»Kanzel des Ruhms«98

 
 

Wie Gottfried Benn und der neun Jahre jüngere Paul Hindemith zusammenfanden, weiß man nicht. Möglicherweise war die Vertonung dreier Gedichte Benns Anfang 1930 der Anlass. Vielleicht war es auch Gertrud Hindemith, die den Kontakt zu Benn hergestellt hat. Immerhin ging an sie der erste Brief der überlieferten Korrespondenz mit den Hindemiths, für den sich der Regisseur von amourösen Polygonen wohl nur rhetorisch entschuldigte: »Ich habe in den letzten Jahren keinen so langen Brief geschrieben.«99 Die Formel signalisierte ganz zweifellos Interesse an der gutaussehenden, gerade einmal dreißigjährigen Komponistengattin. Ob sich hierin gar der Grund für die in der Künstlerbiographie Benns einmalige Konstellation einer direkten künstlerischen Zusammenarbeit findet? Kaum. Am plausibelsten bleibt die These, dass Benn die Chance einer öffentlichkeitswirksamen Präsentation seiner Kunst, die auf lange Sicht viel Geld und großen Ruhm in Aussicht stellte, nicht verstreichen lassen wollte. Und um dieses Ziel zu erreichen, war es besser, sich mit beiden Hindemiths gut zu verstehen.

Von Anfang an hatten die beiden Künstler einen guten Draht zueinander. Bereits im Mai wollte man zu viert einen Sonntagsausflug mit dem Mercedes der Hindemiths unternehmen, den Gertrud lenkte. Und es folgten viele weitere. Dokumentiert ist dies in einer Serie von einzigartigen Fotos, die Gertrud vom fröhlichen Morchen im weißen Sommerkleid – mal den auf einer Decke lungernden schwergewichtigen Gottfried, mal Hindemiths schwarzem Pudel Alfi den Kopf kraulend – in einer Lichtung des sommerlichen Grunewalds machte. Die Jacketts ins Gras gelegt, nutzte man die Nachmittagssonne für ein Schläfchen, die eine oder andere Zigarette, und »wenn dazu noch Gespräche kommen, kann sich ein Strom von Vernichtung durch die Persönlichkeit bewegen«.100

Anfang Juli erreichte Benn die »ehrenvolle« Aufforderung Hindemiths, einen Text für ihn zu dichten. Noch im Jahr zuvor hatte Hindemith mit Brecht ein Lehrstück für das Baden-Badener »Fest der Neuen Musik« zur Aufführung gebracht und sich gerade erst wegen politischer Unstimmigkeiten mit ihm überworfen. »Aber«, so Benn, »ich bin im Augenblick körperlich u. geistig so ermüdet u ohne Spannung, daß ich an keine Arbeit denken kann.«101 Immerhin: »Darf ich Ihnen sagen, daß ich neulich Ihre Oper ›Neues vom Tage‹ ganz wunderbar anregend u. bedeutend fand.«102 Eine Oper oder etwas in der Größenordnung müsste es dann aber sein. Über die Leistung des Librettisten der Großstadtoper, des Kabarettdichters Marcellus Schiffer, verlor er selbstredend kein Wort.

Benns Apathie und Abgespanntheit lagen hauptsächlich darin begründet, dass Neles Bruder gerade gestorben war; er war auf dem Weg nach Kopenhagen in das Haus am Meer, wo Nele lebte und »Tag und Nacht an die Ufer des Gartens das Sinnloseu das Unaufhörliche schlug«,103 um sie zu trösten. Hier griff er die seit Anfang der zwanziger Jahre in ihm schlummernde Idee des »Unaufhörlichen«, des »großen Gesetzes«104 auf. Eine gute Woche nach seiner Rückkehr aus Dänemark konnte er sie präsentieren:

 

»Das Unaufhörliche« ist kein Lehrstück, sondern mehr eine Dichtung. Der Name soll das unaufhörliche Sinnlose, das Auf und Ab der Geschichte, die Vergänglichkeit der Größe und des Ruhms, das unaufhörlich Zufällige und Wechselvolle der Existenz schildern, vielmehr lyrisch auferstehen lassen.105

 

