie ist dort beerdigt108 u ich werde hinfahren, sobald es ohne Verschleppungsgefahr geht, – ich hoffe bald.

Seit Mai hatte ich versucht, durch zahllose Boten u. Briefe,109 Herta mitzuteilen, dass ich lebe u. die Wohnung unzerstört sei! Mein einziger Gedanke war, sie zurückzuholen oder zu ihr zu gelangen. Alles habe ich versucht.110 Im Juni sandte ich meine Hausangestellte, die ich für meine Praxis mir seit Mai eingestellt hatte, aus, um Herta zu holen. Sie hatte Ausweise, Pass, Verpflegung –, kam bis 30 km vor Neuhaus, dann liessen sie die Russen nicht weiter, verschleppten sie u. nach 4 Wochen kam sie krank u elend ohne Resultat hier wieder an. Wenn sie durchgekommen wäre, wäre alles gut gewesen. Herta hat sich mit Morphium vergiftet, das sie ohne mein Wissen von hier mitgenommen hatte. Auch Deine Hilfe versuchte ich im Mai brieflich in Anspruch zu nehmen, aber sicher bekamst Du den Brief nicht.111

 

Vier Menschen hat Benn in den Tagen nach der Todesnachricht getroffen: Zahnarzt Dr. Freese, Ernst Wiesmann aus der Bozener Straße 20, den »alten Kapitän aus meinem Haus, der seine Streichhölzer gegen mein Weissbrod tauscht«112 und den Benn in jenen Monaten fast täglich besuchte, und die beiden Trauzeugen bei der Eheschließung mit Herta – Bruder Ernst-Viktor und Helene von Zeschau, die Vermieterin aus der Kaiserallee, bei der er im Herbst 1937 nach seiner Rückkehr aus Hannover untergekommen war. Sofort setzte Benn alles daran, vom »Military Government Schöneberg, Berlin« die Aufhebung der Ausgangssperre für sich zu erreichen. Kurz darauf notierte er: »zu Hause Briefe zerrissen«.113 Die Vermutung liegt nahe, dass Hertas Briefe bei dieser Gelegenheit vernichtet wurden, da kein einziger überliefert ist. Als der Pass schließlich am 5. September ausgestellt wurde, konnte er bereits einen Tag später zusammen mit dem aus Neuhaus stammenden Hans Wagner und dessen Vater die 250 km lange Reise an die Elbe antreten.

Bei den nach der Rückkehr von fremder Hand geschriebenen Postkarten an Bekannte und Freunde handelt es sich um von Benn aufgegebene Todesanzeigen. Anzeigenschreiber und Postbote war Benns langjähriger Bekannter Oberst a. D. Fritz Ohmke. Für Benn war es selbstverständlich und eine Frage der Ehre, in aller Form von seiner Frau Abschied zu nehmen: Aus Neuhaus zurückgekehrt, stattete er am nächsten Tag Hertas Geburtshaus in der Pfalzburger Str. 72 einen Besuch ab – auch dies ein Abschiednehmen.

Wichtige politische, gar weltgeschichtliche Ereignisse nahm Benn nur am Rande auf: Dass er sich als erklärter Antidemokrat für die Zulassung und Gründung der KPD, der SPD, der CDU und der LDP, die sich programmatisch allesamt für eine antifaschistisch-demokratische Republik einsetzten, nicht sonderlich interessierte, mag verständlich sein. Dass aber die großen Juli-Ereignisse – der Einzug der amerikanischen Truppen in Schöneberg, die Potsdamer Konferenz mit ihren Beschlüssen zu den deutschen Grenzen und der Abwurf der Atombombe auf Hiroshima – im Kalender keine Erwähnung finden, wir stattdessen am Tag nach dem Bombenabwurf lesen müssen: »Etwas Aufhellung«,114 hat etwas Makabres und wirft ein trübes Licht auf Benns Verfassung im tropisch heißen Juli 1945.

Vielleicht war es aber auch die im Juni einsetzende Ruhrepidemie, die Benn daran hinderte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als sein Arztdasein. Gerade als die Erkrankungen im August 1945 abnahmen, kam es zu einer Typhusepidemie mit zwölftausend gemeldeten Fällen. Die Zahl der Neuerkrankungen stieg wöchentlich um etwa tausend an. Hauptsächlich war die Epidemie durch den im Juli von Osten einsetzenden Flüchtlingsstrom nach Berlin verursacht und nahm infolge der Mangel- und Unterernährung und der damit nachlassenden Widerstandskraft dramatische Ausmaße an. Ebenfalls begann Benn in diesem Sommer seine Tätigkeit als Gefängnisarzt, die er in den nächsten vier Jahren beibehalten sollte.

