»Sein Gehirn ist ein Leuchtturm«2

 
 

Es war ein Samstag im April 1913, als Gottfried Benn die erste Nummer des Neuen Pathos in Händen hielt. Schon seit drei Wochen trug er sein Entlassungsschreiben aus der Armee mit sich herum. Finanziell gesehen schien die Zukunft zwar unsicherer geworden zu sein, aber er war frei. Vehement stürzte er sich ins literarische Leben. Er machte Besuche, sprach Einladungen aus und korrespondierte lebhaft mit Verlegern und Herausgebern wichtiger Zeitschriften – wenn nicht gerade »Kaninchen, Mäuse und Affen«3 nach ihm schrien. Im Neuen Pathos, das vor der Veröffentlichung seiner ersten Nummer stand, hatte er mit Der junge Hebbel eines seiner älteren Gedichte untergebracht. Es gefiel ihm so gut, dass er es zeit seines Lebens in Anthologien und Gesamtausgaben abgedruckt sehen wollte.4

 

Ihr schnitzt und bildet: den gelenken Meißel

in einer feinen weichen Hand.

Ich schlage mit der Stirn am Marmorblock

die Form heraus,

meine Hände schaffen ums Brot.5

 

 

Mit dem Programm der Zeitschrift, wie es Stefan Zweig formuliert hatte, konnte sich Benn jedoch nur bedingt identifizieren. Zweig forderte eine »Rückkehr zu dem ursprünglichen, innigen Kontakt zwischen dem Dichter und dem Hörer … Das neue Pathos muß den Willen nicht zu einer seelischen Vibration, zu einem feinen ästhetischen Wohlgefühl enthalten, sondern zu einer Tat.«6 Was er meinte, war der unbedingte Wille zu einem sich stets erneuernden Humanismus; dem Menschen sollte seine zentrale Stellung zurückgegeben werden, die er in dem auf schnellen Wandel hin angelegten Modernisierungsprozess zu verlieren drohte. Das konnte man natürlich so sehen. Aber als Begründung, um lyrische Prozesse in Gang zu setzen, war es Benn nicht genug: Das Leben als historisch-psychologisches Phänomen zu begreifen lehnte er entschieden ab. Der Mensch – so sah es Benn – stand nicht am Rand der Gesellschaft, sondern er stand gefährlich nah am Rand der Natur. Kein Wunder, dass Benns Favoriten des Heftes zwei Bilder waren: der gezeichnete Walt Whitman von Ludwig Meidner sowie eine Radierung Jakob Steinhardts mit dem Titel Der Prophet.7

Else Lasker-Schüler, die in dem Heft mit dem Gedicht An den Herzog von Vineta vertreten war, hat Benn nicht erwähnt. Überhaupt spricht einiges dafür, dass sie König Giselheer, den »Barbar« und »ungläubigen Ritter«,8 erst jetzt kennenlernte – im Frühjahr 1913. Mit Sicherheit begann in diesen Tagen eine Affäre zwischen den ungleichen Lyrikern, die die Phantasie der Leser ihrer Gedichte noch heute zu fesseln weiß – angeheizt vom Pathos der Dichterin, die in Benn die Kraft des Vorzivilisatorischen feierte.

»Ich hab mich doch wirklich wieder verliebt«, schrieb sie Franz Marc, »er hatte gestern Geburtstag.«9 Die Lasker-Schüler sprudelte geradezu vor Aktivität: Sie zeichnete ihn und schrieb einen Essay über den Pathologen, dessen Verse für sie Leopardenbisse waren. Der hielt unmittelbar darauf drohend-liebend dagegen:

 

Aber wisse:

Ich lebe Tiertage. …

Ich treibe Tierliebe.

In der ersten Nacht ist alles entschieden.

Man faßt mit den Zähnen, wonach man sich sehnt.10

 

 

Wie immer bei literarischen Dialogen lässt sich nicht genau sagen, wer wem antwortet, wer worauf reagiert; so auch nicht bei diesem Gedicht mit dem Titel Drohung. »Am Gedrucktwerden an sich liegt mir augenblicklich weniger als je«, schrieb Benn Paul Zech, als er ihm das Gedicht für sein Neues Pathos anbot. Leise Zweifel seien geäußert, wissen wir doch, dass dieses Gedicht aus Benns zweitem, im Oktober erscheinenden Lyrikband Söhne im Juni gleich zweimal gedruckt wurde.

