»… c’est un poète, un poète et un poète …«35

 
 

Die Praxis lief trotz Facharzttitel und Kassenzulassung immer schlechter. Auch nach dem Sommer war keine Besserung in Sicht, doch hatte sich mittlerweile wenigstens ein interessanter Patient vorgestellt, mit dem sich Benn anfreundete. Der in Hannover geborenen Kunsthistoriker, Kunsthändler und Galerist Franz M. Zatzenstein aus der Bellevuestraße, der sich manchmal auch Catzenstein oder Katzenstein schrieb, war seit 1920 mit Mara Matthiessen verheiratet und nahm auch ihren Namen an.

Oft luden der steinreiche Zatzenstein und seine Familie Freunde zu Reisen nach Frankreich ein, so auch Benn.36 Wenn es ums Verreisen ging, zeigte sich Benn gerne spontan, und da es in der Praxis sowieso nicht viel zu verdienen gab, entschloss er sich leichten Herzens, Zatzensteins Angebot anzunehmen. Noch im August fragte er bei Carl Werckshagen an: »gibt es in Montreux oder Umgebung kleine Pensionen, wo ich im September / Oktober billig wohnen kann? Wieviel kostet Pension pro Tag ungefähr? Kennen Sie am französischen Ufer Orte, wo man hingehen könnte? Welche?«37 Es scheint nicht ausgeschlossen, dass Benn also bereits im Herbst 1927 zu einer ersten »Geschäftsreise« mit dem Kunsthändler aufbrechen wollte, dem der am 23. September in der Literarischen Welt erscheinende Aufsatz Kunst und Staat persönlich gewidmet war. Oder er war wirklich den ganzen Sommer krank, wie er Ernestine Costa gegenüber behauptete: »Schwere Furunkulose, immer einer nach dem andern.«38 Ende November verschickte Benn Postkarten aus Paris. Möglicherweise waren jetzt den Worten Zatzensteins Taten gefolgt. Und es sollte nicht die letzte bleiben.

Ein Jahr später ließ Zatzenstein von seinem Chauffeur erneut seinen Horch-Wagen beladen und den Reisebegleiter, der seine Freundin in Wien untergebracht wusste, aus der Belle-Alliance-Straße zu einer zweiwöchigen Reise nach Südfrankreich abholen. Benn war hellauf begeistert und schickte am 2. Oktober auf der 2000 km langen Autofahrt von Berlin über Jeumont nach Perpignan »Un Bonjour d’Arles« an Carl Werckshagen: »vom Mittelmeer zum Atlantik, tiefer Sommer, Weinkarte, ohne Mantelu Hut im offenen Wagen.«39

 

… wir fuhren in seinem großen Horch von Berlin über Paris, Biarritz nach Spanien, aber vor allem in Südfrankreich herum und in den Pyrenäen. Es waren Geschäftsreisen. Wir gingen dann in den kleinen Orten in die entsprechenden Etablissements, auch in Schlösser und mit besonderer Vornehmheit in einige Klöster, und dann begann unsere Litanei: »Nous cherchons des antiquités surtout des Primitifs et des tableaux de grand valeur« – sah mein Bekannter dann etwas, was ihm gefiel, wovon er sich etwas versprach, und in seiner Karriere hatte er einige kostbare Trouvaillen gemacht, schlenderte er zunächst weiter durch die Räume, kritisierte dies und das, drehte dies und jenes hin und her, und schließlich, schon in der Tür, sagte er, ich habe Sie solange aufgehalten, ich will nicht ganz ohne etwas fortgehen, tun Sie mir bitte das in meinen Wagen – und wie gesagt, hin und wieder – er war ein großer Experte – stellten sich dann in Berlin die schönsten Seltenheiten heraus. Reisen, die ich mir selber nie hätte leisten können – unvergeßliche Tage am Atlantik, in den Monts Maudits und an der Méditerranée.40

 

Im Herbst 1929 brachen sie ein letztes Mal zu einer ähnlichen Reise auf. Die Route führte sie diesmal jedoch auf der Hinfahrt nicht über die Nord-Süd-Achse Frankreichs in die Hauptstadt der Pyrenäen, sondern südwestlich zur Atlantikküste.

