»Wieder eine neue Verwandlung des Chamäläon«47
Wie gerne hätte Benn seinem Briefpartner Oelze »einmal etwas Positives berichtet, etwas Strahlendes«;48 dabei hätte er sich nur des heißen Samstags im Juli erinnern müssen, als er wegen einer »Zahnsache«49 nachmittags die junge Ärztin in der Bozener Straße 17/II re aufsuchte, die er bereits im Herbst 1945 im Rahmen der Typhus-Schutzimpfung kennengelernt hatte, und sich »abends bei Dramburg« mit ihr zum »Starkbier« traf. Noch wenige Stunden zuvor hatte er Nele geschrieben:
Heute ist es ein Jahr her, dass abends jener kleine fremde Mann mit riesig viel Goldzähnen bei mir klingelte, mir einen Brief von Herta brachte, dann eine lange Pause machte u sagte: »ich muss aber leider hinzufügen, dass sich der Briefschreiber am nächsten Tag das Leben nahm« –; ich denke immer noch jeden Tag an diese grauenvolle Stunde.50
Die Tage wurden seltener, an denen er an diese grauenvolle Stunde denken musste, denn »es kam diese wirkliche Liebe noch einmal über mich«,51 und es gab wieder eine Frau, nämlich die 33-jährige Ilse Kaul, die »›mit mir geht‹«.52 In ihr fand er eine Frau, die ihn zutiefst liebte und bewunderte. Von Beginn an gab er ihr das sichere Gefühl, für sie sorgen zu wollen: »›Ich bringe Ihnen ½ Pfund Butter. Ich hatte Besuch vom Lande und Sie haben doch einen schweren Beruf, Sie müssen gut essen.‹ … Und wenn dann meine Sprechstunde zu Ende war und ich wieder meinen Weg durch die Bozener Straße nach Hause gehen mußte, … freute ich mich schon, wenn ich da klingelte … Da bekam ich einen Teller Kohlsuppe mit kleinen Fleischschnipseln drin und hinterher noch eine Zigarette, die er auch immer hatte. Und dann hatte er noch eine Tasse Nescafé mit Zucker und das war alles große Verwöhnung für mich.«53 Im August fuhr Benn noch einmal in einem »Unternehmen auf Lebenu Tod«54 nach Neuhaus, verabschiedete sich endgültig von Herta und stellte sich anschließend mit Orpheus’ Tod die fehlende Bescheinigung aus, das Wagnis einer dritten Ehe einzugehen, denn er hatte
eine Gefährtin gefunden, an mich herangezogen, sie mir verknüpft, ein Wesen von grossem Reiz nach der menschlichen Seite hin, die ich wohl nicht hätte halten können, ohne Alles einzusetzen. In meinen Jahren kann man einer jungen Person nicht zumuten, als Freundin mit mir zu leben, ihr den Weg zu anderen Männern versperren, ihr nichts weiter bieten als geistige Führung oder auch Liebe, die äussern u. gesellschaftlichen Dinge sind für eine Frau genau so wichtig –, und sie wieder verlieren wollte ich nicht.55
Also machte er dem Menschen, dem er seinen Namen übergeben und hinterlassen wollte, einen Heiratsantrag. Sie hätte gerne noch eine Weile gewartet, aber er glaubte, keine Zeit verlieren zu können, und versprach ihr: »Wenn Du mit mir lebst u. meine Frau bist, – Du darfst weinen über Alles, was Dich bewegt oder je bewegt hat, ich werde Dir die Tränen fortküssen.«56
An einem Mittwoch, dem 18. Dezember 1946, bescheinigte das Schöneberger Standesamt, bezeugt von Ilses Schwester Eva und Gottfrieds jüngster Schwester Edith, Gottfried Benns dritte Eheschließung – »eine ausgesprochene Liebesheirat«.57 Und schenkt man Ilses Erinnerungen Vertrauen, knieten beide – wohl am selben Tag – in der mit Pappe notdürftig vernagelten evangelischen Kirche zum Heilsbronnen in der Heilbronner Straße nieder »und tauschten die Ringe«.