Paul Hindemith zeigte sich hochinteressiert, und Benn gelang es, seinen flott komponierenden »Chef« immer wieder mit neuen Textpartien zu füttern und schließlich auch zufriedenzustellen. Daneben befand er sich »kolossal in Büchern, Notizen, Zetteln u Gedanken«,106 saß »Tag u Nacht am Schreibtisch u. schmiert[e] Aufsätze zusammen!«107 Neben der Fertigstellung des Essaybandes Fazit der Perspektiven war vereinbart, im Monatsrhythmus einen Zyklus von drei Radiovorträgen über die schöpferische Persönlichkeit zu halten: über das Genie, über den Aufbau der Persönlichkeit und über den Unterschied zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Persönlichkeit: »Notre Radio est très modern, et très literarisch et tout à fait dernier cri! Et payera beaucoup!! (150–200 M. pour 30 minutes.)«108

Zumindest Benns Wunsch, durch die Zusammenarbeit mit Hindemith viel Geld zu verdienen, erfüllte sich nicht: »Selbst in den besten Zeiten wurde mir das Honorar von der Aufführung des ›Unaufhörlichen‹ im Berliner Rundfunk vom Finanzamt gepfändet.«109 »Die Leute sind irre, der Staat muss zertrümmert werden. Die freien Berufe, die kein festes Einkommen, keine Pension, keine Ferien und keine Bürostunden nach der Uhr kennen, die müssen wieder ran … u. da vergeht einem die Laune.«110

Auf dem Höhepunkt der Bankenkrise – die mit Benns persönlicher Finanzkrise zusammenfiel –, als die Darmstädter und Nationalbank, immerhin Deutschlands zweitgrößte Geschäftsbank, am 13. Juli zahlungsunfähig wurde und ihre Schalter geschlossen blieben, stellte Gottfried Benn einen Verrechnungsscheck der DANAT über null Reichsmark, »aber tausend Küsse«111 an Elinor Büller aus: Die gemeinsame Sommerreise mit Nele fand aus finanziellen Gründen ohne den Vater statt, und als die millionenschwere Thea Sternheim mit dem wohlhabenden André Gide zu einem Besuch in den Praxisräumen der Belle-Alliance-Straße 12 auftauchte und der Deutsche zur Begrüßung mit großer Geste die Arme öffnete, um dem Franzosen die Hände zu schütteln, konnte man in der Aktion lesen, dass Benns Hefte Diesterweg und Etappe für je 50 Pfennig verscherbelt wurden, während die Steuerbehörden 500 Mark bei ihm eintreiben wollten.

Zu allem Überfluss wurde Benn »herzkrank«: »Ich stehe in regulärer Behandlung bei Fleischmann wegen meines Herzens u. er verlangt von mir, daß ich in ein Sanatorium gehe.«112 Fleischmann behandelte mit Theominal, das zu jener Zeit bei Psychosen verabreicht wurde. In der Regel setzten als Effekt Schlaf, Beruhigung und in der Mehrzahl der Fälle das Verschwinden der Zustände ein.

Ins Sanatorium ging Gottfried Benn nicht, aber er fuhr Ende August mit seinem Freund Erich Reiss für eine Woche in den Thüringer Wald, von wo aus sie Ausflüge nach Ilmenau und Saalfeld machten und Benn sich Anregungen für den Aufsatz Goethe und die Naturwissenschaften holen konnte, dessen Erscheinen der Bremer Kaufmann F. W. oelze zum Anlass nahm, einen Briefwechsel zu beginnen, ohne den die schriftstellerische Existenz Benns ab diesem Zeitpunkt nicht mehr zu denken war.

 

Fast ein Jahr lang, bis Ende Juni 1931, dauerte die Arbeit am Unaufhörlichen. Im August hielt Benn den gedruckten Text erstmals in Händen.

 

Das Unaufhörliche, das ist die Welt oder die Schöpfung, oder das, was sie treibt, das, was immer da war, vor den Monden, vor den Meeren, das, was wir nicht sehen, das, was wir nicht sinnlich und auch nicht denkerisch erfassen, was aber da ist, als Hintergrund da ist. Das Unaufhörliche, das große Gesetz, das Unaufhörliche, der dunkle Trank, das Unaufhörliche, Liebe, Kunst, Wissenschaft, Religionen ihm unterworfen, alles zerrissen von Verwandlung, überall Vergänglichkeit von dunklen und von hellen Himmeln, immer das Unaufhörliche, und keiner kennt die Stimme, die es rief.

