Ahnen und Gegenwart

 
 

Als Käthe von Porada im Dezember wieder nach Berlin kam und Gottfried Benn vergeblich versuchte an das vergangene Sommererlebnis anzuknüpfen, waren seine Verteidigungskämpfe bereits in vollem Gange: Benn fühlte sich durch den Aufsatz seines Akademiekollegen Börries Freiherr von Münchhausen mit dem Titel »Die neue Dichtung«, erschienen im Deutschen Almanach für das Jahr 1934, persönlich verunglimpft, verleumdet und objektiv beleidigt. Münchhausen hatte in seinem Kampf um die »geistige Führung«63 in Deutschland dem Expressionismus die »neue Dichtung« gegenübergestellt; die Expressionisten, zu denen er Benn ausdrücklich zählte, charakterisierte er als alles Deutsche niedertretende »Deserteure, Zuchthäusler und Verbrecher«.64 Falls Münchhausen, der Balladen-Dichter, dem »die Ballade ans Herz gewachsen von Kind auf, Anfang und Ende der lyrischen Kunst«65 war, seine Behauptungen nicht zurücknehme, so Benn in einem Brief vom 15. Oktober 1933, werde er sich »gezwungen sehen, die folgenreichsten Schritte gegen Sie zu tun«:66 Duell, einstweilige Verfügung gegen den Verlag, Beleidigungsklage, publizistische Offensive sowie Betreiben von Münchhausens Ausschluss aus der Akademie. Die noch am selben Tag geschriebene Antwort war perfide genug, auf keinen der angesprochenen Punkte näher einzugehen und dennoch das literarische Urteil vollständig aufrechtzuerhalten: »Ich kenne Sie als Menschen durch das Medium zweier gemeinsamer Freunde: Ina Seidel und Hans Friedrich Blunck. Deren Urteil gibt mir mehr als mein Urteil über Ihr Werk, das mich natürlich abstoßen mußte …«67

Benn konnte gar nicht umhin, sich mit der neuen Spitze der »Dichterakademie«, Johst, Blunck und Beumelburg, zu arrangieren, wenn er seine Einflussmöglichkeiten, weniger im Sinne des literaturpolitischen Tagesgeschäfts, sondern eigener persönlicher Belange, nicht völlig verlieren wollte. Zwar hatte Benn den Angriff Münchhausens unbeschadet überstanden, doch nahm er ihn zum Anlass, eine Verteidigungsschrift auszuarbeiten: für seine literarische Vergangenheit und die der expressionistischen Generation, der Vertreter der »letzten Kunst Europas«,68 »auf deren Schultern und in deren Hirnen ungeheure existenzielle Lasten lagen, die Lasten der letzten Generation einer in großem Umfang untergangsgeweihten Welt«.69 »Der Aufsatz erregt hier das allergrösste Aufsehn«,70 schrieb Benn an Käthe von Porada; möglicherweise meinte er Hans Friedrich Blunck, der in einem Dankesschreiben darauf hinwies, dass auch er versuche, »wie auch Sie es tun, vor Einseitigkeit zu warnen und wiederhole Ihr Wort, dass Hölderlin in manchen Dingen Expressionist war, in anderen der formvollendete Klassiker«.71

Am 8. Januar 1934 wurde mit der »Union nationaler Schriftsteller« die Nachfolgeorganisation der deutschen Abteilung des PEN-Clubs gegründet. Der Briefwechsel mit Blunck macht deutlich, dass es bei der Gründung dieser Organisation reichlich »undemokratisch« zugegangen sein muss: Benn beschwerte sich, ihn hätte ein Schreiben erreicht, in dem seine Bereitschaft, in den Vorstand der Union einzutreten, erklärt sei und das einen Aufruf unter anderem mit seiner Unterschrift enthalten habe. Abgesehen davon, dass Benn behauptete, er sei gar nicht im PEN-Club, was nicht stimmte, hielt er die Gründung für unsinnig und den Aufruf für kläglich:

 

Sie müssen kraft Ihrer Machtstellung solche Sachen einfach verbieten. Ich komme gerade aus dem Ausland (Kopenhagen), wo meine Tochter seit 8 Jahren lebt, sprach viele Ausländer, lese alle neuen Emigrantenzeitungen u. Zeitschriften … Dr. Elster schrieb mir heute, ich solle Vizepräsident in der Union nationaler Schriftsteller werden, Johst Präsident … Bitte Herr Blunck, errichten Sie ein Direktorium, das alle diese literarischen Dinge bearbeiten und genehmigen muss … und gründen Sie eine Auslandsabteilung, das halte ich für sehr wichtig. Sonst bildet sich ein Deutschland ausserhalb Deutschlands, die Gefahr ist da!72

