»Sattelte 1905 zur Medizin um«14

 
 

Noch während der Semesterferien im April 1905 richtete Gustav Benn mit einem Empfehlungsschreiben des Selliner Patronatsherren, des Kavallerieobersten Carl Friedrich von Rohr, die schriftliche Anmeldung zum Studium für seinen Sohn an den Generalstabsarzt der Armee und Direktor der Kaiser-Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen, Prof. Dr. von Leuthold, den kaiserlichen Leibarzt. Die Aufnahmebedingungen waren erfüllt: ehelich, unter 21, Berechtigungsschein zum einjährig-freiwilligen Dienst, militärtauglich und (eben mal) 170 cm groß. Da Gottfried jedoch bereits drei Semester studiert hatte, konnte die Anmeldung nur aufgrund einer Ausnahmeregelung erfolgen. Während eines Aufenthaltes in der Akademie wurde nochmals seine körperliche Tauglichkeit geprüft, und noch am selben Tag erhielt er die Zusage, dass er zum 20. Oktober 1905 unter einem Vielfachen von Bewerbern in der ehrwürdigen Kaiser-Wilhelms-Akademie, Friedrichstraße 140, genannt Pépinière, als einer von 36 Studierenden zugelassen war. Man teilte sich zu viert zwei Zimmer; im Studentenkasino, das im Gartengebäude untergebracht war, gab es billiges Bier für fünf Pfennig das Glas, und man aß im Wechsel Kotelette, Beefsteak, Rühreier und Rollmöpse.

Die Akademie war 1795 für den Sanitätsnachwuchs gegründet worden. Mit der medizinischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität war sie insofern verknüpft, als beiden Organisationen in Personalunion dieselben Lehrer angehörten. Die finanzielle Last des Studiums teilten sich Gustav Benn und der Staat. Neben einer Einmalzahlung von 150 Mark zur Ausrüstung als Einjährig-Freiwilliger musste Gustav jährlich Zahlungen zum Lebensunterhalt in Höhe von knapp 1000 Mark garantieren. Der Staat trug die Kosten für die teuren Kolleggelder und die Lehrmittel, leistete monatlich 30 Mark Beihilfe und übernahm 25 Mark Wohngeld. Gottfried hatte damit ungefähr so viel Geld zur Verfügung wie ein gelernter Arbeiter, jedoch nur etwa ein Drittel der Summe, die ein wohlhabender Corpsstudent ausgeben konnte.15

Bereits nach wenigen Wochen, am 7. Dezember 1905, wurde Generalstabsarzt Rudolph von Leuthold in den Ruhestand versetzt. An die Direktorenstelle rückte Prof. Otto Schjerning, dem man nachsagte, dass er mit Herz und Verständnis den Studierenden so viel Freiheit wie nur irgend möglich gewähren wollte, durch regelmäßig stattfindende Semesterabschlussfeste im Studentenkasino die Kameradschaft untereinander fördern und sich um das Fortkommen seiner Zöglinge kümmern wollte, indem er zu Semesterende jeden persönlich begutachtete und sich über seine Leistungen informieren ließ.

Die eigentliche Leitung des Instituts hatte zu jener Zeit der Subdirektor Generalarzt Prof. Berthold Kern inne. Er verantwortete die Studienpläne und suchte unablässig »bei seinen Studierenden den Sinn und Geschmack für die Kunst zu wecken«.16

Zehn Jahre war es her, dass der Kultusminister Dr. Bosse anlässlich der Feierlichkeiten zum 100-jährigen Jubiläum die Einrichtung und ihre Lehrer mit Sätzen gelobt hatte, die sich Benn so zu Herzen nahm, dass er sie fast wörtlich in seiner Lebensbeschreibung wiederholte. »Wir kommen zu dem Ehrentage nicht nur als Mitarbeiter und Freunde«, so der Minister, »sondern auch als dankbare Schuldner. Aus diesem Institute sind hervorgegangen eine Reihe von Fürsten der Wissenschaft, ich brauche nur die Namen v. Helmholtz und Virchow zu nennen, es sind hervorgegangen bedeutende Universitätslehrer und Forscher, ich nenne nur L e y d e n, Löffler und Behring …«17

 

… ihr Geist herrschte dort mehr als der militärische, und die Führung der Anstalt war mustergültig. Ohne den Vater stark zu belasten, wurden für uns alle die sehr teuren Kollegs und Kliniken belegt, die die Zivilstudenten hören mußten, dazu bekamen wir die besten Plätze, nämlich vorn, und das ist wichtig bei den naturwissenschaftlichen Fächern, bei denen man sein Wissen mit Hilfe von Experimenten, Demonstrationen, Krankenvorstellungen in sich aufnehmen muß. Dazu hatten wir aber noch eine Fülle von besonderen Kursen, Repetitorien, hatten Sammlungen zur Verfügung, Modelle, Bibliothek, bekamen Bücher und Instrumente vom Staat geliefert. Dazu bekamen wir eine Reihe von Vorträgen und Vorlesungen über Philosophie und Kunst und allgemeine Fragen und die gesellschaftliche Bildung des alten Offizierskorps. Für jedes Semester, das man dort studierte, mußte man dort ein Jahr aktiver Militärarzt sein. Im übrigen war das Leben dort das vollkommen freier Studenten.18

 

Samstags hörte man bei Professor Frey »Allgemeine Kunstgeschichte«, daneben Abendvorträge über die »Philosophie der Gegenwart«, über »experimentelle Psychologie« oder auch »Probleme der Ästhetik«. Für den 19-jährigen Neuling herrschten ideale Verhältnisse: Wunschstudium mit optimalen Ausbildungsbedingungen auf höchstem wissenschaftlichem Niveau; gesicherte wirtschaftliche Verhältnisse bei weitgehender Nivellierung der ständischen Herkunft – und all das unter Wahrung eines studentischen Lebensgefühls, wie es der freiheitsliebende, kunstinteressierte und auf dem Weg zum Dichter befindliche Gottfried zur Entwicklung seiner Persönlichkeit benötigte.

