»Ich ertrage Schweigen,
Verschwiegen werden u Vergessen«
45

 
 

Am 8. Januar 1945 hatte es wieder sehr stark zu schneien begonnen. Herta lag mit Fieber im Bett, während Gottfried mit der Fertigstellung des hochartifiziellen, die historischen Ereignisse reflektierenden Gedichts St. Petersburg – Mitte des Jahrhunderts beschäftigt war.

 

Erster Teil:

»Vom Gorilla bis zur Vernichtung Gottes«,

zweiter Teil:

»Von der Vernichtung Gottes bis zur Verwandlung

des physischen Menschen« –

Kornschnaps!

Das Ende der Dinge

ein Branntweinschluckauf

ultratief!46

 

 

An jenem Nachmittag, als am Ende der Welt Benn »das Ende der Dinge« nachzeichnete, war sein drei Jahre jüngerer Bruder Stephan, Pfarrer in Prenzlau, zu Besuch gekommen. »Verweile weisser Abend …« Noch einmal steckte Benn in jenen Tagen den poetologischen Rahmen ab, in dem er seine Lyrik ansiedelte. Die Anklänge an Fausts »Werd’ ich zum Augenblicke sagen, / Verweile doch! du bist so schön!«47 sind nicht zu überhören, und mit dem St. Petersburg-Gedicht war Benn vielleicht das avancierteste der in Landsberg eingeläuteten Phase II seines Schreibens überhaupt gelungen. Ganz offensichtlich bereitete er sich auf das Ende vor, das er kommen sah. »Dann magst Du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!«48

Eine Woche später, die Winteroffensive der Russen mit dem Großangriff der dritten weißrussischen Armee auf Ostpreußen hatte begonnen, meldete sich Benn nach überstandener Grippe erstmals wieder zum Dienst zurück. Herta war seit geraumer Zeit morphiumsüchtig, litt trotz der sechswöchigen Kur im Sommer an heftigen rheumaartigen Schmerzen in den Kniegelenken und musste deshalb zeitweise am Stock gehen. An diesem Abend ging sie allein ins Kino und sah Marika Röck in Die Frau meiner Träume tanzen. Als »grosse Tänzerin« hatte Benn Herta seiner Tochter Nele im Januar 1938 unmittelbar vor ihrer Hochzeit vorgestellt.

 

Ihr Vater war Vortänzer beim Kaiser, als Gardeoffizier hier in Berlin, u. sie hat das Talent geerbt. Mit 3 Jahren konnte sie Spitzentanz, ist richtig ausgebildet als Tänzerin.49

 

Vor diesem Hintergrund muss Benns Kalendereintrag an diesem Abend gelesen werden: »Stock zerbrochen«.50 Aber ganz andere Dinge waren am Zerbrechen. Beider Leben war unmittelbar bedroht. Ungesichert erschien Benn die Existenz seiner in Landsberg entstandenen Manuskripte. Oelze hatte er zum Geburtstag bereits ein Konvolut mit Gedichten geschickt und die ihm unter den Nägeln brennende Frage gestellt: »Darf ich den Nachlass Rönne an Sie senden?«51 Wenige Tage später verließ ein dienstversiegeltes Wertpaket in Höhe von 1200 Reichsmark die Kaserne, »vorschriftsmäßig verpackt«,52 »wie Nachlässe dienstlich zu versenden sind«.53 Auch die nächsten Tage standen vollständig im Zeichen der bevorstehenden Flucht. Am 23. ging Benn zum letzten Mal in Landsberg zum Friseur, dann zur Bank, hob 3000 Mark ab und nahm Abschied von den Kollegen Simon, Foth und von Schmiedteck. Schließlich meldete er sich beim Amt der Wehrmachts-Versorgungsgruppe offiziell krank. Am 24. holte er von seiner Dienststelle Hertas Evakuierungsschein. Die erforderlichen Reisebillets erhielt er von seinem Bekannten Dr. Kops, dessen Frau an diesem Tag Geburtstag hatte, und gab für das eine wie für das andere seine letzte Flasche Rotwein.

In Landsberg, dem heutigen Gorzów Wielkopolski, spitzte sich indes die Lage dramatisch zu. Dass die »roten Reiter schon ihre Rosse in der Warthe tränkten«,54 darf freilich nicht wörtlich genommen werden, denn die klirrende Kälte hatte den Nebenfluss der Oder zufrieren lassen, während Flüchtlinge aus Ostpreußen und dem Umland in die Stadt drängten. Am Bahnhof standen Hunderte von aufeinandergestapelten zurückgelassenen Schlitten, Hand- und Kinderwagen. Dort hielten die heillos überfüllten Züge aus dem Osten. Die parallel zur Bahnstrecke verlaufende Landstraße war mit einem endlosen Treck von Lastwagen und dazwischen hochbeladenen Planwagen mit vorgespannten Pferden genauso überlastet, und dann gab es auch noch das zurückdrängende Militär.

Tags darauf wurden die Koffer gepackt. Ein Teil des Gepäcks sollte von Bekannten in einem Bahntransport mitgenommen werden. Der größte Teil des Hausstands musste jedoch in Landsberg bleiben.

