»Freiheit, eigene Weltanschauung, Künstlertum«3

 
 

Am 21. Oktober 1904 verließ Gottfried Benn das Amt mit dem heiß ersehnten Stempel der Meldebehörde im Pass. Eine Woche später war er immatrikuliert. Zum ersten Mal atmete er in jenem Herbst Großstadtluft. Über den Brücken der Hauptstadt sah er das unglaubliche Licht – diese Weihe aus Blau, wie er es später einmal beschrieb.4 »Berlin war seit 1904 meine Heimat.«5

Berlin galt zu Anfang des Jahrhunderts nicht nur als die unruhigste und hektischste Stadt der Welt, sondern war für den Neuankömmling die »große Stadt, in der Kritik geübt wurde, aus der man Impulse hörte und vor der man sich genieren konnte«.6 Er war ja ein Provinzler:

 

In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs

wurde auch kein Chopin gespielt7

 

Sein Vater sei überhaupt nur einmal im Theater gewesen:8 in Wildenbruchs Haubenlerche. Aber der Stern des Kaiserreichsapologeten Wildenbruch war mit dem Auftreten des Antinaturalisten Max Reinhardt bereits tief gesunken. Dessen Aufstieg war kometenhaft. Spielend schaffte er Anfang 1905 mit einer bahnbrechenden Sommernachtstraum-Inszenierung am Neuen Theater, in der Gertrud Eysold als Puck mit elektrischen Glühwürmchen im Märchenwald um die Wette schwebte, den Übergang von der Kleinkunst- auf die große Bühne; noch im selben Jahr, etwa gleichzeitig mit Benns Aufnahme in die Kaiser-Wilhelms-Akademie, wurde er Besitzer und Chef des Deutschen Theaters. Gottfried wohnte nicht weit von Berlins wichtigster Spielstätte, und bei Eintrittspreisen zwischen einer und acht Mark ist anzunehmen, dass er hier die prägenden Erfahrungen machte, die ihn mit dem Milieu in Verbindung brachten, in dem er in den nächsten dreißig Jahren seine Freundinnen suchte.

Gleichzeitig begegnete ihm neben dem weltverdichtenden Mythos der Großstadt im Dunkel verräucherter Zellen der Mythos des Kinos. Ausgeschlossen, dass er die zwielichtigen Orte nicht aufsuchte, an denen die flimmernden Bilder das Bewusstsein sinken ließen. In den Kinos, die noch sehr viel von Varietés hatten, lief Der Raubmord am Spandauer Schiffahrtskanal bei Berlin, ein ungewöhnlich spannender Kurzfilm, der das Publikum in helle Aufregung versetzte.

Im Südwesten, Postbezirk 13, in der vierten Etage der Neuenburger Straße 1a in Kreuzberg, bezog Gottfried ein kleines Zimmer, das kaum mehr als 25 Mark im Monat gekostet haben wird und keine halbe Stunde Fußweg von der Universität entfernt lag – und nur wenige Meter vom Sitz des Parteivorstandes der Sozialdemokraten. Dort druckten die Druckmaschinen in massenhaften Auflagen den Vorwärts, mit dem Gottfried als einem der wenigen Zeugnisse modernen Lebens im Elternhaus in Berührung gekommen war. Zudem erinnerte ihn der Name der Straße an seine aus der Nähe Neuchâtels, also des schweizerischen Neuenburg, stammende Mutter. Von hier aus brach er während des Semesters zu den Mahlzeiten in eine der umliegenden »Bierquellen« der Gebrüder Aschinger auf und begann, wie die meisten seiner Kommilitonen, ein von Eltern und Geschwistern weitgehend unabhängiges studentisches Leben mit Frauen und Biertrinken, auf das er niemals mehr verzichten würde. Im Sommer 1905, es gehört zu den spärlichen Kenntnissen, die wir über Benns Leben in diesem Jahr haben, hörte er eine Nietzsche-Vorlesung des Scherer-Schülers Richard M. Meyer, die ihn grundlegend prägte und dauerhaft beschäftigten sollte. Als wahrscheinlich darf gelten, dass er die Vorlesungen der großen Koryphäen – Heinrich Wölfflin las über »Kunstgeschichte im 19. Jahrhundert« und Wilhelm Dilthey beschäftigte sich mit der »Geschichte der Philosophie« – nicht verpasst hat. Und noch vor Beginn der großen Semesterferien machte er einen Ausflug an den Rhein und reimte in Vorfreude auf das Kommende nach Hause:

 

Wem komm’ ich wohl am ersten was?

Den Eltern wie ich meine.

Auf Euer Wohl mein erstes Glas,

Mein erstes Glas am Rheine.9

 

 

Der lang ersehnte neue Lebensabschnitt hatte also begonnen. Augenblicklich faszinierten ihn Lärm und Geschwindigkeit einer Betriebsamkeit, auf die die Berliner mit einem Bedürfnis nach Zerstreuung reagierten, was wiederum den Kulturbetrieb so richtig in Fahrt brachte. »Japaner vor Generalsturm auf Port Arthur!«, schrien an den Straßenecken die uniformierten Zeitungsjungen am Tag nach Gottfrieds Ankunft. Für 5 Pfennig verkauften sie die erste Nummer der B. Z. am Mittag, als er auf dem Weg zum Fotografen war. Das Foto ist überliefert. Es ist ein für die Zeit modernes, nüchternes und sachliches Porträt aus dem Kaufhaus Wertheim am Leipziger Platz, wie man es dort im eintausend Quadratmeter großen Atelier seit einigen Jahren täglich hundertfach herstellte.