Im September wurde schließlich ein von der Alliierten Kommandantur erlassener Plan zur Kontrolle der Darmkrankheiten in Berlin umgesetzt, nachdem u. a. Schutzimpfungen gegen Typhus und Paratyphus für medizinisches Personal und Angestellte in Flüchtlingslagern vorgesehen waren.115

Zur selben Zeit tauchte in Benns Praxis eine junge Zahnärztin aus der unmittelbaren Nachbarschaft auf, die ihre Praxis in der Bozener Straße 17 hatte. Von Berlin als Assistentin nach Bad Gastein geschickt, war sie »aber doch unter Beschuß der letzten Züge weggeeilt, ehe der Krieg zu Ende ging.«116 Sie wollte nach Berlin zurück. Die junge Frau, knapp über dreißig Jahre alt und mit einer auffallend weißen Strähne im streng zurückgebürsteten, dunkelbraun gelockten Haar, stammte aus Fürstenfelde, war also ganz in der Nähe von Benns Heimatdorf Sellin in der Neumark aufgewachsen. Im Herbst 1945, als die beiden sich die ersten Male sahen, sprachen sie offensichtlich nicht viel miteinander: Lediglich dreimal binnen kurzer Zeit ist Benns spätere Ehefrau Ilse namentlich im Kalender erwähnt. Danach dauerte es acht Monate, bis sie sich im nächsten Sommer wiedersahen.

Benn war immer noch zutiefst von den Ereignissen um seine Frau Herta aufgewühlt und irritiert, die er – wenn nicht im Streit, so doch mit großer Gleichgültigkeit – aus Berlin evakuiert hatte; von ihrem Selbstmord, »an dem ich bitter litt u. immer noch leide und der der tiefste Kummer meines Lebens ist«.117 »Nichts in meinem Leben hat mich so erschüttert«.118 »Nichts in meinem Leben hat mich so getroffen wie dieser Tod, er im Allgemeinen wie in seinen Einzelheiten.«119 Über Monate lassen sich solche Sätze vernehmen – bis zu folgendem Eintrag aus dem Dezember 1945:

 

Mich überrascht zu sehr, mich interessiert festzustellen, wie leicht Ihr alle lebt: es stirbt Euch ein Mensch, den Ihr tief geliebt habt, mit dem Euer Leben verbunden war u Ihr denkt, man lebt bald weiter u grinst weiter in den Tag hinein. Dass es entscheidende, lebenentscheidende Ereignisse gibt, ist Euch offenbar unbekannt. Herr Schweitzer sagt das u das ist damit Gott befohlen! Nein! Meine Substanz ist anders, reagiert anders.120

 

Was Gottfried Benn schließlich unternahm, um sich aus seiner von Isolation, Schweigen und Depression geprägten, acht Monate andauernden Schreibabstinenz zu befreien, war von innerer Logik bestimmt und lässt sich nur unzureichend durch die Lebensumstände erklären, sondern eher durch das, was er selbst Substanz nannte. Er wollte und musste wieder schreiben, zum Kugelschreiber greifen, dem »einzigen Vehikel, mit dem ich mich bewegen kann«.121 Es gibt kaum einen Moment in seinem Leben, an dem sich besser beobachten ließe, dass das Schreiben von Briefen denselben Stellenwert haben konnte wie die dichterische Arbeit. Vom September 1945 an, nachdem er sein Notizbuch erneut aufgeschlagen und die Kontinuität des täglichen Notierens, Exzerpierens und Formulierens sich wieder eingestellt hatte, galt wieder: »Nulla dies sine linea!«122 Endlich schwebten sie wieder, die »Dinge, Probleme, über die man Material und Notizen vielleicht im Augenblick noch ohne bestimmte Verwertungsmöglichkeiten in sich trägt«,123 endlich waren die beiden Pole, zwischen denen er seine Müdigkeit und seinen Lebensüberdruss hin und her jonglierte, wieder im Gleichgewicht: »Die Erfahrungen des Lebens und in gewissen Stunden dieses Erdteils letzter Traum. Die Geier und die Wasserrosen, das Geschäft und die Halluzinationen, Kreuzungen und dann der Untergang – so trete ich vor die aufsteigenden Länder.«124

 

Doch bevor der beinahe 60-jährige Gottfried Benn vor die durch den Eisernen Vorhang getrennten Länder treten wird, sich dem Projekt der Phase II des Expressionismus widmen, eine Frau finden und einen Verleger, sich rechtfertigen und schließlich noch einmal ein berühmter Dichter werden wird, müssen wir zurückgehen in das Jahr 1886, in das »Geburtsjahr gewisser Expressionisten«. Es war er erste Sonntag nach Ostern, »an der Elbe blühte schon der Flieder«.

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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