27

Guy, der diesen Tag als Saladins Gefangener beschloss, befand sich in guter Gesellschaft. Zusammen mit dem König und zahllosen seiner Ritter hatten die Muslime auch Gérard de Ridefort und Prinz Renaud Kerak in ihre Gewalt gebracht. Doch obgleich das Schicksal des Mannes, den er zu töten geschworen hatte, nun in seiner Hand lag, verließ der Sultan das Schlachtfeld in merklich verhaltenerer Stimmung als seine Soldaten. Er kehrte zu seinem Zelt zurück und gab Anweisung, die hochrangigen christlichen Gefangenen zu ihm zu bringen. Dazu ordnete er an, dass sich seine Schreiber, seine Söhne, Bilal al-Hassani und der Spielmann Sulayman gleichfalls dort einzufinden hatten.

Nachdem Saladin und sein Gefolge ihre Plätze eingenommen hatten, wurden die einstigen lateinischen Edelleute, jeder von einem Mamluken bewacht, hereingeführt. Guy, de Ridefort und Kerak machten den Anfang. Saladins Blick wanderte über sie hinweg und blieb auf dem König haften. »Tretet vor, Euer Gnaden, und setzt Euch zu mir.«

Da der König kein Arabisch sprach, wurden ihm die Worte des Sultans übersetzt. Guy machte den Eindruck, als schenke er ihnen wenig Glauben und habe noch gar nicht richtig erfasst, was mit ihm geschehen war. Sulayman fand, dass er aussah wie Asifa in der Nacht, als er sie gestohlen hatte und aus dem Lager der Hassani geflüchtet war. Vor Furcht oder Erschöpfung oder beidem zitternd gehorchte Guy und kniete sich neben dem Sultan auf den kostbaren Teppich.

Saladin wandte sich an Kerak. »Setzt Euch neben ihn.«

Nachdem der Dolmetscher übersetzt hatte, starrte Kerak den Sultan lange an und ließ sich dann so langsam, dass es einer Beleidigung gleichkam, neben seinem König nieder. Saladin unterzog ihn einer eindringlichen Musterung, die Kerak mit einem giftigen Blick beantwortete.

»Wie oft«, fragte der Sultan endlich mit ruhiger, aber stahlharter Stimme, »habt Ihr einen Eid geschworen und ihn dann gebrochen? Wie oft habt Ihr Verträge unterzeichnet und Euch dann nicht daran gehalten?«

Kerak erwiderte etwas, was der Dolmetscher nur zögernd weitergab. »Könige haben schon immer so gehandelt. Ich habe nichts anderes getan.«

Saladin entgegnete nichts darauf, sondern wandte sich an den neben ihm sitzenden Frankenkönig. Guys Wasserschläuche waren schon lange leer, und obwohl der Durst ihn nicht ganz so sehr plagte wie seine Soldaten, befand er sich in einem jämmerlichen Zustand. Er schwankte wie trunken und ließ den Kopf hängen wie ein geprügeltes Maultier.

»Ihr seid durstig, Euer Gnaden?«, sagte Saladin freundlich. »Und habt Angst, wie ich sehe. Dazu besteht kein Anlass. Ihr habt nichts vor mir zu fürchten.« Mit einem kurzen, scharfen Blick auf Kerak winkte Saladin einen Diener zu sich und erteilte ihm einen leisen Befehl. Der Mann huschte davon und kehrte kurz darauf mit einem Becher voll geschabtem Eis zurück. Der Sultan nahm ihn ihm ab und reichte ihn dem König, der sich jedoch weigerte, ihn entgegenzunehmen.

»Ah«, nickte Saladin. »Ihr fürchtet Verrat … wie es jeder König in Eurer Situation tun würde, obgleich ich Euch schon versichert habe, dass Ihr von mir nichts zu befürchten habt.«

Er nippte selbst an dem Becher, dann hielt er ihn Guy erneut hin. Diesmal griff der Frankenkönig dankbar danach, trank durstig, besann sich dann aber und reichte den Becher an Kerak weiter, der ihn leerte. Für die Franken sah es so aus, als würde Saladin dies stillschweigend dulden. Denjenigen, die ihn besser kannten, fiel jedoch die plötzliche Kälte in seinen Augen auf.

