die gingen wir oft entlang
als wir noch Mädel und Buben –
und die Schwalbe sang …41
»Von außen gesehen, verlief mein Leben nicht ohne Glück. Ich kam auf ein humanistisches Gymnasium«42 – der Umkehrschluss, dass es von innen gesehen bis dahin nicht ganz ohne Unglück verlaufen war, darf ruhig gezogen werden.
Lebe wohl den frühen Tagen,
die mit Sommer, stillem Land
angefüllt und glücklich lagen
in des Kindes Träumerhand.43
Am 29. September 1897, mit dem Ende der Sommerferien, wird Gottfried Benn von beidem – vom Glück und vom Unglück – etwas gespürt haben. Vor ihm lagen in der Gubener Straße in Frankfurt an der Oder sechs Jahre bis zum Abitur. Danach sollte er in eine Welt entlassen werden, die erst in Umrissen erkennbar war und ihre eigentlichen Gründerjahre unmittelbar vor sich hatte. Es sind die Jahre des Entstehens eines modernen Verlagswesens; die damals gegründeten »Kulturverlage«, sei es von Samuel Fischer (1886), Eugen Diederichs (1886), Albert Langen (1893) oder den Cousins Paul und Bruno Cassirer (1898), sind zum Teil heute noch auf dem deutschen Buchmarkt präsent. Aber zurück zu dem Donnerstag im September 1897, als die primären Tage des begabten Pastorensohnes aus einem roten Backsteinhaus mit blauen Fensterläden in der neumärkischen Provinz zu Ende gingen, wo »es keinen Chopin [gab], es war völlig amusisch, mein Vater hat nie in seinem Leben ein Buch gelesen«.44 Sechzig Kilometer von zu Hause entfernt, in der 60 000 Einwohner zählenden Garnisons-, Handels- und Bezirkshauptstadt, betrat er einen mächtigeren roten Backsteinkasten: den Neubau des Königlichen Friedrichs-Gymnasiums.
Neben einem Eintrittsgeld kostete die Schule im Jahr 480 Mark Schulgeld. Benn scheint aber – so legt das etwa zwanzig Jahre später entstandene Gedicht Pastorensohn nah – Stipendiat gewesen zu sein: »Herr Schneider Kunz vom Kirchenrate / gewährt dir eine Freiportion.«45
Dem Anlass der Einschulung angemessen, ließ man ein Foto von Gottfried im Halbprofil machen, auf dem das Kind mit dem frisch geschorenen Kopf den Ernst seiner Lage ganz zweifelsfrei erkennt.46
Nur wenige Schritte von der Schule entfernt, in der zweiten Etage der Gubener Straße 31a, befand sich die Schülerpension der Rechtsanwaltswitwe Agnes Leonhard. Hier war Gottfried zusammen mit seinem immerhin vier Jahre älteren Freund Heinrich von Finckenstein, genannt Hein, der diesen Sommer bereits sein drittes Halbjahr hinter sich gebracht hatte, in einer »engen Bude«47 untergebracht.
Gottfried vertiefte im Religionsunterricht seine Kenntnisse in Bibelkunde und Kirchengeschichte, wurde im Latein- und Griechischunterricht mit Platons Protagoras, Tacitus’ Germania und den Oden des Horaz bekannt und begann mit seinem Mathematiklehrer Professor Philipp Ludwig, genannt »Louis«, auf Wandertagen und Sonnabendtouren an den zum Oderufer hinführenden Pontischen Hängen die Gegend um Lebus zu erkunden. »Ich kenne die Gegend ja gut. Von Frankfurt a O. machten wir öfter Touren«,48 wird er viel später an Gertrud Cassel schreiben. Zu Hause in Sellin überstürzten sich indes die Ereignisse. Seine Mutter war zum siebten Mal schwanger, und wenige Wochen vor der Geburt des letzten Sohnes Ernst-Viktor starb sein nur drei Jahre alt gewordener Bruder Hans-Georg an tuberkulöser Hirnhautentzündung.
