28

Bilal weinte nicht; ihm kamen keine Tränen. Wenn tief in seinem Inneren nicht ein glühender Schmerz getobt hätte, hätte er gemeint, in dem Moment, in dem Salim von dem Speer durchbohrt worden war, zu Stein erstarrt zu sein. Nur von dem Gedanken beherrscht, um jeden Preis in Bewegung zu bleiben, trug er Salim allein zum Lager zurück, legte ihn in ihr Zelt und holte Wasser, um ihn zu waschen. Auch das ghuzul vollzog er alleine; er hob Salim in die hölzerne Wanne, wusch ihn dreimal, trocknete ihn ab und hüllte ihn in ein  kafan aus weißem Leinen. Während der gesamten Zeremonie sprach er kein Wort und schickte alle, die ihm helfen wollten - von den Dienern bis hin zum Sultan selbst - mit unwilligen Gesten fort.

Nur Khalidah duldete er in seiner Nähe. Sie saß vor dem Zelt, während er drinnen das ghuzul durchführte, denn es war ihr verboten, es zu betreten, während ein Mann für die Beerdigung hergerichtet wurde. Doch als Salims Brüder kamen, um ihn zu der Stelle zu bringen, wo er später am Tag begraben werden würde, huschte sie in das Zelt und fand Bilal zusammengerollt auf dem Bett vor, in dem er von nun an allein schlafen musste. Sie legte sich neben ihn und strich ihm sacht über das Haar, obwohl sie damit rechnete, dass er ihre Hand wegstoßen würde. Stattdessen drehte er sich zu ihr und klammerte sich an die Röcke ihres schwarzen thoub, wie sich ein Kind Trost suchend an alles klammert, was gerade zur Hand ist. Als ein Diener kam, um ihnen mitzuteilen, dass das Salat al-Janazah, das rituelle Sterbegebet, gleich beginnen würde, lagen sie noch immer so da.

 Das Grab war auf einem Hügel oberhalb des Lagers ausgehoben worden. Es war eines von vielen, und als sie sich zwischen ihnen hindurchschlängelte, kam es Khalidah so vor, als habe die Erde tausend Münder geöffnet, um die Unmengen von Toten zu beklagen. Trotzdem schien ihr dies nicht genug Trost für die trauernden Hinterbliebenen zu sein. Ihr Blick wanderte von Bilals schmerzverzerrtem Gesicht zu dem immer noch raucherfüllten Tal hinunter, und sie fragte sich einmal mehr, ob der große Sieg des Sultans nicht zu teuer erkauft worden war.

Der Imam, der neben Salims verhülltem Leichnam stand, hatte sich schon gen Mekka gewandt; die Trauergemeinde reihte sich hinter ihm auf. Khalidah sah Sulayman ganz vorne bei dem Sultan stehen. Die Abendsonne fiel auf seine gelbe Tunika. Er drehte sich zu ihr um, ihre Blicke trafen sich, dann nahm sie ihren Platz zwischen Bilal und ihrem Vater ein. Obwohl es Frauen eigentlich nicht gestattet war, einen Toten zu seinem Grab zu geleiten, sprach niemand ihr das Recht ab, bei der Bestattung anwesend zu sein.

Der Imam hob die Hände zu den Ohren und begann mit leiser Stimme: »Allahu akbar.« Khalidah wiederholte die Worte und faltete dann wie alle anderen die rechte Hand über der linken auf dem Bauch. Als der Imam mit seinem Gebet fortfuhr, schweiften ihre Gedanken ab, sodass sie die Worte gar nicht bewusst wahrnahm. »O Allah! Vergib den Lebenden und den Toten, denen, die hier gegenwärtig sind und denen, die fehlen; den Jungen und den Alten; den Männern wie den Weibern. O Allah! Hilf denen, denen du das Leben gibst, im Sinne des Islams zu leben und hilf denen, denen du den Tod bringst, in ihrem Glauben zu sterben …«