Als Kerak den leeren Becher auf den Boden gestellt hatte, wandte sich der Sultan an Guy. »Ihr habt ihm Wasser gegeben, ohne mich  vorher um Erlaubnis zu fragen. Daher bin ich nicht verpflichtet, ihm gegenüber Gnade walten zu lassen.« Es war eine arabische Tradition, dass ein Gefangener, dem eine Erfrischung angeboten worden war, verschont werden musste - eine kulturelle Feinheit, die Guy unbekannt war.

Noch während sich der Dolmetscher bemühte, ihm dies klarzumachen, hob Saladin die rechte Hand, und Salim legte das Heft seines eigenen Schwertes hinein. Mit einem Lächeln, in dem nichts von seiner üblichen Wärme lag, erhob sich der Sultan, hob das Schwert und stieß es Kerak zwischen Nacken und Schulterblatt in den Leib. Einige fränkische Ritter schrien entsetzt auf, Guy schloss stöhnend die Augen. Er zitterte jetzt, als würde er am Viertagefieber leiden. Kerak kippte vornüber, seine Augen quollen aus den Höhlen, und seine Hände flatterten zu der Wunde in seinem Nacken. Das Schwert des Sultans hatte eine Arterie durchtrennt, dunkles Blut strömte auf den Teppich und begann ihn zu durchtränken. Doch Saladin hatte sein Werk noch nicht beendet. Er hob das Schwert erneut und ließ es mit solcher Kraft auf seinen alten Feind niedersausen, dass Keraks Kopf vom Rumpf getrennt wurde, über den Boden rollte und vor den Füßen des Frankenkönigs liegen blieb.

Saladin gab Salim das blutige Schwert zurück und wandte sich wieder an den völlig verängstigten Guy. »Dieser Mann starb allein wegen seiner Ruchlosigkeit und Heimtücke. Aber Euch wird nichts geschehen. Könige sollten es sich nicht zur Gewohnheit machen, andere Könige zu töten.« Er bückte sich, tauchte einen Finger in die Blutlache auf dem Teppich und spritzte sich etwas davon zum Zeichen dafür, dass er an dem Toten Rache genommen hatte, auf den Kopf, so wie es die Tradition verlangte.

»Schafft seinen Kopf nach Damaskus«, befahl er dann seinen Mamluken. »Schleift ihn dort durch die Straßen, damit alle sehen, dass diesen durch und durch verderbten Mann jetzt seine gerechte Strafe  ereilt hat. Bringt die Gefangenen ebenfalls in die Stadt und sorgt dafür, dass sie ihrem Rang gemäß untergebracht werden. Ich werde nicht dulden, dass sie schlecht behandelt werden.«

Dann überließ er es dem Dolmetscher, den Franken zu erklären, was mit ihnen geschehen würde, und verließ das Zelt, um die Rückkehr seiner Truppen zu überwachen.

 Khalidah und Abi Gul hatten Sandaras Leichnam suchen wollen, um sie nach Art der Dschinn zu bestatten, gaben aber schon auf, bevor die Dämmerung hereinbrach. Das Ausmaß des Gemetzels übertraf alles, was Khalidah sich in ihren schlimmsten Alpträumen ausgemalt hatte. Hatten das Tal und die Hügel zuvor einem Wald aus Schwertern und Speeren geglichen, so schienen sie jetzt mit einem Teppich aus verstümmelten Leichen bedeckt zu sein. Ein Pferd konnte keinen Schritt tun, ohne auf zermalmte menschliche Überreste zu treten, und es war kaum möglich, eine blutige, schlammverschmierte Tunika von der anderen zu unterscheiden. Außerdem hatten die muttawiyah schon begonnen, Gräber für die gefallenen Muslime auszuheben, sodass Sandara durchaus schon unter der Erde sein konnte.