Das Studium selbst ließ sich vergleichsweise langsam an. Die Neustudenten bekamen Tanzunterricht, um den gesellschaftlichen Anforderungen ihrer späteren Stellung gerecht werden zu können, und Professor Edmund Lesser hielt einen Vortrag über die Gefahren sexuell übertragbarer Krankheiten und ihre Beziehungen zum Alkoholgenuss. Auf dem Stundenplan standen täglich Anatomie und Präparierübungen bei dem in Ärztekreisen hoch geschätzten Karzinomforscher Wilhelm Waldeyer, Skelettlehre bei Hans Virchow, dem Sohn des berühmten Rudolf Virchow, sowie Kurse in organischer Chemie und Physik.

Doch bevor das Studium richtig begonnen hatte, war es durch die aktive Dienstzeit mit der Waffe schon wieder unterbrochen. Die Ableistung des Einjährigen-Dienstes war geteilt: im ersten Sommerhalbjahr des Studiums sechs Monate, die andere Hälfte nach der Ernennung zum Unterarzt.

Am 1. April 1906 wurde Gottfried eingezogen. In der Karlstraße, der heutigen Reinhardtstraße, nahm er in der Kaserne mit dem unmittelbar angrenzenden Exerzierhaus des 2. Bataillons des 2. Garderegiments zu Fuß Quartier.19 »Damals wir viere« – erinnerte sich Hans Mantel, dessen Wege die Gottfried Benns dreißig Jahre später in Hannover wieder kreuzen sollten. Zusammen mit Reinhard Bruns20 und dem späteren Tuberkulosearzt Gerhard Ballin21 bezogen sie die »Stube 78, in der längst historisch gewordenen Uniform«22 aus dunkelblauem Tuch mit gelben Knöpfen und roten Schulterklappen. Auf Fotos sieht man die vier ausgelassen feiern: in Uniform, Bowle trinkend, Zigarren rauchend, vor sich auf dem Tisch einen Totenkopf.

Den Sommer verbrachten sie hauptsächlich mit der Pickelhaube auf dem Kopf auf dem Truppenplatz und übten den Gebrauch der Waffen. Am Samstag durften sie ihre geschundenen Knochen ausruhen und befassten sich dafür theoretisch mit »Knochen und Bänderlehre« und »Allgemeiner Kunstgeschichte«.

Da die Sommerferien dem Militärdienst zum Opfer fielen, verpasste Gottfried auch den Umzug der Familie in das 100 Kilometer entfernte, heute in Polen gelegene Städtchen Mohrin. »Wir fuhren über Falkenwalde und durch den Sterntaler Forst«, erinnerte sich Bruder Ernst-Viktor an die Fahrt durch die prächtige Akazienallee. »Dann lag plötzlich groß und blau der Mohriner See vor uns und das alte Städtchen mit der grauen Mauer. Im schlanken Trab bog der Wagen zum Pfarrhaus ein. Eine Menschenmenge erwartete uns mit dem Bürgermeister und dem Hauptlehrer, und kleine Mädchen in weißen Kleidern sangen: Euern Eingang segne Gott!«23

Es war August. Gustav, Caroline und die Kinder betraten ihr neues Heim, das vier Jahre später dem »villenartigen Bau, zwar noch zwischen Wäldern und Seen, aber doch schon von der Struktur einer kommunalen Baracke«,24 weichen musste. Dieser Ort sollte Gustavs Wirkungsstätte bis zu seinem Tod kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sein. Das Pfarrhaus befand sich unweit der mächtigen, aus Feldstein gebauten Kirche, die dreischiffig auf der höchsten Erhebung über dem See lag. Am Abend der Beerdigung des Vaters im Oktober 1939 spazierten Gottfried und seine Frau Herta am Seeufer entlang »in unseren alten Garten u. auf die Mauer, die Du kennst, wir fanden den See u. den kleinen Ort so hübsch, dass wir hinziehen wollen, wenn …«25

In der Erinnerung seiner kleinen Schwester Edith war er damals ein Zauberer und Geschichtenerzähler; er verstand die Sprache der Tiere und passte auf die Geschwister auf, wenn die Eltern nicht da waren. Einmal fing sie an zu singen: »Üb immer Treu und Redlichkeit …«, und bei dem Vers »Das Laster treibt ihn hin und her« sang sie »Pflaster« anstatt »Laster«, worauf ihr Bruder gesagt habe, sie solle ihn ansehen, denn das Laster, das sei er. »Er liebte die Reseden im Garten und nannte mich Edchen: ›Edchen, mein Mädchen, hol mir die Resedchen vom Beetchen.‹ Er strahlte immer Ruhe aus, war freundlich zu uns Kleinen, ging gern allein spazieren in die Felder, in den Wald, am liebsten in der Dämmerung.«26

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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