 

… mehrere Wochen dauernd, zahlreiche tausend Kilometer fuhren wir auf den prachtvollen Routes nationales, glatt wie Billards, geteert, staublos, den besten Autostraßen des Kontinents, und nicht weniger auf den schwierigeren Nebenstraßen. … Wir wohnten in den großen Hotels, um die die Golfplätze liegen, und in den kleinen Provinzgasthöfen, wo um neun die Nacht beginnt. Wir waren am Typ unseres Wagens und an unserem Abzeichen jederzeit als Deutsche zu erkennen. Wir sprachen in allen Hotels und Restaurants, am Strand, in Bars, in Kaufläden ruhig deutsch, lasen deutsche Zeitungen, unser Chauffeur konnte kein Wort französisch, er verstand nicht mal die Ausdrücke für rechts und links. Wir machten auf diesen Reisen geschäftliche, ärztliche, persönliche Bekanntschaften, hatten in Orten zu tun, wo sicher seit dem Krieg kein Deutscher gewesen war, und zusammenfassend muß ich sagen, ich habe nirgends eine Animosität gegen uns als Deutsche bemerkt. Im Gegenteil, … Germaine hatte einen Vater, der Deutsch sprach, Lucy hatte eine Nacht in Trier verbracht.41

 

Noch auf der Hinreise, die diesmal über Longwy nach Hendaye führte, machten die beiden Geschäftsreisenden Halt in Paris. Benns Weg führte in den Boulevard St. Germain Nr. 169, wo sich die Redaktion der Avantgarde-Literaturzeitschrift Bifur befand. Es war Hochsommer, um den 20. August, als »ein würdiger, beleibter, kahlköpfiger Herr, die Augen hinter einer Brille mit Goldgestell verborgen, an der Tür« läutete. »Wir verstanden einander kaum, er sprach nur seine Muttersprache und ich alles Mögliche nur nicht Deutsch. … In Ermangelung eines Besseren schüttelten wir uns kräftig die Hand.«42

»Bifur« leitet sich von »Bifurkation« ab und bedeutet »Scheideweg«. Am Scheideweg wähnte sich auch Benn; er wollte die Ausfahrt Richtung Weltliteratur keinesfalls verpassen, und Bifur, wo Hemingway, Joyce und Kafka veröffentlichten, schien ihm als Ergänzung zu Jolas’ Zeitschrift transition ideal zu sein. Exakt zur selben Zeit begann Benn seine ständige Mitarbeit bei der Neuen Rundschau; und mit Gustav Kiepenheuer und seinem Lektor Edlef Köppen, den Benn aus der Berliner Funk-Stunde kannte,43 fand er nicht nur einen renommierten, das linke Bürgertum vertretenden Verleger für seine Gesammelte Prosa, sondern einen Verlag, der auch in Zukunft seine Bücher verlegen wollte.

 

Die wenigen Jahre, die einem noch bleiben, will ich nun wirklich anfangen zu arbeiten.44

 

Nachdem ihm durch den Sekretär von Bifur, Nino Frank, das Angebot übermittelt worden war, gegen regelmäßige Bezahlung als Berater für den deutschsprachigen Raum zu fungieren, schickte Benn zwei Wochen später ein Telegramm nach Paris und nahm das Angebot an. Nichts lag also näher, als bei nächster Gelegenheit die Redaktion zu besuchen.