Khalidah fragte sich, wie viele Imame wohl an diesem Abend in den umliegenden Hügeln dieselben Worte intonierten. Sie fragte sich auch, was die entkommenen Christen wohl mit ihren Toten gemacht hatten. Nach dem Gebet ließen Salims Brüder seinen Leichnam in das Grab hinunter. Obwohl der Sultan Bilal bedeutete, sich zu ihnen zu gesellen, verharrte dieser auf seinem Platz an Khalidahs Seite und umklammerte noch immer den Stoff ihres Gewandes. Saladin runzelte verwirrt die Stirn, doch Khalidah verstand: Dies war eine Endgültigkeit, die Bilal nicht ertragen konnte. Also drehte der Sultan selbst seinen Sohn auf die rechte Seite und legte seinen Kopf auf einen Stein, sodass sein Gesicht gen Mekka gewandt war.

»Im Namen Allahs und bei Allah«, flüsterte Khalidah zusammen mit allen anderen, als der Körper der Erde übergeben wurde.

Al-Afdhal warf die erste Schaufel voll Erde in die Grube. Als sie auf den Toten niederprasselte, wandte sich Bilal ab und rannte davon.

 Khalidah harrte während der gesamten dreitägigen offiziellen Trauer an der Seite ihres Freundes aus. Wie es die Tradition verlangte, empfing Bilal die unvermeidlichen Besucher, aber ihre Beileidsbekundungen stießen bei ihm auf taube Ohren. Weder lächelte er, noch fand er ein Wort des Dankes, sodass niemand lange blieb. Doch als die Trauerphase vorbei war und man ihn wieder allein ließ, brach er endlich sein Schweigen.

»Er hatte kein Kind«, sagte er mit der Stimme eines alten Mannes.

Khalidah sah ihn verwirrt an.

»Der Prophet sagt, dass nach dem Tod vom irdischen Leben nur dreierlei bleibt: die Wohltätigkeit, die der Verstorbene zu Lebzeiten ausgeübt hat; sein Wissen, von dem andere profitieren, und sein Kind, das für ihn betet. Salim war nicht sonderlich wohltätig, zum Wissen dieser Welt hat er kaum etwas beigetragen, und soweit mir bekannt ist, hat er auch kein Kind.«

Khalidah dachte lange nach, bevor sie antwortete. »Er hatte wenig Zeit, um sich um seine Mitmenschen zu kümmern oder philosophische Thesen aufzustellen oder ein Kind zu zeugen … aber er hat geliebt, Bilal. Das konnte sogar ich sehen, obgleich ich ihn kaum gekannt habe. Ist das nicht auch ein wertvolles Vermächtnis? Er mag nicht mehr da sein, aber die Liebe, die ihr füreinander empfunden habt, wird dich dein Leben lang begleiten.«

»Vielleicht hast du Recht«, erwiderte Bilal matt.

»Aber das ist nur ein schwacher Trost?«

»Es ist überhaupt kein Trost.«

Khalidah betrachtete den versteinerten jungen Mann, der ihr bester Freund gewesen war, seufzend. »Ich würde wirklich alles tun, um deinen Schmerz zu lindern, Bilal.«

Ein bitteres Lächeln verzerrte sein Gesicht. »Das weiß ich. Aber du kannst nichts für mich tun … es sei denn, du könntest mir eine Welt schenken, in der er nicht hätte sterben müssen.«

Wieder herrschte lange Schweigen zwischen ihnen. Endlich brach Khalidah es. »Weißt du, Bilal, das kann ich in gewisser Hinsicht vielleicht wirklich.«

 Als sie in ihr Zelt zurückkam, wartete Sulayman dort auf sie. Er war in seiner gelben Tunika prächtig anzuschauen, und Khalidahs abgrundtiefe Erschöpfung schlug augenblicklich in Zorn um. »Was willst du hier, Sulayman?«, fragte sie kalt. »Du wirst mich nie dazu bewegen, meine Meinung zu ändern.«

»Und wenn ich dir sage, dass ich nicht der Einzige bin? Die Hälfte der Dschinn will hierbleiben und dem Sultan bei seinen weiteren Eroberungsfeldzügen zur Seite stehen.«