Im Juli schickte Benn Kurt Wolff, der seit einem Vierteljahr den Leipziger Ernst Rowohlt Verlag unter seinem eigenen Namen führte, sein fertiges Söhne-Manuskript zu, doch er bekam »es mit 3 kühlen Zeilen, daß jedes Interesse für meine Person ihm fernläge, zurück«.11 Kurt Pinthus, zusammen mit Franz Werfel Lektor bei Wolff, entschuldigte sich dafür bei Else Lasker-Schüler, die so weit gegangen war, ihr eigenes literarisches Schicksal bei ihrem Verleger mit dem des »Herculesdichters«12 Benn zu verbinden:

 

Die Gedichte des Dr. Benn habe ich mit leidenschaftlicher Anteilnahme gelesen und sie Herrn Wolff so sehr empfohlen, dass es fast zu einem Zwist gekommen wäre, da Herr Wolff nicht wagte die Gedichte Benns anzunehmen. Mir war es sehr schmerzlich als ich hörte, dass das Manuskript an Dr. Benn zurückgesandt worden ist. Bitte sagen Sie das dem Dr. Benn und grüssen Sie ihn aufs Herzlichste von mir.13

 

Dann stellte sie den Kontakt zu dem Verleger Heinrich Bachmair her, den sie selbst gerade verlassen hatte und dem Benn für dessen in München erscheinende Zweimonatsschrift Die Neue Kunst den Gedichtzyklus Finish zur Verfügung stellte.

Man sah die beiden – sie mit buntfarbenen um den jungenhaften Leib gewickelten Schärpen und auffallend großen Ohrringen – bei Dichterlesungen gemeinsam in verräucherten Hinterzimmern sitzen, etwa im Vortragssaal Austria in der Potsdamer Straße 28, aber bereits die im August im Neuen Pathos gedruckten Drei Gesänge an Giselheer waren Abgesänge, denn Benns Liebe »ist schon verloschen in seinem Herzen, wie ein bengalisches Feuer, ein brennendes Rad – es fuhr mal eben über mich«.14

 

Liebe dich so!

Du mich auch?

Sag es doch – – –15

 

 

Bei der Verlagssuche hatte sie also nichts ausrichten können – Söhne erschien wie Benns Debüt Morgue bei A. R. Meyer, an dessen Stammtisch in einer Kutscherkneipe am Bayerischen Platz Benn bei Mollen, Eisbein, Kümmel und Korn weiterhin die Dichterkollegen traf. Am 2. September 1913 schrieb er an Paul Zech:

 

Gegen den Verlag läßt sich ja nichts sagen. Wo soll man auch hin? Und schließlich: Kunst ist eine Sache von 50 Leuten, davon noch 30 nicht normal sind. Was große Verlage verlegen, ist keine Kunst, sondern Arbeit von Leuten, die ihrer Mittelmäßigkeit schriftstellerisch gerecht werden. Nietzsche hat zeit seines Lebens seine Rechnungen nicht bezahlen können, van Gogh lebte von 28 Tassen Kaffe den Tag u. Heinrich Mann ist arm, soviel ich weiß. Kunst ist Irrsinn und gefährdet die Rasse. Was Allgemeingut wird, ist damit gerichtet.16

 

Die Spitze gegen den großen Kurt Wolff Verlag saß. Zwei Tage später gab Benn seine Gedichte bei Meyer ab: »Hier ist der Schund. Taugt nichts. Gibt eine Pleite.«17 Der traurigen Freundin ließ er einen Gruß über die Titelblatt-Zeichnung Ludwig Meidners drucken: »Ich grüße Else Lasker-Schüler: Ziellose Hand aus Spiel und Blut«.18 Was er ihr, der Zeichnerin, mit der Widmung sagen wollte, meinte vordergründig, dass er sich schlicht mit Meidners »zielloser Hand«-Zeichnung nicht anfreunden konnte: »Meidners Bild ist mir unklar. Was macht die Hand oben in den Wolken?«19 Aber vor allem war es ein Abschiedsgruß, der ihr klarmachen sollte, dass ihre Ziellosigkeit mit seiner Zielstrebigkeit nicht zusammengehen konnte, zitiert doch die Widmung ihre in Mein Herz gestellte Frage: »Was er wohl von meiner ziellosen Hand aus Blut und Spiel denkt?«20

Es gibt keine direkten Zeugnisse, die über eine Trennung von Else Lasker-Schüler berichten könnten. Am ehesten gibt noch der am 1. November 1913 in der Aktion veröffentlichte »Brief« an Franz Marc Aufschluss:

 