Der Tod Lili Bredas und die Trauer darüber lagen zwar erst sechs Wochen zurück, doch Benn hatte sich bereits wieder verliebt und befand sich mittlerweile in einer neuen Beziehung:

 

Kummer ist etwas, das sich nur glückliche Leute leisten können, wir andern müssen einfach machen, daß wir leben u zurechtkommen. Auch Kummer ist etwas, das nur in wohlhabenden Kreisen seine urbanen und vornehmen Formen wahren kann, wir andern müssen ihn zerdrücken, dürfen ihn nur streifen in Gedankenu manchmal in trostlosen u. verzweifelten Gedanken u. müssen im übrigen ihn aufnehmen in das tägliche Dasein u ihn den Notwendigkeiten unserer irdischen Bindungen unterordnen.45

 

Benn war bis zur Abwicklung und Umwandlung der Zeitschrift in eine »marxistische Revue«,46 die sich Ende 1930 ankündigte, »rastlos für ›Bifur‹ tätig«,47 korrespondierte und telefonierte mit Rudolf Kayser, dem Redakteur der Neuen Rundschau, und seinem Mitarbeiter, dem Lektor bei S. Fischer Oskar Loerke, der zudem seit Anfang des Jahres 1928 Sekretär der Sektion für Dichtkunst in der Akademie der Künste geworden war. Er verhandelte mit Alfred Döblin – der ebenfalls Anfang 1928 Akademiemitglied geworden war, während Benn lediglich auf der Vorschlagsliste Georg Kaisers aufgetaucht war – über einen Teilabdruck von Berlin Alexanderplatz und mit Bert Brecht wegen seines »Radio-Hörspiels« Der Flug der Lindberghs: »Einen Aufsatz von [Albert] Einstein kann ich Ihnen leider nicht verschaffen. Ich habe mit Herrn Kayser [Einsteins Schwiegersohn] gesprochen, er meint, es sei aussichtslos, den grossen Mann darum zu bitten.«48

Je enger das Geflecht der Kontakte im Literaturbetrieb wurde, desto mehr wuchs das Selbstbewusstsein Benns.

 

Gestern Abend, per Zufall, traf ich Döblin u Frau im Café am Zoo. Begrüsste ihn u. wir verpassten uns ¾ Stunde lang eine fulminante Unterhaltung, über die ich Ihnen gelegentlich erzählen werde. … Ja, wir haben uns neulich gut verstanden u. Sie hatten so schönen Anzug an u. Schlips um u. sahen so vornehm u. gestillt aus.49

 

Benn wurde zwar im Januar 1928 wieder nicht in die Akademie der Künste, doch zumindest in die 1924 von Ludwig Fulda ins Leben gerufene deutsche Abteilung des »P.E.N. Club aufgenommen. Dolle Sache!«50 In diesen Tagen nahm er eine Abendeinladung Alfred Flechtheims an,51 »dem durch die Äonen strahlenden Gründer des ›Querschnitt‹«,52 und man sah ihn zusammen mit Theodor Däubler, dem derzeitigen Präsidenten der deutschen Sektion des Pen-Clubs, dem Theaterregisseur Erwin Piscator, dem Architekten Erich Mendelsohn und einem Schwergewichtsboxer namens Max Schmeling in Flechtheims Galerie am Lützowufer bei der Eröffnung einer Ausstellung von Bildern Fernand Légers.

Aber in noch einer Hinsicht begann sich Benn zu öffnen, seine Ansichten mitzuteilen und damit an der Art von Schriftstellerei teilzuhaben, die »seit der Aufklärung eine sichtbare Stellung in der Öffentlichkeit einnimmt«.53 Er veröffentlichte in Tageszeitungen, und seine Beiträge waren, was man von seinen künstlerischen Texten bislang nicht sagen konnte, durchaus verständlich. Am 22. Februar 1928 konnte man im 1. Beiblatt des 8 Uhr Abendblatts der Nationalzeitung den »Bericht eines Augenzeugen über die Hinrichtung der englischen Krankenschwester« Edith Cavell lesen, mit dem der »ehemalige Oberarzt am Gouvernement Brüssel« auf den englischen Stummfilm Dawn von Herbert Wilcox reagierte, in dem die seit der Erschießung von Edith Cavell sich haltende Legende, sie sei »durch einen Fangschuß am Boden getötet worden«,54 verbreitet wurde. Etwa gleichzeitig verfasste Benn eine Rezension der bei seinem Verlegerfreund Erich Reiss erschienenen Übersetzung des Romans von Victor Margueritte Ton corps est à toi, in der er mit allem Nachdruck auf die unmenschlichen Folgen der aus dem § 218 sich ergebenden Abtreibungspraxis hinwies.