 

Als ich jung war, erschien 1903 die Anthologie von Hans Benzmann »Moderne deutsche Lyrik«. … Dies war die Anthologie, aus der wir damals das Lyrische in uns aufnahmen, und sie war nicht schlecht, sie enthielt, wie ich heute sehe, erstaunlich viele schöne Gedichte, geschrieben von vielen, die keineswegs zu den Großen zählten, und deren Namen heute keiner mehr kennt.10

 

Zu ergänzen wäre, dass einige von ihnen kaum älter als er selbst waren – Agnes Miegel und Reinhard Piper, Stephan Zweig, Alfons Paquet und Hugo Philipp. Die jüngsten der 150 in die Anthologie aufgenommenen Lyriker waren gerade mal zwanzig Jahre alt. Moderne Lyrik machen, das wollte der 17-Jährige auch, und er wollte keine Zeit verlieren, um seine persönliche Entwicklung in die richtigen Bahnen zu lenken. Vor allem aber machte dem öffentlich bislang nicht Hervorgetretenen die Lektüre des »Benzmann« Mut: Dichter wollte er werden. Innerste Ergriffenheit, tiefes Erleben, heilige Wahrhaftigkeit, las er im Vorwort, und daran wollte er sich wie jeder Lyriker messen lassen, dessen »Empfinden natürlich auch auf den letzten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen basiert«.11 »Nicht das Häßliche, Perverse, Grausenerregende, nur das Verlogene, Unehrliche, Unfreie, das Nachempfundene, Nachgemachte, Konventionelle ist zu verwerfen … Nicht jede Kunst ist für jeden. Fühlen, Schaffen, Genießen und Urteilen ist vielmehr im höchsten Grade subjektiv, ist Triebleben.«12

Diesem Willen zum höchsten Grad der Subjektivität, die auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis stehen sollte, stand freilich immer noch der Wille des Familienoberhauptes und Vaters gegenüber. Der wollte dem ältesten seiner Söhne eine Ausbildung ermöglichen, die einerseits seinem Weltbild entsprach, andererseits aber die Familienkasse in einer Weise schonen würde, die Gottfrieds Brüdern dasselbe Recht einräumte. Je länger der Konflikt schwelte, desto hartnäckiger wurde der Sohn. Längst war die Liebe zum Vater durch das Gefühl übermächtiger Autorität und daraus resultierenden Hass überlagert.

Keiner sollte sich Sorgen um ihn machen! Keiner sollte Gebete für ihn sprechen müssen! Das, was er in sich fühlte, ließ sich nicht austreiben. Wenn es ihm jetzt nicht gelänge, sich zu befreien, würde er ein Leben lang klein bleiben. Dann würde er es auch nicht verdient haben, sich Künstler nennen zu dürfen. Aus diesem Grund und um sich in seinem Kampf bestärken zu lassen, schickte er im Februar 1905 einen Stapel Gedichte an den (»Benzmann«-)Lyriker und Literaturkritiker Carl Busse, nachdem er in »Velhagens & Klasings Monatsheften« eine Besprechung von Peter Hilles Gesammelten Werken aus dessen Hand gelesen hatte.

 

Jetzt aber sehe ich mit Grauen den Moment kommen, wo ich müde des Kampfes bin, wo ich indifferent werde u. wo ich voll bitterer Skepsis und rohen Kynismus werde, wo alles alles zusammenbricht zu einem großen Trümmerhaufen von Empfindungen, … Ich habe mir vorgenommen, in mir einen kleinen jüngsten Tag zu arrangieren u. Echtes u. Falsches zu trennen. Und nun richte ich an Sie die Frage: nicht, sind meine Gedichte originell, schön, druckreif etc., sondern finden Sie in den Sachen ein Stück Künstlerseele … dann habe ich ein Recht an die Kunst, ein Recht zu dieser blutigroten heidnischen Sehnsucht, dann darf ich vor meinen Vater treten u. sagen: Gib mich frei aus den Banden, die du durch Religion u. Kirche um mich geschlagen hast, ich will meinen eigenen Gott mir suchen und du mußt mich doch lieb behalten.13

 

Busses Antwort kennen wir nicht. Aber egal, wie sie ausgefallen sein mag, nur wenige Wochen später wendete sich das Blatt und, zumindest was Gottfrieds Berufsausbildung betraf, führte sein »jüngster Tag« dazu, dass Echtes von Falschem getrennt wurde. Bereits früh erwies sich, dass Benn nicht der Mann der kleinen Schritte war, wenn er glaubte, in eine Sackgasse geraten zu sein. Weder saß er je eine Lebenssituation aus, noch wartete er auf Chancen. Konstitutionell drängte alles in ihm nach »jüngsten Tagen«, selbst wenn sie Zusammenbrüche zur Folge hatten, selbst wenn sie ihn erst vor den Trümmern der Existenz haltmachen ließen.

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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