Es ist kein abendländischer Aufstiegsglaube, kein zivilisatorischer Optimismus, den wir Ihnen hier bringen, es ist ein tragisches Weltgefühl, aus dem sich die Dichtung nährt. Aber wir bemühen uns doch, zum Schluß den Menschen nicht mit leeren Händen dastehen zu lassen, auch diesen götterlosen Spättyp nicht weinend sterben zu sehen. Wir stellen ihn so dar, daß es ihm offen steht, als Träger und Erkenner dieses großen Gesetzes es sich leidend zu erkämpfen. Wir stellen ihn dar, eingebettet in diese unausdenkbare Substanz, die ihn weitertragen wird, wenn längst seine Rasse, wenn längst im letzten biologischen Kampf alles Menschliche zu Ende ist, das ihn aufnehmen und weitertragen wird in das Unaufhörliche, in das Alterslose, das ewig im Wandel ist und im Wandel groß.113

 

Uraufgeführt wurde das moderne Oratorium am 21. November 1931 in der Berliner Philharmonie. Unter der Leitung von Otto Klemperer spielte das Philharmonische Orchester, es sangen der Philharmonische Chor sowie der Knabenchor der Staatlichen Akademie für Kirchen- und Schulmusik. Es folgten unmittelbar Aufführungen zum hundertjährigen Bestehen der Mainzer Liedertafel 114 und durch den Dortmunder Lehrergesangsverein.115 Benn war stolz darauf, dass das Werk später des Öfteren im Ausland aufgeführt wurde – darunter in London, Amsterdam und im Juni 1932 in Zürich unter der Leitung von Volkmar Andreae.

Noch bevor Das Unaufhörliche zur Uraufführung kam, war der Vorsatz getroffen, dass es bei dieser einen Arbeit nicht bleiben sollte: Benn schwebte eine Oper mit dem Arbeitstitel »Die weiße Rasse« vor. Anfang März 1932 kam dieser Plan jedoch endgültig zum Erliegen, obwohl ihn noch im Sommer »förmlich alles dazu«116 gedrängt hatte. Offensichtlich hatten Benn die Wahl in die »Dichterakademie« sowie das für ihn äußerst befriedigende »Ergebnis« seines im Dezember fertiggestellten Goethe-Aufsatzes darin bekräftigt, sich stärker auf seinen eigenen dichterischen Arbeiten zu konzentrieren.

 

Wollen wir diesen Winter arbeiten, ich wäre dafür. Allein kann ich kaum beginnen. Zuviel Fragen, die wir besprechen müßten. Wir werden doch wieder die Methode des Zug-um-Zug u. allmählichen Aufbauens anwenden müssen (mit Ratschlägen von Frau Hindemith). Vor allem die Grundfrage: Revue oder was? Revue mit Commère u Compère, ein Paar, auf das sich alles bezieht, die wir öffnen u wieder sammeln (Bariton u. Sopran), der Ausgangspunkt könnte sein zwischen beiden die Frage: sollen wir uns fortpflanzen, sollen wir diese Rasse fortpflanzen, wie sieht sie aus, wer ist sie, wo kommt sie her, wo geht sie hin, welches sind ihre Ideen, ihre Ideale, ihr Körper (Ballett! Sie müßten – ich bin so sinnlich eingestellt – schönste Ballettmusik schreiben, schöne Frauen, das ist doch das Einzige, was wirkt, schöne weiße Frauen!) wir müßten das Dumme, das Sinnlose, das Fortgetriebene u. schließlich doch so Enggehaltene der Rasse schildern. Wir müßten ihr Spezifisches erfassen: das Technisch-Industrielle, das Intellektuelle, die Rasse im Frack u. die Rasse im Titanen und über ihr immer unentwegt, unberührt, die Rätselhaftigkeit des Seins, die Unerklärbarkeit seines Ursprungs u. seiner Ziele (Aber alles das sehr sinnlich u. gegenständlich).117

 

Ende Mai 1932 sandte Benn an Hindemith das Exposé eines Opernstoffes, in dem er sein Alter Ego Rönne auf die Bühne holen wollte, dessen Wohnung im ersten Akt gepfändet wird und dessen Frau stirbt. »Die Prüfung unserer Kultur, unsrer seelischen Gesinnung wird der Inhalt der weiteren Akte sein.«118

Nach dem Scheitern der »Rönne«-Oper waren Ende Juli 1932 noch zwei weitere Stoffe im Gespräch (»Carletons Weizentraum« und der »Mikrobenjäger«). Sie wurden jedoch schnell wieder verworfen. Danach dachte Benn an Knut Hamsuns Roman Viktoria als Grundlage eines Librettos. Im September schließlich war die letzte der gemeinsamen Ideen, ein Stoff beruhend auf Anselm Schubigers »Sängerschule St. Gallen«, vom Tisch: »Was Modernes wäre doch besser. In einer Zeit, wo so neue interessante Dinge sich prägen.«119

