»Alter macht wehrlos«3
Im Sommer 1953 hatte Oskar Jancke, Sekretär der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, in seiner Funktion als Leiter der Abteilung Wissenschaft und Literatur des Süddeutschen Rundfunks angefragt, ob Benn gegen ein Honorar von 600 Mark im Rahmen einer Sonntagsmatinée einen Vortrag halten wolle. Ein knappes Vierteljahr später schlug der Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Emil Preetorius, seinen Akademiekollegen vor, Benn nach München einzuladen, und da Benn bereits eine Weile mit dem Gedanken gespielt hatte, eine historisch-dokumentarische und teils persönliche Arbeit über »Das Altwerden als Problem für Künstler« zu schreiben,4 sagte er beiden zu und machte sich an die Arbeit, wie immer mit »wenig Kaffee zur Bekämpfung körperlicher Müdigkeit, 15 Cigaretten, abends etwas Alkohol. Musik, mittlere u. schlechte, anregend. Viel Lesen!«5 Mitte Dezember war die Arbeit beendet. Alle, die sie lasen, zeigten sich begeistert, und noch bevor der Vortrag gehalten war, war der Abdruck im Merkur und im direkten Anschluss als Einzelpublikation bei seinem Wiesbadener Verlag beschlossene Sache.
Seine Stimme ertönte unwillig aus den Saallautsprechern, als er am 7. März 1954 seinen einstündigen Vortrag Vom Altern des schöpferischen Menschen vor rund 300 Zuhörern im Sendesaal der Villa Berg in Stuttgart begann. Bereits zu Anfang ließ »der Lyriker und Essayist, der Bürger und Soldat, der Einsiedler vom Lande und homme du monde in den Citys der Welt« keinen Zweifel, dass er im »Verhältnis von frühen und späten Werken«, in »der Kontinuität des produktiven Ich«, in »seinen Wandlungen und seinen Brüchen«6 das zentrale Problem seiner eigenen künstlerischen Existenz sah.
Seine These lautete: Die einen Künstler würden während ihrer letzten Schaffenszeit unsicher, die anderen erlangten erst im Alter Gewissheit, dann aber sei es zu spät. Benn reihte sich in die Riege der »Unsicheren« ein: Als wenige Wochen später zwanzig Exemplare des Limes-Drucks bei ihm eintrafen, schrieb er: »Dass alle die grossen soziologischen Gruppen sich damit halten, dass die Dinge anders liegen, als ich sie darstelle, ist ja klar u in letzter Zeit denke ich sehr darüber nach, ob sie nicht Recht haben.«7
Woher rührte Benns Unsicherheit? Vielleicht hat ihn das neue öffentliche Interesse an seiner Person mürbe gemacht; er fühlte sich dem Publikum förmlich ausgesetzt. Er lamentierte über seine Kritiker, die ihn einmal klassischer schreiben sehen wollten und ein andermal dazu aufforderten, ganz zu schweigen. Er lamentierte über die Flut der Bücher, die über ihn erschienen waren, er fühlte sich beobachtet und durchleuchtet. Und missverstanden. Aus dem Text spricht eine erhebliche Übellaunigkeit. Vor allem aber hatte er seit mehr als einem Jahr kein Gedicht mehr geschrieben, und es war ihm wichtig, seiner »Ausdruckskrise« auf den Grund zu gehen. Diesen Grund sah er in seinem Alter, und er kam auf Michelangelos Pietà zu sprechen:
Hier also, scheint man annehmen zu müssen, liegt ein Fall davon vor, daß ein großer Mann seine bisher geübte Methode und Technik, seiner Inhalte Herr zu werden, nicht mehr weiter verwenden konnte, vermutlich weil sie ihm selber überlebt und konventionell geworden vorkamen, daß er aber für seine neuen Inhalte keine neuen Ausdrucksmittel mehr besaß und nun abbrach und die Hände sinken ließ.8
Die Altersproblematik ließ ihn in diesen Tagen nicht los; einen Vortrag Paul Hindemiths über Bach zitierend, fügte er einem Festartikel für Emil Preetorius hinzu:
Also mit allem, was diese Großen geschaffen haben, schließen sie sich gleichzeitig von diesem Allem aus, da sie es nun nicht mehr schaffen können, sie schufen für andere das Vollkommene und bleiben selber zurück in Melancholie und Trauer, »in auswegloser Situation«.9
Benn war ausgebrannt. Deutlich zeichnete sich der Beginn einer Depression ab. »Müdigkeit und Alleinsein«;10 »reizbar und verschlossen«;11 »gewisse Themen«, die ihn bewegten: der Reiz der Begierde, der Reiz der Frauen – »ob nicht alles verkehrt war, was ich in meinem – zu langen – schriftstellerischen Leben geschrieben u. getrieben habe«:12 das war deutlich. Die Krise schlug sich auch psychosomatisch nieder: Benn hatte in diesen Tagen Magenprobleme, die er im Kalender als »Stein«- und »Starrbauch«13 bezeichnete.
Zudem zwang ihn eine horrende Steuerforderung, den Sommerurlaub zu streichen. Abgesehen von Veranstaltungen mit André Gide, George Grosz und Golo Mann gönnte er sich einige Kino- und Theaterbesuche: Verdammt in alle Ewigkeit, einen Musikfilm mit Johannes Heesters (Hab ich nur deine Liebe) und im Theater Thomas Wolfes Herrenhaus und Hofmannsthals Der Schwierige. Nichts davon gefiel ihm: zu wenig »Phase II«.
Theater: sie sprechen die Sätze immer noch aus dem Innern ihres Wesens, aber erst hinter den Sätzen liegt doch das Abgründige, Hintergründige, man kann Sätze (zumal in historischen, kostümierten Stücken) doch nur noch parlando geben, arienhaft, wedelartig, nicht, als ob sie Inhalt hätten. Handlungen beginnen u enden ganz woanders –14
Es gab also doch noch etwas zu tun; und so ging mit seiner Unsicherheit, seinem Ausgebranntsein eine neue Risikobereitschaft einher. Benn brachte dies mit einem Shaw-Zitat zum Ausdruck: »Alte Männer sind gefährlich, ihnen ist die Zukunft gänzlich gleich«,15 und zwar sowohl im privaten wie im dichterischen Leben. Er setzte seine Ehe aufs Spiel, um sich für etwas Neues zu öffnen, er strapazierte die Freundschaft zu Oelze, den er in Sachen Lyrik kaltstellte – »das Thema Gedicht hatte ich eigentlich zwischen uns aus dem Verkehr gezogen, da wir beide geteilte Ansichten u. Empfindungen zu diesem Thema haben«16 –, und er riskierte seinen Ruf als Lyriker, indem er völlig neue Akzente setzte, die heute mit dem Etikett »Öffnung zu einem neuen Realismus« bezeichnet werden. Wieder stand er mit dem Rücken zur Wand, wieder tat er alles dazu, die Lage zu verschlimmern, wieder erwuchs aus dieser Lage eine Phase höchster Kreativität.