Zu unserem Erstaunen huschten Menschen zur Teilnahme herein mit Kopftüchern, in Mänteln aus Wolldecken und Uniformen und was man sonst so trug nach Krieg und Flucht.
Es waren meine und seine Patienten, Praxisangestellten und Wohnungsnachbarn. Dabei hatten wir uns alle Mühe gegeben, unsere Eheschließung geheim zu halten.58
Immerhin so geheim, dass nicht einmal Ilses Eltern anwesend waren, so dass Gottfried
den Tag, an dem Ilse meine Frau wird, … nicht zu Ende gehn lassen [konnte], ohne Ihnen wenigstens schriftlich für Ihre Tochter zu danken, dafür dass Sie ihr das Leben gaben und sie sich haben entwickeln und werden lassen, sodass sie der reizende und kluge Mensch wurde, der sie heute ist. Seien Sie versichert, ich liebe sie sehr und werde alles tun, um ihr Leben nicht unglücklich werden zu lassen, ja ich hoffe, ihr etwas Glück geben zu können trotz der Dunkelheit der Zeiten und der Schatten, die über uns allen liegen.
Dass ich Sie beide nicht vor unserer Hochzeit kennen lernen konnte, bedaure ich sehr, aber wir werden uns erlauben, in den nächsten Tagen Sie aufzusuchen.59
Die Ehe mit Ilse, die von nun an »mit zarter und kluger Hand die Stunden und die Schritte und in den Vasen die Astern ordnet[e]«,60 gelang. Sie war Krisen unterworfen, aber sie kann als die stabilste Beziehung in Benns Leben überhaupt gelten: »Der ›große Einsame‹ Gottfried Benn war so einsam keineswegs.«61 Ilse genoss das Leben mit Gottfried, diesem »transcendente[n] verderbenbringende[n] Gemisch von Intelligenz u Sinnlichkeit«,62 auch wenn sie gelegentlich etwas unter seiner Verschlossenheit litt: »Er sagt ja nie etwas. Ich sehe nur, wie er immer Pyramidon schluckt.«63 Im April 1947, nach dem Ende des harten, so viele an den Rand des Ruins treibenden Winters, verlegte Ilse, »die fleissig u. zart plombiert u. Zähne zieht u. Wurzeln reseziert u. mehr zu tun hat als ich«,64 ihre Praxis in die gemeinsame Wohnung: »Unsere Wohnung besteht aus 4 Zimmern, davon sind 2 Sprechzimmer, ein ärztliches, ein zahnärztliches, ein gemeinsames Wartezimmer – das vierte endlich unser Wohn- u. Schlafzimmer.«65
Er mußte haushalten mit seiner Zeit. Denn er hatte längst schon wieder angefangen zu schreiben. Nach unserem kurzen Abendgang saß er meist am Schreibtisch des gemeinsamen Wohn-Schlafzimmers. Er entschuldigte sich bei mir, er müsse etwas notieren. In Wirklichkeit schrieb er mit einem Kugelschreiber fieberhaft in ein schwarzes Heft, ohne abzusetzen. … Es meldeten sich immer mehr Besucher an. Sie wurden auf den praxisfreien Mittwochnachmittag bestellt. Der Sonnabend und Sonntag wurde streng zum Schreiben freigehalten.66
Langsam, aber sicher meldeten sich auch die alten Freunde wieder, die Deutschland hatten verlassen müssen. Der erste war Erich Reiss, der Ende Mai 1946 ein Lebenszeichen aus New York sandte, später Care-Pakete schickte und Benns Adresse an dessen alte Freundin Erna Pinner in London weitergab.
Im Juli stand überraschend der kriegsversehrte Erwin Goelz alias Frank Maraun vor der Tür; er hatte sich als dramaturgischer Mitarbeiter im NS-Propaganda-Ministerium und ab 1942 als Leiter der Abteilung für Nachwuchs beim Reichsfilmintendanten in den Jahren bis Kriegsende mit zum Teil antisemitischen Texten zunehmend verstrickt, aber Benn, der in Maraun einen treuen Bewunderer seiner Arbeit wusste, war froh, ihn wieder »unter den Erinnerern und Betreuern [s]einer literarischen Dinge zu wissen«,67 und trug ihm neben Oelze die Rolle des Juniorpartners im Benn-Archiv an. Als sich die Deutsche Verlagsanstalt im Laufe des Jahres 1947 an den »unerlaubten Autor«68 Gottfried Benn erinnerte, war es Frank Maraun, der sich für die Interessen Benns einsetzte. Am 8. Mai 1948 heiratete Maraun seine Kollegin Else Feldbinder. Gottfried und Ilse Benn waren ihre Trauzeugen.