Mit der Neuen Rundschau, »der immer noch bedeutendsten und anerkanntesten deutschen Monatsschrift, in der jeder Schriftsteller von uns den grössten Ehrgeiz hat, gedruckt zu werden«,55 stand Benn seit spätestens April 1928 in intensivem Kontakt: »Ich arbeite z. Z. viel«, schrieb er an Gertrud Zenzes. »Einen Aufsatz für die neue ›Neue Rundschau‹ etwa über das Thema: ›die Lage des Ich‹.«56

Im beginnenden Frühjahr 1928 hatte Benn mit Urgesicht eine Arbeit beendet, die ein Jahr später beinah zeitgleich in drei Sprachen – Yvan Goll übersetzte für Bifur (Elément premier) und Malcolm Cambell für transition (Primal Vision) in drei renommierten Literaturzeitschriften in Berlin und Paris erscheinen würde.

 

Eine Klarheit ohnegleichen kam über mich, als ich die Höhe des Lebens überschritten sah. … Eine Leichtigkeit fiel mir auf, die mich bewegte. … Fern und gelöst die Jahre der Jugend, die Züge des Stürmens, die Krankheit des großen Flugs.57

 

In Urgesicht macht sich metaphysischer Optimismus breit. Eine Last, die bis dahin auf Benn gelegen hatte, scheint genommen, ein Weg gefunden, die entscheidenden Fragestellungen mit den Antworten, wie sie nur die Kunst geben kann, ganz und gar in die Immanenz zu überführen, denn

 

nach Jahren des Kampfes um Erkenntnis und die letzten Dinge hatte ich begriffen, daß es diese letzten Dinge wohl nicht gibt. … Die Unität des Lebens, so bildete sich in mir die Idee, war es, die ich hier gegen einen Angriff zu verteidigen sah. … Ich gedachte der sonderbaren Sätze, daß man es aufgeben solle, nach jenen letzten Worten zu suchen, deren Schall, wenn sie nur ausgesprochen würden, Himmel und Erde ins Wanken brächten. … Das Leben war ein tödliches Gesetz und ein unbekanntes; der Mann, heute wie einst, vermochte nicht mehr, als das Seine ohne Tränen hinzunehmen. … Das Leben wollte sich erhalten, aber das Leben wollte auch untergehn –.58

 

Offensichtlich war es Benn gelungen, mit Urgesicht seine eigene schriftstellerische Vergangenheit hinter sich zu lassen. Erleichtert konstatierte er, dass »der Kosmos als Ganzes im Niedergang begriffen sei«.59 Um nichts weniger ging es. So lautete die Diagnose. Daran gab es nichts zu rütteln. So war die Lage, und sie verlangte nach Ausdruck – künstlerischem Ausdruck, den Benn in den kommenden Jahren in die literarische Gattung der Essayistik verlegen wird.

 

Weihnachten 1928 heiratete Benns Bruder Ernst-Viktor, der Konsistorialrat der Kirchenprovinz Ostpreußen geworden war: »Ich muss nach Königsberg i Pr., meinen jüngsten Bruder verheiraten – kalt u. überflüssig!«60 Mit großer Wahrscheinlichkeit war der große Bruder Trauzeuge, denn er revanchierte sich zehn Jahre später, als er Ernst-Viktor – der mittlerweile Oberkirchenrat in der Kirchenkanzlei der Deutschen Evangelischen Kirche in Berlin war und nach drei Jahren Mitgliedschaft in der NSDAP wieder ausgetreten war – zu seinem Trauzeugen bei der Eheschließung mit Herta von Wedemeyer machte.

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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