 

Im November 1931 versandte Gottfried Benn Widmungsexemplare des Textbuches des Unaufhörlichen. Eines davon ging an den in Berlin lebenden Klaus Mann. Das literarische Multitalent, vor Jahren mit der nun mit Carl Sternheim verheirateten Pamela Wedekind verlobt, war ein glühender Verehrer Gottfried Benns, seiner Lyrik und seiner kritischen oder hymnischen Prosa: »Er wirkt, er hat Einfluß, wenn auch nur auf Vereinzelte.«120

 

Gottfried Benn gehört zu den stärksten Sprachschöpfern, die Deutschland heute aufzuweisen hat; … Seine »politische Einstellung«, soweit von derlei bei ihm die Rede sein kann, ist radikal links, das geht aus einigen seiner Essays unzweideutig hervor, zum Beispiel aus dem über den Paragraphen 218. Aus anderen Essays aber … ist noch unzweideutiger zu ersehen, daß er die Politik überhaupt haßt.121

 

Mit bewundernswerter Klarheit erkannte Klaus Mann nicht nur das Dilemma, in dem sein gefeiertes Idol steckte, sondern früher als die meisten ahnte er auch, wohin es ihn führen würde:

 

Fortschrittsglauben, bei Wissen um das Geheimnis: so meinen wir’s … Sie stehen selbst links, Gottfried Benn. Warum machen Sie Ideale verächtlich, die für keinen Dichter endgültige Ideale sein werden, aber eben doch für die Stunde die einzig möglichen, die einzig überhaupt praktikablen? Wenn Sie, Dichter, dessen Name bei den Jungen vieles gilt, die Ideale von links verhöhnen, gewinnen Sie damit denen von rechts immer mehr Boden. Sie wollen es nicht, aber Sie tun es trotzdem.122

 

Klaus Mann entlarvte Benns in seinen Essays eingeschlagenen Weg der »ästhetischen Selbstisolierung«, die auf des Dichters »in allen Zeiten wiederkehrende[r] Desintegration in die Gesellschaft«123 beruhe, als Sackgasse, mit all den Konsequenzen, die Benn würde tragen müssen.

Ein halbes Jahr zuvor hatte Klaus Mann erleben müssen, wie Benn, dem er in diesen Tagen noch versichert hatte, dass er ihn »noch wo [er] ihm zu widersprechen wage, mehr bewundere als die meisten anderen, die [er] lobe«,124 sehenden Auges in diese Sackgasse hineinfuhr. Am 28. März 1931 sollte Benn eine Tischrede anlässlich des Festbanketts zum 60. Geburtstag Heinrich Manns halten, der seit Januar 1931 Vorsitzender der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste war; außer Benn sprachen Max Liebermann, Adolf Grimme, Thomas Mann und Lion Feuchtwanger. In abgewandelter Form war die Rede, die in Heinrich Mann den »Meister, der uns alle schuf«,125 feierte, bereits am Vortag in der Literarischen Welt erschienen und in der Berliner Funk-Stunde zwischen 18 Uhr 30 und 19 Uhr verlesen worden.

Die Rede fand ein mehr als geteiltes Presseecho, und zwar in beiden politischen Lagern. Während die Nazis im Angriff über »das intellektuelle Berlin, seine Journaille und seinen Funk« herzogen, erschien im Tagebuch ein infamer Artikel des Architekten und Schriftstellers Werner Hegemann, der Benn als Geistesgenossen Adolf Hitlers diffamierte und am Schluss seines Artikels feststellte, Benn mache sich mit seiner Ästhetik »vogelfrei«. Es hätten ihm versichert

 

z. b. Alfred Döblin und Arnold Zweig, und dasselbe hörte [er] von Bert Brecht, daß ihre große Bewunderung für Heinrich Mann viel mehr noch dem modernen Politiker als dem Dichter Heinrich Mann gehört. Ja, sie meinten, daß Gottfried Benn mit seinen funkelnden Geburtstagsaufsätzen, im Stile vergangener herrlicher Zeiten, die Bedeutung des viel größeren Heinrich Mann, als so aktivistischen Politikers, sehr herabgemindert, ja gefälscht hat. Döblin entdeckt in dieser Herabminderung sogar Methode. Gottfried Benn sei seit seiner Auseinandersetzung mit Becher immer weiter ins faschistische Lager gerutscht.126

 

