»Einzelgänger ohne Parteisicherung«138

 
 

Als Gottfried Benn am 29. Januar 1931 den Telefonhörer abnahm, traute er seinen Ohren nicht: »Aber machen Sie doch keine Witze mit mir altem Mann!«139 Oskar Loerke, der »ehrliche und selbstlose, aber auch recht vorsichtige Makler«140 der Akademie, konnte Benn unmittelbar nach der vormittags um halb elf stattgefundenen Wahl mitteilen, dass er mit elf von sechzehn Stimmen unter 28 Kandidaten neben Max Mell, Rudolf Binding, Ina Seidel, Rudolf Pannwitz und Alfons Paquet als neues Mitglied der Abteilung für Dichtung gewählt worden sei. Die Wahl Benns war, wie ein im Vorfeld geschriebener Brief Ricarda Huchs an Oskar Loerke zeigt, nicht unumstritten:

 

Den Gottfr. Benn finde ich unmöglich. Es giebt viel Ekelhaftes im Leben; aber man ist nicht deshalb ein Dichter, weil man viele Ekelhaftigkeiten aneinanderreiht; es ist auch wahr, dass unsere Sprache abgegriffen ist, aber man wird dieser Hemmung nicht dadurch Herr, dass man lauter ungewöhnliche, abseitige u. auffallende Wörter gebraucht. Ich würde es sehr beklagenswert finden, wenn dieser Schriftsteller Mitglied einer Akademie würde.141

 

Alles in allem schienen jedoch die meisten mit der Wahl Benns zufrieden zu sein, und noch viele Jahre später rühmten sich sowohl der ebenfalls mit Heinrich Mann befreundete Heinz Ullstein 142 als auch Alfred Döblin, dass er Benn »zusammen mit Loerke selbst in die Akademie hereingebracht [habe], es wurde ungeheuer schwierig ihn durchzusetzen, weil er urologisch dichtete, zugleich kosmisch und prähistorisch, jedenfalls hochgebildet und unverständlich. Solche Zusammensetzung: Kosmos und Jauche aus stinkenden Kavernen gab es da in der Preußischen Akademie noch nicht.«143 Wenige Wochen später erwähnte Benn in einem Brief an die Hindemiths, dass er einer Abendeinladung Döblins gefolgt sei, um sich ihn nicht »für immer zum Feinde zu machen«.144 Das Verhältnis zu Döblin, dem er wie dem höchsten Gott des Hinduismus eine gute und eine furchtbare Seite zuwies, blieb ambivalent. Als er Döblins Frau einen Neujahrsgruß für 1933 zukommen ließ, machte er »dem großen Schiwa meine Ehrerbietung, ich drücke meine Stirn vor ihm ins Gras!«145 Benn bewunderte die Schriften Döblins, seine Meisterschaft in der Sprachbeherrschung, und dies brachte er auch in seiner Akademierede zum Ausdruck:

 

Gustav Adolf führt über das Kattegat, so schildert Döblin die Ausgangsvision zu seinem »Wallenstein«, graugrünes Wasser, Schiffe, Koggen und Fregatten –, »Alexanderzüge mittels Wallungen«, so versuchte ich dasselbe methodologisch zu formulieren in einer meiner experimentellen Studien –: auch die Geschichte nur noch vorhanden als kongestive Synthese, als Impression von großen Massen, von Dreadnoughts heute und von weißen Segeln einst.146

 

»Herr Döblin, mein 3facher Kollege«,147 revanchierte sich und stellte Benn dem Publikum als einen Mann vor, der »fern von der Unwahrheit und Krankhaftigkeit dessen, was man Öffentlichkeit nennt, fern von jeder Partei und Politik« lebe und aus diesem Leben gelegentlich schreibe. Benns Kunst konzedierte Döblin den »Wille[n] zur Echtheit«.148 Konzise seine Beschreibung von Benns Position: Er verglich ihn mit Heine, der wie Benn »zwischen 2 Fronten stand«:149 »Er war charaktervoll bis aufs Blut.«150