»Das erscheint mir nicht richtig«, sagte Khalidah zu Abi Gul, als sie dem Schlachtfeld endlich den Rücken kehrten und zum Lager des Sultans zurückritten. »Sie würde nicht wollen, dass man sie in der Erde verscharrt.«

»Heute werden zweifellos viele Krieger nicht gemäß ihrer Sitten und Bräuche bestattet«, erwiderte Abi Gul. »Das gehört zu den Opfern, die ein Krieg fordert. Hast du gedacht, wir bringen unsere Toten für gewöhnlich von unseren Missionen nach Qaf zurück, Khalidah?« Sie schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf. »Das Wissen, dass unsere Leiber vielleicht weit weg von daheim zur letzten Ruhe gebettet werden, ist ein Teil des Daseins eines Dschinn. Aber wo immer unsere Körper auch liegen, unsere Seelen sind frei. Sobald  beide voneinander getrennt sind, kann uns nichts daran hindern, uns mit unseren Göttern in Hewad zu vereinen.«

Khalidah dachte darüber nach. Fast beneidete sie Abi Gul um diese so großzügig auslegbare Philosophie. Trotzdem missfiel ihr die Vorstellung, von jemandem bestattet zu werden, der ihre Traditionen nicht verstand. Seufzend betrachtete sie ihre Freundin. Abi Gul wirkte erschöpfter, als Khalidah sie je erlebt hatte. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, ihre Wangen waren eingefallen, in ihrer Rüstung klafften zahlreiche Risse, sie hatte Schrammen und Kratzer davongetragen und schonte ihren linken Arm, saß aber noch immer stolz und aufrecht im Sattel.

»Wie geht es dir?«, fragte Khalidah sie.

Abi Gul lächelte. »Ich bin noch am Leben, Khuday sei Dank. Und was ist mit dir?«

Khalidahs Lippen verzogen sich grimmig. Während des letzten Angriffs hatte sie sich die rechte Schulter ausgerenkt und konnte jetzt ihren Schwertarm nicht mehr heben. Ihre Arme und Beine waren mit Schnittwunden übersät, und sie hatte ihre seidene Unterwäsche auf die Probe stellen müssen, als sich ein Pfeil in ihren linken Oberarm gebohrt hatte. Er hatte sich tatsächlich so leicht entfernen lassen, wie Abi Gul behauptet hatte, aber sie ahnte, dass ihr noch eine schmerzhafte Säuberung der Wunde bevorstand. Doch Abi Gul hatte Recht, sie war am Leben und würde an keiner ihrer Verletzungen sterben.

Weil sie dies so überraschte, fragte sie sich, ob sie insgeheim damit gerechnet hatte, diesen Tag nicht zu überleben. Sie hatte gewusst, welche verheerenden Folgen eine Schlacht zwischen der Armee des Sultans und der der Franken nach sich ziehen würde, trotzdem fiel es ihr schwer, das Ausmaß der Verwüstung zu betrachten, ohne sich zu fragen, warum gerade sie verschont geblieben war und nun über die Leichen von Tausenden von Gefallenen hinwegreiten konnte. Und wenn sie überlegte, wofür all diese Männer ihr Leben gelassen hatten  - ein goldenes Kreuz, das vielleicht eine Reliquie enthielt, ein rotes Zelt und eine Stadt, die bei weitem nicht die heiligste oder auch nur zweitheiligste des Islams war -, dann führte dies unweigerlich zu der Frage, ob der Sieg all diese Opfer wert gewesen war.

Khalidah schüttelte unwillig den Kopf. Sie brauchte ein paar Stunden Schlaf; morgen früh würde alles ganz anders aussehen. Doch als sie und Abi Gul endlich das Lager der Dschinn fanden, stellten sie fest, dass der Sultan zur Feier des Sieges Aprikosenschnaps verteilt hatte. Wer noch nicht betrunken war, befand sich auf dem besten Weg dorthin. Khalidah benutzte ihre Ration dazu, Zahirahs Wunden zu säubern, und zog sich, nachdem sie die Stute gefüttert und getränkt hatte, in ihr Zelt zurück. Sie legte gerade ihre Rüstung ab, als die Klappe geöffnet wurde und Sulaymans gerötetes Gesicht erschien.

