»Zur Liebe kann man niemanden zwingen«17

 
 

Es war Anfang Juni im Jahr 1954. Benn saß bei Sommergewittern wie immer abends in der Kneipe, zusammen mit Ilse, und dichtete: Melancholie.18 Seit Ostern war er mit der 26-jährigen Germanistin Astrid Claes in einen von Seiten der jungen Frau intensiv geführten Briefwechsel verwickelt, der ihm Anlass war, »die feurige u elegante junge Dame«19 sehen zu wollen.

Benn erwähnte die 1928 in Leverkusen geborene Tochter des Bürgermeisters Heinrich Claes erstmals im August 1951.20 Die damals 23-jährige Germanistikstudentin hatte sich entschlossen, ihre geplante Dissertation über »den Einfluß des Horaz auf die deutsche Dichtung des 17. Jahrhunderts mit dem Titel ›Das Motiv des carpe diem in der deutschen Barocklyrik‹«21 in halb fertigem Zustand ruhen zu lassen, um sich den Gedichten Gottfried Benns zu widmen. Sie hätte ihn gern besucht, bevor sie für ein halbes Jahr nach London ging, aber es wurde nichts daraus. Ein Jahr lang hörte Benn dann nichts mehr von der jungen Studentin, ein Jahr lang »strich [sie] Worte an, notierte Gedanken dazu«.22 Im Spätherbst 1952 kündigte sie sich erneut an, doch auch zu diesem Besuch kam es nicht. Später glaubte sie, aufklären zu müssen:

 

… einmal war ich schon in Berlin. Aber die Vorstellung, mit Papier und Bleistift vor Ihnen zu sitzen, um als Philologin »Beute zu machen«, beunruhigte mich jedesmal so stark, daß ich mich zuletzt nicht entschließen konnte.23

 

Wieder ein Jahr später promovierte sie, und an Heiligabend hielt Benn die Arbeit über seinen lyrischen Sprachstil in Händen. Unmittelbar nach den Feiertagen zeigte er das (allerdings noch ungelesene) Manuskript Gudrun Diem und Günther Wenkums, wie Astrid Claes Germanisten aus Köln, worüber sie, nachdem sie davon erfahren hatte, sehr verärgert war. Zwar versuchte Benn, durch einen freundlichen Brief die Sache zu bereinigen, aber es vergingen vier Monate, bis sie sich Ostern 1954 wieder meldete. Diesmal schickte sie Gedichte von sich mit, was bei Benn eine produktive Stimmung auslöste:

 

Wer Verse schreiben konnte

wie ich sie schrieb

den hatten unbesonnte

Jahrzehnte lieb

 

Der hat zwar kaum gegeben

doch es war nicht Tiefe u Tausch,

Es war mehr Laster als Leben,

gesuchter Rausch.24

 

 

Gottfried Benns eigentliches Motiv tritt schon in seinem ersten langen Brief vom 17. April 1954 deutlich zutage. »Ein Herr aus Köln, der Sie kennt, sagte mir, Sie seien eine schlanke, elegante attraktive junge Dame – trifft das zu?«25 Kein Zweifel, Gottfried Benn, dessen spätes artistisches Bekenntnis, Prismatiker zu sein – »auf der Jagd nach Einzelheiten verbringt man sein Leben«26 –, auch seinem Verhältnis zum weiblichen Geschlecht entspricht, war bereit, sich auf die junge Frau aus Köln näher einzulassen. »Gelegenheiten – das war es … Auftauchen, nur im Akt vorhanden sein und wieder versinken«.27 Er bat um ein spontanes Treffen28 oder um Photographien.29 Er erkundigte sich nach möglichen Berufszielen,30 schickte Nelken oder seinen Essay Goethe und die Naturwissenschaften,31 der ja schon am Anfang der Briefbekanntschaft mit F. W. Oelze stand. Folgende Wiederholung ist bezeichnend: »Entschuldigen Sie diesen langen Brief. Ich habe in den letzten Jahren keinen so langen Brief geschrieben.«32 Dieser Satz leitet weder den Briefwechsel mit Astrid Claes noch mit Ursula Ziebarth ein, obwohl er in Abwandlung so dort auch steht, sondern war 1931 an Gertrud Hindemith gerichtet. Die Floskeln sind austauschbar, durch die Jahrzehnte hindurch.