Aus heutiger Sicht lässt sich sagen, dass Benn, als er Heinrich Manns Geburtstag zum Anlass nahm, den Gefeierten öffentlich zu »vereinnahmen, ihn zum Objekt der Zurschaustellung einer Ästhetik zu machen, die die des Laudators und längst nicht mehr die des Gefeierten ist«,127 unbeirrbar auf dem von Klaus Mann beschriebenen Weg der Isolation vorangeschritten ist. Wie sehr Benn bereits isoliert war, lässt sich daran ermessen, dass Heinrich Mann es unterließ, in der Kontroverse öffentlich für Benn Partei zu ergreifen, sondern es dabei beließ, seine Sympathie für Benns Haltung privat zu äußern:

 

Jedenfalls sagte ich ihm [Werner Hegemann], dass ich nicht zustimmen kann und Sie auf keinen Fall für einen Faschisten halte. Ich glaube nicht, dass ein Fascist grosse Kunstwerke schaffen könnte. Wenn er es übrigens könnte, hätte ich auch gegen seinen Fascismus nichts.128

 

Als Benn seinem jungen Verehrer Klaus Mann das Textbuch des Unaufhörlichen schickte, mag er gehofft haben, dass dieser bei der Uraufführung anwesend sein würde. Am 23. November, zwei Tage nach der Aufführung, schrieb »der mir so angenehme«129 Klaus Mann einen Brief: »Nun, da ich es kenne, tut es mir umso mehr leid, dass ich bei der Berliner Aufführung nicht da sein konnte … Sie wissen ja wie sehr ich dem pathetischen Zauber Ihrer dichterischen Diktion verfallen bin.«130

Beinahe möchte man sagen, dass Gottfried Benn auf die Ereignisse wie gewohnt reagierte: Er brach körperlich und psychisch zusammen und flüchtete sich in eine Depression. Einerseits wollte er sich nicht einfach ins rechte Lager abschieben lassen, andererseits hatte er seine Freunde im linken Lager beinah vollständig vergrault.131 Am liebsten hätte er sich wohl ganz dem öffentlichen Zugriff entzogen und geschwiegen, um sich politisch nicht noch stärker instrumentalisieren zu lassen, doch die Geister, die er gerufen hatte, ließen sich so leicht nicht vertreiben. »Glauben Sie bitte nicht, weil ich im Allgemeinen stumm geworden bin, dass ich nicht immer Ihrer gedächte«, schrieb Benn an Else Lasker-Schüler, die kurz vor der Emigration stand, am vierten Todestag ihres Sohnes Paul, »seien Sie bitte vom Gegenteil überzeugt. Aber selbst reden ist heute schwer.«132 Die Anspielung auf die am Vortag ausgerufene Parole der gegen die rechtsgerichtete »Harzburger Front« gegründeten »Eisernen Front« – »Heute rufen wir – morgen schlagen wir!« – ist kaum zu überhören.

Während er seine literarische Kraft nach dem nur mäßigen Erfolg des Unaufhörlichen zum Ende des Jahres 1931 ganz in den Dienst seines Goethe-Aufsatzes stellte, formulierte er in Umfragen ein Hoch auf das Privatleben133 und gab seiner unbeirrbaren Überzeugung Ausdruck, »jeden Materialismus historischer oder psychologischer Art als unzulänglich für die Erfassung und Darstellung des Lebens abzulehnen«.134

 

Ich sehe eigentlich mehr, daß die Religionen der Götter zu nichte gehn, während der Sozialismus längst nicht alle Tränen trocknet, und daß nur die Kunst bestehen bleibt als die eigentliche Aufgabe des Lebens, seine Idealität, seine metaphysische Tätigkeit, zu der es uns verpflichtet.135

 

Das Jahr endete mit einem letzten Ausrutscher: Er »stürzte Heiligabend bei Glatteis vom Autobus, zerschlug mir die r. Hand u. das Kreuz, habe einen cigarrenkistengrossen Bluterguss im Rücken u. lag die sogenannten Feiertage im Bett«.136

Was Benn zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass er nicht nur auf der Kandidatenliste für die Dichterakademie Heinrich Manns, sondern neben Carossa, Musil, Pannwitz, Binding und Flake auch auf der seines großen Bruders Thomas stand, die der Nobelpreisträger von 1929 mit den Worten kommentierte: »Die Wahl Gottfried Benns würde ich insofern für glücklich halten, als sich in diesem Fall ein bedeutendes lyrisches Künstlertum mit ebenso starker Fähigkeit zur Kritik und geistigen Zeitdeutung verbindet, so daß er ganz der Typ ist, den wir brauchen.«137

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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