 

Herta hatte ja mit viel Mühe u. unter Beihilfe mehrerer unrechtmässigerweise gecharterter Lastautos alles Wertvolle von hier im Herbst 43 nach Landsberg geschafft, das Schlafzimmer, ihr Chippendale-Damen- bezw. Esszimmer, Wäsche, Silber, Bilder, …55

 

Anschließend informierte Benn seine Vermieterin Frau Christel Kretzschmer von der unmittelbar bevorstehenden Abreise Hertas. Der in der Benn-Literatur als Monsieur Desmoulin auftauchende Kriegsgefangene und Verehrer Hertas, Jérôme Demolière, findet seine letzte Erwähnung im Kalender, und noch einmal erreichte die Benns Post von Hertas Schwester Doris und Gottfrieds Bruder Stephan. Mit den wenigen Sachen, die Herta mitnehmen konnte, bestieg sie am Morgen des 26. Januar einen der Laster, die Landsberg verließen. Der brachte sie nach Berlin, von wo sie sich am späten Abend kurz vor Mitternacht telefonisch meldete – angekommen zu Hause in der Bozener Straße 20.

 

… alles flieht, keine Eisenbahnplätze zu kriegen, für 1 Platz in einem Lastwagen werden 1000 M u ein Schinken geboten.

Ich bleibe hier. Ob die Dienststelle verlegt wird, ist unsicher. Ich bin quasi krank gemeldet, hatte kürzlich eine schwere Grippe, könnte eventuell mit dieser Begründung nach Berlin, weiss aber noch nicht, was zweckmässig ist. Ungeheizte Räume hier, die Stadt voll Flüchtlinge, ungeheure Spannung.56

 

Unseligerweise hielten die Behörden am Evakuierungsverbot fest, das erst am 28. Januar, also dem Tag, als Benn aus Landsberg floh, und zwei Tage vor dem Einmarsch der russischen Armee, aufgehoben wurde. Gerade noch rechtzeitig! Am Vortag hatte Benn »Briefe verbrannt usw.«,57 denn natürlich war eine Rückkehr nach Landsberg ausgeschlossen.

 

Und dann kam im Osten das Ende. Wenn man am 27. 1. 45 beim Stadtkommandanten vorsprach und fragte, was machen wir denn mit unseren Sachen, die wir mühsam seinerzeit aus Berlin hierhergeschleppt hatten, wenn die Russen kommen, antwortete der Adjutant, ein SS.-Hauptmann: wer so fragt, wird an die Wand gestellt, die Russen kommen nicht durch, möglich, daß mal ein Spähpanzer in der Ferne sichtbar wird, aber die Stadt wird gehalten, und wer etwa seine Frau nach Berlin zurückschickt, wird ebenfalls erschossen. In der folgenden Nacht um 5 Uhr war dann Alarm, Artilleriebeschuß, und wir liefen mit einer Aktenmappe im Schneesturm bei 10 Grad Kälte zu Fuß nach Hause auf den vereisten Chausseen, verstopft von den endlosen Reihen der Trecks mit ihren Planwagen, aus denen die toten Kinder fielen. In Küstrin wurden wir in einen offenen Viehwagen verfrachtet, der uns die 60 Kilometer nach Berlin in 12 Stunden unter Fliegersalven zum Bahnhof Zoo brachte. So verlief das Ende des ganzen Ostens, Stadt für Stadt. In der Wohnung waren dann fremde Leute, die Stuben leer, wir deckten uns mit meinem Soldatenmantel und Zeitungspapier zu, um aufzuwachen, als die Sirenen heulten. So klang es aus – das Blockleben, Zimmer 66.58

 

Folgt man Benns Angaben im Kalender, stellt sich die Rückkehr nach Berlin folgendermaßen dar: Morgens um zehn wurde der Zug, Personenwaggons im Vorderteil und Güterwaggons hinten, aus Meseritz erwartet. Über Küstrin sollte es nach Berlin gehen. Die Abfahrt verzögerte sich jedoch bis zum frühen Nachmittag, ehe der Zug um 21 Uhr Küstrin verließ, um am frühen Morgen um vier den Bahnhof Zoo zu erreichen. Ob – wie Benn schreibt – in seiner Wohnung fremde Leute waren, darüber gibt der Kalender wenigstens keinen positiven Bescheid. Wahrscheinlich aber handelte es sich um Nachbarn. Was die etwa 15 000 in Landsberg Gebliebenen erwartete, davon berichtet eine Bekannte der Benns, Hedwig Deutschländer:

 

Es war am 30. Januar 1945. Abends sahen wir scharenweise SS-Leute in kleinen Personenwagen westwärts fahren, bestens mit Pelzen ausgerüstet. Was sie noch brauchten, holten sie sich aus den Geschäften und fuhren wortlos weiter. Fast auf dem Fuße folgten ihnen die ersten Russen. … Als sie nirgendwo Widerstand fanden, drangen etwa 20 bis 25 Mann in unsere Wohnung ein und verlangten, daß ich ihnen Essen koche. Am nächsten Morgen aber war es mit der Ruhe vorbei. Scharenweise zogen Russen durch die Wohnung, verlangten »Urri-Urri«, Schmuck, Geld und Waffen. … Die Frauen und Mädchen trugen alte Mäntel und Kopftücher – nicht nur der Kälte wegen: Nun begannen die Vergewaltigungen.59

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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