Schon früh schlug Astrid Claes das zentrale Motiv ihrer Beziehung an:

 

Ein Gedicht – das ist doch etwas so Intimes. … Wie kommt es zu einer solchen Überwindung – denn sie ist wohl notwendig, wo das Leben im Zeichen der »Verhüllung« steht …?33

 

Zweifellos hat sich Astrid Claes Benn gegenüber verhüllt – das Verhältnis zu ihrer Familie, zu dem Germanisten Rainer Gruenter, dem Vater ihrer Tochter, von der Benn erst spät erfuhr: all das deutete sie nur vage an. Eine Ausnahme machte sie bei ihren Gedichten. Die hatte sie ihm, wie sie schrieb, »bedingungslos geschenkt«.34 Sie vertraute dem neuen Brieffreund, schickte noch mehr Gedichte und bat ihn eindringlich, einer Einladung ihres Chefs Professor Wilhelm Emrich zu folgen und nach Köln zu kommen, während Benn – »auf der Jagd nach Einzelheiten« – sich für Details aus ihrem Leben interessierte. »Was für lange Briefe ich plötzlich schreibe! Ich muss nicht ganz richtig sein.«35

Anfang Juni stand Ilse kurz vor ihrem Italien-Urlaub. Sie ging alleine, und ihm war es recht, denn es ergab sich, dass er am Abreisetag mit der forschen Germanistin einen gemeinsamen Abend in Kassel mit Übernachtung im Hotel verabreden konnte.

Benns lyrischer Kessel war dermaßen angeheizt, dass er bereits am nächsten Abend »in einem Zug« »im ›Quartier Boheme‹« Dampf ablassen musste:36

 

Heute noch in einer Großstadtnacht

Caféterrasse

Sommersterne,

vom Nebentisch

 

Hotelqualitäten in Frankfurt

Vergleiche,

die Damen unbefriedigt

wenn ihre Sehnsucht Gewicht hätte

wöge jede drei Zentner.

 

Aber ein Fluidum! Heiße Nacht

à la Reiseprospekt und

die Ladies treten aus ihren Bildern:

unwahrscheinliche Beauties langbeinig, hoher Wasserfall

über ihre Hingabe kann man sich gar nicht erlauben

nachzudenken.

 

Ehepaare fallen demgegenüber ab,

kommen nicht an, Bälle gehn ins Netz,

er raucht, sie dreht ihre Ringe,

überhaupt nachdenkenswert

Verhältnis von Ehe und Mannesschaffen

Lähmung oder Hochtrieb.37

 

 

Ein weiteres Gedicht, später weder im Merkur noch in Aprèslude gedruckt, entstand am selben Sommerabend: »War im ›Bohême‹ gewesen, heiss, war ins Kritzeln gekommen u. musste so früh nach Hause, um zu notieren.«38 Gemeint ist Schöner Abend.39 Bereits am Abend darauf, nachdem er sie noch einmal überarbeitet hatte, schickte er Melancholie, Teils-teils und Schöner Abend an den Merkur, die dort

 

gedruckt zu sehen, meine Lebensgeister belebt u meine Depressionen zu einer Luftdrucksteigerung bringen könnten, ganz ordentliche Gedichte, eines lang u. neuartig; eines salopp mit der Slangmasche, die ich so liebe; eines zart u klein wie von Gustav Falke.40

 

Paeschke hielt Teils-teils für das gelungenste: es habe »etwas von der Geste, die Schule gemacht hat und doch irgendwo unnachahmlich ist«.41 Interessant ist Benns Einschätzung der Gedichte insofern, als er Schöner Abend zu diesem Zeitpunkt noch für gelungen hielt, zwei Wochen später als »banal u. sanft«42 und nach weiteren zwei Wochen als »weichlich« bezeichnete.43 Danach war von dem Gedicht nie mehr die Rede.

Am 27. Juni 1954 trug Benn eine abgespeckte Version von Probleme der Lyrik auf einem Symposium zum Thema »Der Staat und die Kunst des 20. Jahrhunderts« in Bad Wildungen vor.