Seit ich Giselheer verlor, kann ich nicht mehr weinen und nicht mehr lachen. Er hat ein Loch in mein Herz gebohrt. … Den Doktor Benn rief ich, der meinte, das Loch in meinem Herzen könnte man mit einem einzigen Faden zunähen. … Ich vertraute ihm die Geschichte meiner Liebe an, zeigte ihm Giselheers Briefe und sagte ihm alles. Ich habe Vertrauen zum Doktor Benn; was er sagt, ist gesagt. Er behauptet, ich habe meine Welt in G. hineingelegt, denn der habe keine Ahnung von mir. … Hätte ich nur meine Geschenke wieder, … »Er« schenkte mir eine Enttäuschung. … Ich habe dem Doktor Benn ehrenwörtlich versprochen, nicht mehr an den armen König zu denken, der noch nicht einmal ein Herz besitzt zum Verschwenden.21

 

Aber vielleicht ist die Vorstellung einer Trennung der beiden, gar während eines Sommerurlaubs am Meeresstrand einer Ostseeinsel, weil er sich in eine andere verliebt hat, allzu sehr von konventionellen Erwartungen durchdrungen; so wie ihr Verhältnis war, bedurfte es wohl gar keiner Trennung.

Am 1. Juli 1914 tauchte Giselheer in den im Brenner unter dem Titel Der Malik erscheinenden Briefen an Franz Marc noch einmal auf. Er halte sich versteckt in der Stadt. Es ist gut möglich, dass Benn sich im Sommer zu einer Stippvisite in Berlin aufhielt. Nach seiner Rückkehr aus New York fuhr er von Hamburg nach Frankfurt am Main, machte Urlaub an der Bergstraße, hielt sich in München auf, um von dort nach Bischofsgrün »durch Süddeutschland dem Norden«22 zuzufahren. Ende Juli kehrte er nach München zurück, heiratete Hals über Kopf die Schauspielerin Edith Brosin und zog in den Krieg. Als Else Lasker-Schüler einen von Edith, der Dresdnerin, mit unterschriebenen Abschiedsbrief erhielt, war sie einigermaßen schockiert:

 

Verblüffend und ernüchternd wirkte auf den romantischen Jussuf die grüßende Unterschrift Edithas vom Sachsenlande. »Wohl anzunehmen, die Braut des Nibelungen.«23

 

Nachdem Benn aus dem Krieg nach Berlin zurückgekehrt war und er ihr sein Leid geklagt hatte, schrieb sie ihm aus Zürich: »Ich glaub wir sehen uns niemehr wieder, aber ich denke immer an Dich … Wie gerne kämpfte ich bis in den Tod für Dich.«24 Gelegentlich trafen sie sich dann doch noch: in Cafés, einmal beriet er sie in Geldfragen, als sie im März 1922, zu Beginn der Hyperinflation, 3000 Dollar erhielt und er empfahl, das Geld »wegen der Zinsen«25 auf der Bank liegen zu lassen.26

Nur wenige Jahre später, am 18. Dezember 1927, wurde ihr Sohn Paul auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beigesetzt. Als der blumenbestreute Sarg, von Rabbinern geleitet, bis zur geöffneten Gruft getragen wurde, ging die Mutter, von zwei Damen unter den Armen gestützt, mit rhythmischem Schritt auf den schneebedeckten Wegen dicht hinter dem über alles geliebten Sohn her. Später, unter Gebeten und Gesängen, sah Benn, der neben ihr am Grab stand, den ganzen Schmerz und die Qualen in ihrem Gesicht geschrieben, die der Jahre währende Kampf gegen Pauls Lungenkrankheit verursacht hatte, diese tückische Krankheit, an der ein Jahr später sein Freund Klabund und zwei weitere Jahre darauf sein Adoptivsohn Andreas sterben würden.

Die Bewunderung der beiden Dichter füreinander blieb ungebrochen. Er nannte sie in Briefen »verehrungsvoller Präsident« oder »großes lyrisches Genie«, und als ihr im November 1932 der Kleist-Preis verliehen wurde, telegrafierte er – selbst auf der Höhe der öffentlichen Anerkennung:

 

der kleistpreis so oft geschaendet sowohl durch die verleiher wie durch die praemierten wurde wieder geadelt durch die verleihung an sie27

 

Wenige Tage darauf trat die Lasker-Schüler zum letzten Mal vor deutschem Publikum auf. Im Schubert-Saal in der Bülowstraße am Nollendorfplatz las sie vor Freunden und Lesern aus ihrem lyrischen Werk und dem Arthur Aronymus-Drama. Gottfried Benn war mit einiger Sicherheit unter den Zuhörern. Wenige Monate später würde sie Deutschland verlassen und ins Schweizer Exil gehen müssen. Benn, die politische Entwicklung gänzlich falsch einschätzend, hatte ihr, die das Unheil geahnt hatte, ein Jahr zuvor geschrieben, es werde »bestimmt nicht so schlimm kommen, wie manche denken, seien Sie nicht unruhig«.

