»… hier kann man nicht gesund werden.«37 Wie auch? Gottfried Benn war unheilbar krank. Seine Krebserkrankung schritt ungebremst voran. Von Besserungen konnte keine Rede sein. Manchmal spürte er Linderung der auf ihm lastenden Beschwerden. Da er tageweise immer wieder im Bett bleiben musste, immer häufiger auf seinen abendlichen »Rundgang« verzichtete und zu Hause blieb, nahm er von dem Gedanken Abstand, »in den Süden [zu] fahren, aber ich müsste so viel Diätregeln befolgen, (Duodenalgeschwür) so viel Medikamente mitnehmen (Rheumatismus), so viel Salbentöpfe einpacken (Ekzem), daß ich mich nicht fortgetraue«.38 Noch im März war er fest entschlossen, seinen siebzigsten Geburtstag mit Ilse und Nele im geliebten Bozen oder in Meran zu feiern. Er suchte ein Reisebüro auf und erkundigte sich nach Pensionen und Preisen, doch schließlich setzte sich die Einsicht durch, dass eine Reise einerseits zu beschwerlich und auf der andern Seite der öffentliche Druck seitens des Berliner Senats39 und der Wunsch der Freunde und (literarischen) Bekannten groß genug war, »eine richtige Einladung« auszusprechen, vom »Eintreffen in Berlin an … unsere Gäste zu sein … Anzug beliebig«.40
Doch bis dahin waren es noch beinahe vier Wochen, in denen sich die Benns akribisch auf den großen Tag vorbereiteten. Während der Frühling auf sich warten ließ und es tagelang schneite, kaufte Ilse Kuchengabeln, Gläser und neue Lampen, wusch die Vorhänge, räumte die Wohnung um, ging zur Schneiderin und ließ Gottfrieds grauen Anzug reinigen, während er versuchte sich zu schonen, Kriminalromane las oder sich mit Herbert Kühn auf die Spuren der Eiszeitmenschen41 begab. Als es endlich etwas wärmer wurde, saß er vormittags wieder auf einer der Bänke am Bayerischen Platz, erledigte zu Hause seine Korrespondenz und verbrachte die Abende mit seinen wenigen Freunden.42 Besuche empfing Benn nur noch ausnahmsweise, etwa vom Mansfelder Pfarrer Maas, dem er, »obschon ich in einer anderen Welt als der Ihren leben musste«,43 seine Verbundenheit bekundete und eine Spende für dessen reparaturbedürftiges Kirchenhaus überreichte, oder von Bernard von Brentano. »Als wir gegen Abend uns verabschiedeten, um ins Hotel zurückzukehren, da zeigte er uns, meiner Frau und mir, noch sein Arbeitszimmer. Der Raum paßte gut zu ihm, denn er sah wie eine Werkstatt aus, wie die Werkstatt eines alten, erfahrenen und fleißigen Meisters.«44
Hinzuzufügen wäre: in der seit dem Abend des 6. Januar und Kann keine Trauer sein nichts mehr produziert wurde. Benns literarische Geschäfte beschränkten sich darauf, die Drucklegung der Ende April erscheinenden Gesammelten Gedichte zu überwachen, sich vor Kameras und Mikrofonen interviewen und feiern zu lassen. Außerdem hatte er zugesagt, zusammen mit Joachim Günther und Rudolf Hartung die Jury eines Lyrik-Preisausschreibens zu bilden. Noch am 17. April sagte er dem Pariser Verleger Pierre Seghers die Teilnahme an der »Nuit de la Poesie« zu (allerdings vier Wochen später auch wieder ab):
Dichter leben ja immer schon allein, auch in ihrem eigenen Lande, es ist für sie doch ein ganz grosses Glück zu sehen, wie sich andere Stimmen aus anderen Ländern mit der ihren vereinen, um eine Nacht ganz dem Dichterischen zu weihn. Meinen Dank an das Comité des Fêtes de la Ville de Paris, der Dichtung eine grosse Nacht zu schenken u auch meine Studie aus dem Norden zu der Teilnahme an diesem Fest der Gedichte aufzurufen. Die Dichter sind die Tränen der Nation.45