 

Es war ganz nett. Das Bade Hotel in W. ist smart u. elegant. Ich lernte Herrn Adorno kennen, der auch einen Vortrag hielt, ein sehr intelligenter, wenig gut aussehender, Jude, aber eben von der Intelligenz, die eigentlich wirklich nur Juden haben, gute Juden. Wir flogen sozusagen auf einander, nur ist er noch sehr ichbezogen, eitel und, im allerdings rechtmässigen Sinne, geltungsbedürftig.44

 

Bernard von Brentano hielt ebenfalls einen Vortrag, doch Benn fand ihn »etwas schwach«.45 Den Vortrag Adornos hörte er erst gar nicht an.

Tags darauf stand das Rendezvous in Kassel an. Benn wurde mit dem Auto durch die nordhessische Hügel- und Wälderlandschaft gefahren. Sie gefiel ihm nicht. Im Park Hotel erwartete er die mädchenhafte junge Frau, die im schwarzen Rock und lilafarbenen Rolli das Taxi verließ. Benn hatte einen Rosenstrauß aufs Zimmer bringen lassen: »Rufen Sie mich an, wenn Sie mich sehn wollen, mein Zimmer ist 229.«46 Später gingen sie im Bergpark spazieren, danach ins Schloss, tranken Tee, ruhten eine halbe Stunde in ihren Zimmern und aßen am Abend im Ratskeller. »Ich wollte, es gäbe mehr Einzelheiten, sich zu erinnern.«47 Ihre Erinnerung reichte später bis zu dem Moment, als der Dichter die Arme öffnete, »und ich legte einen Augenblick mich und mein Gedicht Der Delphin hinein. Einen Augenblick.«48

Nach seiner Rückkehr ließ Benn es langsam angehen. Der Sommer war mies, es regnete beinahe täglich. Wie die meisten sah er den Sieg der deutschen Fußballer über die Ungarn im Endspiel um die Weltmeisterschaft in Bern. Zur Beruhigung der Nerven löste er Kreuzworträtsel und machte mit Ilse an ihrem Geburtstag, dem ersten Sonnentag nach langer Zeit, einen Ausflug ins Strandbad am Wannsee. Die Affäre mit Astrid Claes versuchte er weiter anzufachen, doch sie erwies sich als Strohfeuer, denn beinahe jeder Brief bot Anlass zu Unstimmigkeiten.

 

Nämlich, sind Sie eine Frau, also eine Liebespartnerin, stehe ich Ihnen anders gegenüber, als wenn Sie ein feines Herz sind, eine Dichterin, eine Gespielin, … Im ersteren Fall werden Sie behandelt wie eine Frau, d. h. sehr nett, aber etwas bestimmend und etwas beobachtend, … Man liegt vor einer Frau nicht Tag und Nacht auf den Knieen u. murmelt zu ihr Gebete empor, eine Frau ist ein Gegenstand.49

 

Beinahe schien es, als sei auch seine so plötzlich aufgeflammte Lyrikproduktion nur ein Strohfeuer gewesen, da erreichte ihn am 18. Juli ein Brief der Feuilletonredakteurin der Welt am Sonntag, Ingeborg Brandt. »Keine Schönheit, Brillenträgerin … aber klug wie alle ihr Frauen, viel klüger als das Mannsvolk.«50 Die Journalistin fragte unverbindlich, »ob Sie nicht das eine oder andere unveröffentlichte Gedicht für mich hätten«,51 und diese Anfrage setzte erneut einen lyrischen Schub in Gang; an den folgenden Tagen finden wir im Kalender Vorentwürfe aller vier Strophen des Gedichts Aber du –?,52 allesamt Kneipen-Strophen. Der thematische Zusammenhang mit Ebereschen53 ist evident und reicht wiederum bis ins Material, gibt es doch im Vorentwurf den Plan, die letzte Strophe des Gedichts ebenfalls mit der Zeile »Aber du –« enden zu lassen:

 

E[bereschen] dies Jahr u Jahre immerzu

An Bäumen Vasen voll, von Gott geboten

in fahlen Tönen erst u dann in roten –

Aber Du –54

 

 

In ihrer Grundstimmung bilden die beiden gereimten Gedichte einen starken Kontrast mit den Juni-Gedichten. Der aufkeimenden hoffnungsvollen Stimmung von Teils-teils – »Aber ein Fluidum!«55 und Schöner Abend steht die Enttäuschung aus Aber du –? gegenüber: »abends im Lokal ist kein Genießen, / selbst an diesem Ort zerfällst du bloß.«56

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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