Weihnachten, Ostern und die großen Ferien verbrachte der Gymnasiast regelmäßig in Sellin. Über diese Ferienaufenthalte ist jedoch kaum etwas bekannt. Eines Sonntagnachmittags soll der Vater einen Apfel auf den Tisch gelegt und seine Kinder gebeten haben, ad hoc ein kleines Gedicht über den Apfel zu verfassen. Alle schwitzten. Gottfried, ungefähr sechzehn, wartete bis zuletzt und trug vor:
Warum soll ich über dieses Thema
schlechte Verse reißen.
Über Rosen kann man dichten,
in die Äpfel soll man beißen.49
Natürlich war das nicht das einzige Mal, dass die Benn-Kinder gedichtet haben. Einmal schrieb er aus Frankfurt seiner älteren Schwester Ruth, der »fürstlichen Dichterin«, nach Göppingen ins Internat: »Hätt’ ich gewußt, daß du so schön kannst dichten, / ich hätte es zu thuen nicht gewagt.«50 Vom späteren Lebensweg der hübschen Schwester, die wir von wenigen Fotos mit langem braunem, hochgestecktem Haar kennen, ist so viel bekannt, dass sie, bis zur Heirat mit dem Oberfinanzdirektor Paul Rühe, in Hamburg Lehrerin war, danach in Breslau, Berlin, Münster und wieder in Hamburg lebte, wo sie am 23. Juli 1952 »an Hirnblutungen (wie Tante Ellen [Overgaard)]«51 starb.
Das größte Erlebnis in jenen Jahren war zweifellos die Silvesternacht der Jahrhundertwende. Das Jahrhundert der Erfindungen ging zu Ende, sein bedeutendster Mann – so das nostalgisch gefärbte Urteil der Leser der Berliner Illustrierten Zeitung –, Otto von Bismarck, »Baumeister des Reichs«, war vor zwei Jahren gestorben. Im fast zwei Millionen Einwohner zählenden Berlin beging man im Gegensatz zu den eher nüchternen offiziellen Feiern die ausgelassenste und zügelloseste Silvesternacht seit Menschengedenken. Abertausende standen vor dem Rathaus und verfolgten, wie die Stadtkapelle das neue Jahrhundert mit Fanfarenklängen begrüßte. Als es so weit war, brach aus der Menschenmasse zwischen Brandenburger Tor und Rathaus ein donnerndes »Prosit Neujahr« heraus. Sehr viel ruhiger, dennoch aber unvergesslich, wurde das Jahrhundertereignis bei den Benns in Sellin gefeiert.
Alles wachte, alles feierte, die Kirchenglocken läuteten um Mitternacht, man erwartete irgendetwas ganz besonderes, eine Art Anbruch des Paradieses innen und außen. Mein Vater trat aus seinem Pfarrhaus und umarmte den Dorfschulzen, einen großen reichen Bauern, alles umarmte sich, es war eine schnee- und regenlose Nacht, es war ein großes Ereignis.52
Der Tag hatte nicht gerade glücklich begonnen. Gottfried waren bereits einige seiner Ferientage durch Zahnschmerzen verleidet, und obwohl Sonntag war, musste der Zahn noch am Silvestertag gezogen werden. »Sechsmal zog er!« Am Abend durfte er »aufbleiben« und bestieg mit seinem Vater und Onkel Eugen aus Bad Boll um Mitternacht den Kirchturm, »wo geläutet wurde und läuteten auch mit. Um 1 gingen wir dann zu Bett.«53
Einen ebenso großen Eindruck scheint das vorausgegangene Weihnachtfest gemacht zu haben. Im »Silvester«-Brief an die Schwester listete Gottfried detailliert seine Geschenke auf – darunter Wilhelm Hauffs romantische Sage Lichtenstein, Hanns von Zobeltitz’ Dreissig Lebensbilder deutscher Männer aus neuerer Zeit, Oskar Schwebels Historienschinken Hans Jürgen von der Linde und von Onkel Paul Brodersen, dem Neffen Christoph Blumhardts, (wahrscheinlich) Eugen von Enzbergs Biographie Fridtjof Nansen. Nicht nur, dass der Tertianer mit Freude »dichtete«: er war eine Leseratte. Vier Wochen später wird er in Felix Dahns achthundert Seiten starke Ostgotensaga Ein Kampf um Rom versunken sein.