 

Aber wenn Sie je in kommenden Zeiten meiner bedürfen, so wissen Sie, daß ich Tag u Nacht zu Ihrer Verfügung stehe, auch meine Wohnung für Sie offen ist u. mein Essen u. Trinken Ihnen mit gehört. … Leben Sie wohl! Wieder liegt Schnee wie an jenem Tag draußen in Weißensee, morgen vor 4 Jahren. Grüßen Sie das Grab von Ihrem alten treuen Freund u. Genossen Benn28

 

Ein letztes Mal hörte sie in Zürich von Benn im Mai 1933 durch ihre Freundin, die Schauspielerin Maria Moissi. Diese hatte ihn angerufen, um ihn um Hilfe für die Freundin zu bitten. Zwar habe er sich »liebevoll nach Ihnen erkundigt« und versprochen, sofort jemanden bei einer »Loge oder Organisation«29 in Zürich anzurufen und Else zu schreiben. Doch von beidem ist nichts bekannt. Tilly Wedekind, die sie 1934 in Zürich besuchte, beschrieb er die Freundin als »sehr seltsam und genial, aber menschlich ganz fragwürdig u. romantisch. Dazu natürlich fanatisch antideutsch u. lügt wie alle so hysterischen Menschen.«30 Doch: »›Ihre Zeit wird noch kommen – aber erst viel, viel später.‹«31

Sie starb im Januar 1945 in Jerusalem. Sieben Jahre später gedachte er ihrer – in seiner ersten öffentlichen Rede nach dem Krieg überhaupt – im Berliner British Centre als der »größten Lyrikerin, die Deutschland je hatte«.

 

Ihre Themen waren vielfach jüdisch, ihre Phantasie orientalisch, aber ihre Sprache war deutsch, ein üppiges, prunkvolles, zartes Deutsch, eine Sprache reif und süß, in jeder Wendung dem Kern des Schöpferischen entsprossen. Immer unbeirrbar sie selbst, fanatisch sich selbst verschworen, feindlich alles Satten, Sicheren, Netten, vermochte sie in dieser Sprache ihre leidenschaftlichen Gefühle auszudrücken, ohne das Geheimnisvolle zu entschleiern und zu vergeben, das ihr Wesen war.32

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
titlepage.xhtml
Section0001.html
Section0002.html
Section0003.html
Section0004.html
Section0005.html
Section0006.html
Section0007.html
Section0008.html
Section0009.html
Section0010.html
Section0011.html
Section0012.html
Section0013.html
Section0014.html
Section0015.html
Section0016.html
Section0017.html
Section0018.html
Section0019.html
Section0020.html
Section0021.html
Section0022.html
Section0023.html
Section0024.html
Section0025.html
Section0026.html
Section0027.html
Section0028.html
Section0029.html
Section0030.html
Section0031.html
Section0032.html
Section0033.html
Section0034.html
Section0035.html
Section0036.html
Section0037.html
Section0038.html
Section0039.html
Section0040.html
Section0041.html
Section0042.html
Section0043.html
Section0044.html
Section0045.html
Section0046.html
Section0047.html
Section0048.html
Section0049.html
Section0050.html
Section0051.html
Section0052.html
Section0053.html
Section0054.html
Section0055.html
Section0056.html
Section0057.html
Section0058.html
Section0059.html
Section0060.html
Section0061.html
Section0062.html
Section0063.html
Section0064.html
Section0065.html
Section0066.html
Section0067.html
Section0068.html
Section0069.html
Section0070.html
Section0071.html
Section0072.html
Section0073.html
Section0074.html
Section0075.html
Section0076.html
Section0077.html
Section0078.html
Section0079.html
Section0080.html
Section0081.html
Section0082.html
Section0083.html
Section0084.html
Section0085.html
Section0086.html
Section0087.html
Section0088.html
Section0089.html
Section0090.html
Section0091.html
Section0092.html
Section0093.html
Section0094.html
Section0095.html
Section0096.html
Section0097.html
Section0098.html
Section0099.html
Section0100.html
Section0101.html
Section0102.html
Section0103.html
Section0104.html
Section0105.html
Section0106.html
Section0107.html
Section0108.html
Section0109.html