 

Benns mahnende Worte wurden nur insofern gehört, als der Aufruf von Rudolf Binding durch den von Hanns Johst und Gottfried Benn unterzeichneten Aufruf An die Schriftsteller aller Länder!73 ersetzt wurde. Im Gegensatz zum PEN-Club könnten alle Schriftsteller aufgenommen werden, die sich zu ihrem Volkstum und zur Gleichberechtigung der Völker untereinander bekennen. Selbstverständlich stehe eine solche Union völlig auf dem Boden des neuen Deutschlands.74

Zum Glück für Benn blieb die Union bis auf wenige Aktivitäten, »zu dem Zweck, Auslandsschriftsteller hier zu empfangen (es kamen jedoch kaum welche)«,75 zu denen das Bankett für Marinetti gehörte, bedeutungslos. Anlässlich einer Futuristenausstellung am Lützowufer begrüßte Vizepräsident Gottfried Benn seine Exzellenz Marinetti im Festsaal der Deutschen Presse mit einer Rede.

 

Marinetti, der etwas verwöhnt war u auf ganz andere Feiern z B in Paris zurückblicken konnte, schien mir nicht entzückt, von einem nicht offiziellen, bei den Führerstellen nicht akkreditierten Mann, wie ich es war, angeredet zu werden. Erst liess er uns 1 Stunde warten u dann antwortete er mit einer Rede, die er wohl schon öfter gehalten hatte u die ich nicht verstand. Das Einzige, worauf er mich ansprach, war das Thema Th u H Mann, warum sie bei der neuen Regierung missliebig seien. Offenbar hatte er Auftrag, sich hierüber zu orientieren.76

 

Benns Haltung zu all den kunstpolitischen Vorgängen, die sich auf der Ebene von Akademie, Union, Verband und Kammer bewegten, lässt sich am besten vor der Tatsache bewerten, dass er einen Künstler-Stammtisch gründete, »der Zweck ist: Gedankenaustausch«.

 

Lieber Herr Hindemith,

alles drängt dazu, die Zeit unter Stammtischgesichtspunkten anzusehen u. ein solcher soll gebildet werden. Sie werden gebeten, daran teilzunehmen. Am nächsten Dienstag 8 ½ im Pschorr (Tauentzienstraße) sollen die Stammtischnummer 1–6 ausgegeben werdenu zwar an folgende Mitglieder: Sie, Poelzig, Maler Hofer, Bildhauer Belling, Renée Sintenis und mich. Dieser Stammtisch soll die letzte Elite Deutschlands sein.77

 

In seiner Eigenschaft als Stellvertreter Johsts wurde Benn vom Freiherrn von Münchhausen am 12. März 1934 ein weiteres Mal denunziert: In einem Brief an den Schriftführer Edgar von Schmidt-Pauli lehnte es Münchhausen ab, Mitglied der Union zu werden, da der zur Zeit an deren Spitze stehende Benn, der den im Ausland weilenden Hanns Johst vertrat, »reinblütiger Jude« sei. Schon im Januar hatte Benn an Tilly Wedekind geschrieben:

 

Es kommen wieder Postsachen mit: »Sie Schweinehund«, »Judenjunge«, »Filzlaus« u. s. w. u. zwar natürlich von Juden u. Linksleuten, natürlich anonym. Wo ich doch 500. % arisch bin …78

 

Diesmal kam der Angriff auch für ihn eindeutig von rechts, von einem Adligen und überhaupt nicht anonym. Schmidt-Pauli informierte Benn sofort, der sich – eingetreten in das Zeitalter der »genealogischen Verdächte«79 – nun gezwungen sah, seine »arische Herkunft« zu beweisen.

 