Im Oktober erfuhr Gertrud Zenzes von George Grosz’ Ehefrau Eva Benns Adresse und sandte sofort eines der heiß begehrten Care-Pakete, das den Tagesablauf der Jungvermählten, die vor Sprechstundenbeginn um neun gemeinsam frühstückten, Gottfrieds aus exakt 70 Bohnen zubereiteten Kaffee tranken und am Abend am geheizten Ofen saßen, auf ungeahnte Weise verschönerte: »Cereals, Nescafé, Mehl, Suppen, Cornflakes, Zahnbürste, Schuhsenkel, Corned Beef Hash, Confekt, Reis, Tee, Nähzeug«,69 gefolgt von einem Kistchen mit 600 Zigaretten. Die Dankbarkeit war groß:
Ich bin gerührt, beschämt u. glücklich, dass Sie mich so freundschaftlich in Ihrer Erinnerung gehalten haben, so gütig, so unverändert teilnehmend! Seien Sie sicher, denken Sie bitte immer daran, dass ich an alle unsere Unterhaltungen, unsere gemeinsamen Stunden, unsere vergangenen Jahre glücklich und dankbar zurückdenke. … Ich bin sicher, dass Sie sich nicht ausmalen können, was das für einen Berliner von heute bedeutet. Sie können es nicht, da Sie trotz aller Beschreibungen in Zeitungen und Berichten keine Vorstellung von unserem Dasein sich machen können.70
Im November 1946 erreichte Benn das erste (von Erich Reiss), im Januar 1950 das letzte – George Grosz schickte sechs Pfund Kaffee – von mehr als einhundert Hilfs-Paketen, teils privat, teils von der 1945 in den USA gegründeten Hilfsorganisation CARE. Gertrud Zenzes, die die Benns Ende August 1948 für drei Tage besucht hatte, schickte monatlich wenigstens zwei Pakete, die einfach alles enthielten, was man in Berlin entbehrte: Neben Lebensmitteln wie Suppen, Tee, Schokolade, Honig, Fleisch, Wurst und Konserven packten die Benns Parfüm, Gesichtscreme, Zellstoff, Briefpapier, Puderdosen, Schuhcreme, Zahnpasta, Senfpflaster, Seife, Rasierklingen, Feuersteine und Watte aus und freuten sich über Decken, Krawatten, Hemden, Kragen, Socken, Hosenträger, Kleider, Schuhe, Schals, Unterwäsche, Handtaschen, Handschuhe und Gürtel – und immer wieder der heiß ersehnte Kaffee und Zigaretten. Dazu kamen all die Pakete von Nele und aus der Schweiz von Carl Seelig und von Peter Schifferli, der das Honorar für die Statischen Gedichte in Form von »Liebesgabenpaketen« verschickte. Doris von Wedemeyer schickte, Oelze und Traute Werckshagen, und aus New York George Grosz und Alfred Vagts.
Für die Benns wie für alle Berliner kamen die Pakete wie gerufen, denn es kündigte sich bei beständig östlicher Wetterlage ein besonders »bösartiger Winter«, »ein fortwährend rückfälliger mit immer neuen Hochs …, ein wahrhaft maligner Winter«71 an: »Hier sind etwa 18° Kälte. Noch habe ich für 1 Ofen Kohlen, aber nicht mehr für lange; was dann wird, weiss ich nicht. Die Praxis schläft bei der Kälte u. den ewigen Stromsperren sowieso ein. Tut ja nichts. Ich werde keine Steuern mehr zahlen u. wie alle Welt nur an meine Verproviantierung denken.«72 Man lief im Pelzmantel durch die Wohnung, mehr als tausend Berliner erfroren oder verhungerten, der Verkehr und das öffentliche Leben drohten zusammenzubrechen.