»Eroberungsfeldzüge?«, wiederholte sie benommen, während sie mit einem feuchten Tuch den Kajal rund um ihre Augen entfernte. »Ich dachte, sie wären hergekommen, um Mobarak Khan zu finden.«

»Das sind sie auch«, gab er mit unverhohlener Gereiztheit zurück. »Und sie meinen, ihn gefunden zu haben, deshalb wollen sie bleiben. Seine Mission ist noch nicht beendet, also ist es die ihre auch nicht.«

»Und wie denken die anderen darüber?«

»So wie du«, entgegnete er bitter. »Sie glauben, mit der Schlacht von Hattin von ihren Pflichten entbunden worden zu sein.«

»Ich habe mich dem Sultan nie verpflichtet gefühlt, Sulayman«, versetzte Khalidah kühl. »Nur Allah, den Dschinn und vielleicht mir selbst.« Sulayman machte Anstalten, etwas zu erwidern, doch sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. Zum Schweigen verurteilt trat ein geradezu verzweifelter Ausdruck in seine Augen. »Es hat keinen Sinn, Sulayman. Weder wirst du mich umstimmen noch ich dich. Wir haben eine lange Reise zusammen zurückgelegt, aber hier trennen sich unsere Wege.«

»Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«, wollte er wissen, als sie die Hand zurückzog. »Du gibst unsere gemeinsame Zukunft einfach so auf?«

»Dasselbe könnte ich dich fragen. Bitte lass mich jetzt allein, Sulayman. Ich bin mit meiner Kraft am Ende.«

»Khalidah …«

»Lass mich allein«, wiederholte sie. Heiße Tränen brannten in ihren Augen. »Tu, was du meinst, tun zu müssen, und lass mich versuchen, vielleicht doch noch so etwas wie Frieden zu finden.«

Sulayman sah sie lange an, musste aber am Ende einsehen, dass sie Recht hatte: Es gab nichts mehr zu sagen.

 Am nächsten Tag verließ Khalidah, gefolgt von einem Drittel der Dschinn und mit Bilal und Abi Gul an ihrer Seite Saladins Lager. Ihr Vater und Zeyneb waren gekommen, um sie zu verabschieden. Zeyneb murmelte unter Tränen Segenswünsche, doch Abd al-Aziz schien ihre Abreise mit bemerkenswerter Gelassenheit aufzunehmen.

»Es tut mir leid, abatah«, sagte Khalidah, als sie sich ein letztes Mal in die Augen sahen.

»Was tut dir leid?«

Sie lächelte. »Dass ich kein Junge bin; dass in meinen Adern kein reines Beduinenblut fließt, dass ich den Gerüchten über meine Mutter immer neue Nahrung gegeben habe …«

»Ah, habibti, wenn jemanden Schuld trifft, dann mich. Außerdem würde ich dich gar nicht anders haben wollen als du bist.«

»Wirklich nicht?«

Abd al-Aziz nickte nachdrücklich. »Du bist genau so, wie ein Vater sich sein Kind wünscht.«

»Eigensinnig, impulsiv und unlenkbar?«, lächelte sie.

»Willensstark, mutig und loyal. Und, wie ich glaube, trotz allem immer noch fromm.« Khalidah senkte betreten den Kopf. Nach einem Moment flüsterte ihr Vater nahezu unhörbar: »Und du ähnelst ihr so sehr, dass es mir fast das Herz bricht.«

»Dann ist es wirklich besser, wenn ich nach Qaf zurückkehre.« Khalidahs Stimme zitterte leicht, aber sie lächelte und küsste Abd al-Aziz auf beide Wangen. »Alles Gute, abatah. Wenn Allah uns gnädig ist, sehen wir uns wieder. Und falls nicht, wünsche ich dir Glück in deiner neuen Ehe und viele Söhne, die alle ganz anders sind als ich.« Sie hob grüßend eine Hand, dann wendete sie Zahirah und ritt auf die aufgehende Sonne zu.

 

Wuestentochter
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