Ich will zunächst davon ausgehen, dass Sie tatsächlich des Glaubens waren, dem Sie Ausdruck verleihen, und gebe Ihnen einige richtigstellende Daten: Ich bin absolut arisch, kein Tropfen nichtarischen Blutes ist in mir. Ich stamme aus einer alten norddeutschen Theologenfamilie, aus der in den letzten hundert Jahren zahlreiche evangelische Pfarrer hervorgegangen sind. Mein Vater war Pfarrer, mein Grossvater ebenso. Einer meiner Brüder ist Pfarrer an der Marienkirche in Prenzlau, ein anderer Konsistorialrat, Dr. jur. hier am Oberkirchenrat und Adjutant vom Reichsbischof Müller. Ein dritter Bruder von mir, ehemaliger Offizier, ist von der Republik als »Fememörder« zum Tode verurteilt worden und hat mehrere Jahre für das neue Deutschland im Zuchthaus gesessen. Mich als Juden zu bezeichnen, erscheint mir so paradox, dass ich mir jedes weitere Detail erspare. Ich will nur noch hinzufügen, dass auch meine verstorbene Frau rein arisch war. Ich teile Ihnen nur das Faktum mit, dass ich in meinem Beruf Mitglied des »Bundes deutscher Ärzte« bin, eines Bundes, der sich nach dem strengsten Rassenprinzip aufbaut und dessen Mitglieder in bezug auf ihre Rassenreinheit vom Deutschen Rasseamt aufs genaueste kontrolliert sind, da sie den eugenischen Gedanken führend in die Volksgemeinschaft vortragen sollen. …

Dies sind die Tatbestände, und was sich daraus für mich ergibt, ist folgendes: Es liegt mir nichts daran, von Ihnen zu hören, dass Sie sich geirrt und nun überzeugt hätten, dass ich arisch sei. Auch dass Sie etwa die von Ihnen erwähnten Anderen aufklärten, mit denen Sie sich unterhalten haben, und die, wie Sie schreiben, Ihre Auffassung teilten, ist nicht der Zweck meines Briefes. Auch irgend welche Betrachtungen über Antisemitismus stehen ausserhalb der Diskussion. Ich greife vielmehr nun auf die Angelegenheit im Herbst vorigen Jahres zurück und sehe mich vor der Tatsache, dass Sie mich jetzt zum zweiten Male, ohne im geringsten von mir provoziert zu sein, aufs schwerste beleidigt haben. Ich muss daher nunmehr an Sie die nachdrücklichste Bitte richten, das Grundsätzliche Ihrer Beziehungen zu mir einer erneuten Prüfung zu unterziehen. Ich spreche nicht von den sachlichen Gegensätzen, von künstlerischen und weltanschaulichen Gegensätzen, sondern ich spreche davon, dass Sie jetzt zum zweiten Male einen Angriff gegen meine Person gerichtet haben, der umso eindrucksvoller ist, als er hinter meinem Rücken geschah, und es von Ihnen bestimmt nicht beabsichtigt war, dass ich davon erführe. Ich muss daher nunmehr an Sie die Frage richten, ob Sie mir eine Erklärung abgeben wollen, dass Sie in der Zukunft keine Verdächtigungen und Verunglimpfungen meiner Person mehr aussprechen wollen, und zwar sowohl nach der öffentlichen wie nach der privaten Seite hin. Ich muss Sie jetzt bitten, sich dahin auszusprechen, dass Sie von nun an in keiner Form mehr und zu niemandem Äusserungen tun werden, die irgend einen Zweifel an der moralischen, nationalen und gesellschaftlichen Integrität meiner Person enthalten. Diese Erklärung von Ihnen würde dann bindend sein und eine übernommene Verpflichtung bedeuten. Wenn Sie mir diese Erklärung abgeben, werde ich dann meinerseits bereit sein, die ganze Zeit vom Erscheinen Ihres Aufsatzes im Herbst 1933 bis zu dem in diesem Schreiben diskutierten Vorfall als erledigt und gestrichen und in aufrichtigem Sinne für immer als vergessen anzusehen.80

 

Diesmal nahm Münchhausen, wenn auch widerwillig, seine Bemerkung zurück. Immer wieder betonte Benn, dass er darauf beharren musste, da er seine Arztpraxis und damit seine Existenz in Gefahr sah. Die Bemühungen, die Benn zur Erforschungen seiner Herkunft aufbrachte, waren immens: Auf der Stelle schrieb er seinem Vater, der sich in den Kirchenbüchern nach seinen Vorfahren in der Prignitz erkundigen solle. Auf der Weinkarte des Weinhauses Kempinski fand er einen Dürkheimer Benn; er schrieb an das Weinhaus, dann an die Deutsche Wein-Zeitung und schließlich an den Bürgermeister von Dürkheim, um zu erfahren, dass »Benn« eine Höhenlage bezeichne. Er ging in die Staatsbibliothek, um herauszufinden, dass es in England drei lebende publizierende »Benns« gab, und bat oelze zu recherchieren, ob es sich um Juden oder Arier handle. Er fragte den in Berlin lehrenden Orientalisten Hans Heinrich Schaeder, der ihm bestätigte, dass es auf der Welt keine Juden gebe, die Benn hießen.

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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