Mit großer Genugtuung, »bei der Gruppe, beim Volk, bei der Zeit«151 endlich Aufnahme gefunden zu haben, bei den »zwei oder drei Konzessionslose[n], die unübersehbar sind, aber dann die Masse der Schieber, die flüssigen Epiker, die Rülpser des Anekdotenschleims, die psychologischen Stauer von Mittelstandsvorfällen, Schund und Schmutz«,152 teilte Benn dem Präsidenten der Akademie Max Liebermann mit, dass er die Wahl annehme, und bereitete sich auf seine Antrittsrede vor: »Ich mache zehn Minuten Schrapnell Modell Bellealliancestraße, den Zuhörern bleibt die Spucke weg. Ich lege meiner Selbstdarstellung meinen Lieblingsspruch unter: ›das Leben währet 24 Stunden und wenn es hochkommt, war es eine Kongestion‹, und rede wie ein Pfarrer darüber 1) der Realitätsverlust, 2) die Bedrängungen 3) die Kongestion.«153 In Briefen liest man nun häufiger als sonst, dass es ihm gutgehe, aber wen wundert es, stand doch neben der Festsitzung der Abteilungen für Musik und Dichtung zu Ehren ihrer neuen Mitglieder am Abend des 5. April am Pariser Platz die Veröffentlichung der Sondernummer der Neuen Rundschau anlässlich Goethes 100. Todestag an, die Benn einen Platz neben Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, André Gide, Hermann Hesse und José Ortega y Gasset zuwies, womit seine Sozialisierung als Dichter in der Weimarer Republik, wenn auch sehr spät, abgeschlossen war.

»Das Leben währet vierundzwanzig Stunden, und wenn es hochkommt, war es eine Kongestion.«154 Mit diesem Satz hatte sich Benn 1927 in seinem poetologischen Text Lyrisches Ich wieder in die literarische Öffentlichkeit gewagt. Mit demselben Programm, anthropologisch erweitert um die Theorien der mystischen Partizipation (Lucien Lévy-Bruhl) und der progressiven Zerebration (Constantin von Economo), trat Benn vor seine neuen Kollegen, damit sie endlich verstünden, was die Stunde geschlagen habe: 1) der Realitätsverlust: Anschauung und Begriff seien unwiederbringlich auseinandergefallen. Folge: Verlust von individuellen und historischen Sinnzusammenhängen; 2) die Bedrängungen: salopp formuliert: Der Mensch (»die Kurve des Mannes sinkt zurück«155) wird zu Ende gehen und er weiß es; 3) die Kongestion: Mittels »Begriff« und »Halluzination« (das Handwerkszeug der Kunst) gelinge die Verankerung in jenen Schichten, die unwiederbringlich auseinandergefallen sind. Frage man nach der Substanz dieses Gelingens, laute die Antwort: Man »erblickt das Nichts. … Das wäre die Lage des Ich.«156

Und weil die Zeit drängte, gab Benn den Zuhörern den gut gemeinten Rat: Die Final-Lage des Ich – »Sie sollten an ihr teilnehmen.«157 Anthropologisch fundiert, als Bedrängung erlebt, erhebe sich unter dem Gesetz der »formfordernden Gewalt des Nichts«158 – und musste zum Schluss kommen –

 

die zivilisatorische Endepoche der Menschheit, aus der ja allerdings wohl ganz ohne Zweifel alle ideologischen und theistischen Motive völlig verschwunden sein werden, gleichzeitig die Epoche eines großartig halluzinatorisch-konstruktiven Stils sein wird, in dem sich das Herkunftsmäßige, das Schöpfungsfrühe noch einmal ins Bewußtsein wendet, in dem sich noch einmal mit einer letzten Vehemenz das einzige, unter allen physischen Gestalten, metaphysische Wesen darstellt: der sich durch Formung an Bildern und Gesichtern vom Chaos differenzierende Mensch.159

 

Während Benn im Laufe des Jahres 1932 im Namen der Kunst und im Namen der Deutschen an dem »letzten Ausweg aus seinen Wertverlusten«, an einer »volkhaften Verpflichtung« zum »konstruktiven Geist«, dem Kampf um »eine neue ethischen Realität« festhielt, verabschiedete sich die Weimarer Republik in Raten, so wie sich Benn in Raten aus der Anti-Hitler-Ecke bewegte: »Ich bin ein alter Mann mit konservativen Neigungen, ein Hindenburgwähler«. Bei der Reichspräsidentenwahl am 10. April 1932 ließ sich Hitler noch verhindern, doch »politisch« war die »dicke Luft« in jenen Tagen nicht zu übersehen: »Man sieht abends mehr Schupo auf der Straße als Civilisten.«160 Unmittelbar nach Hindenburgs Wiederwahl ließ Reichskanzler Brüning SA und SS verbieten, der seinerseits Ende Mai sein Amt an Franz von Papen abgeben musste. Von Papen sah sich zu erheblichen Zugeständnissen an Hitler gezwungen und nahm das SA /SS-Verbot zurück. Benn, der die Vorgänge wie alle beobachtete, gab sich unbeteiligt: »Schlechtes Wetter, flaue Stimmung. Wird Hitler – wird er nicht?«161

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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