»Du willst doch jetzt wohl nicht schon zu Bett gehen!«

»Genau das habe ich vor«, gab Khalidah knapp zurück. Sie war nicht sicher, ob ihr Ärger von ihrer Erschöpfung, der grässlichen Suche auf dem mit Leichen übersäten Schlachtfeld oder dem Umstand herrührte, dass Sulayman noch immer die gelbe, jetzt zerfetzte und blutbespritzte Tunika trug, doch sie stürzte sich wie ein Geier auf das Letztere.

»Bist du der Dschinn schon überdrüssig geworden?«, fauchte sie. »Lebt es sich als Vertrauter des Sultans besser - ah!« Ihr entfuhr ein Schmerzensschrei, als sie versuchte, sich die Tunika über den Kopf zu streifen, wogegen ihre verletzte Schulter vehement protestierte.

Sulaymans aufkeimender Zorn wich augenblicklich Besorgnis. »Vorsicht, Khalidah, lass mich dir helfen.« Er versuchte, die Tunika über ihren Arm zu ziehen, musste sie aber am Ende aufschneiden. »Ich werde einen Arzt suchen«, sagte er, nachdem er das geschwollene Gelenk sacht berührt hatte. »Das sieht nicht gut aus.«

»Nein«, wehrte sie ab. »Andere brauchen die Ärzte heute Nacht dringender als ich.« Sie legte sich in ihrer Unterwäsche auf das Bett  und zog sich die Decke bis zum Kinn hoch. Obwohl es im Zelt warm und stickig war, fröstelte sie. Sulayman kam zu ihr und setzte sich neben sie.

»Ich bin der Dschinn nicht überdrüssig geworden«, sagte er in einem Ton, den Khalidah nicht zu deuten vermochte. »Es ist nur so, dass ich heute etwas erfahren habe, was mein ganzes Leben ändert.«

»Was denn?«, fragte Khalidah, obwohl sie die Antwort eigentlich gar nicht hören wollte.

Sulayman zögerte. »Saladin hat mir heute Morgen eröffnet, dass er mein Vater ist.«

Khalidah hatte geglaubt, nichts könne sie mehr aus der Fassung bringen, aber diese Worte trafen sie wie glühende Pfeile. Langsam setzte sie sich auf und sah Sulayman an.

»Wie kann er denn dein Vater sein?«

»Wie es aussieht, haben er und meine Mutter sich in ihrer Jugend in Kairo kennengelernt …«

»Nein, nein«, unterbrach Khalidah ihn schroff. »Das meinte ich nicht. Woher weiß er es?«

»Woher wusstest du, dass ein Schwert in einem Trödelladen in der Wüste deiner Mutter gehört hat?«, hielt er ihr entgegen. »Blut ruft Blut, Khalidah.«

Sie schwieg eine lange Weile. »Schön und gut, aber ich sehe nicht, inwiefern sich jetzt etwas geändert haben soll. Er kann dich weder anerkennen noch zu seinem Erben einsetzen, und selbst wenn er das täte, hättest du all die anderen Prinzen gegen dich.«

»Es stimmt, er kann mich nicht öffentlich anerkennen«, bestätigte Sulayman. »Aber er liebte Haya - meine Mutter - aufrichtig, und deswegen will er etwas für mich tun.«

»Was denn zum Beispiel?« Eine Vorahnung drohenden Unheils begann von ihr Besitz zu ergreifen.

»Er hat mir Landbesitz versprochen - nicht viel, nur eine kleine  Stadt in der Nähe von Edessa und das umliegende Ackerland -, aber es reicht, um mir einen Namen und den Rang eines amir in seiner Armee zu verschaffen.«

Mit einem Mal brach Khalidah in Tränen aus. »Das war es dann also? Die ganze Zeit sehnst du dich nach Qaf zurück, und dann gibst du alles für eine Provinzstadt, einen unbedeutenden Titel und die Wahrscheinlichkeit auf, in der Armee des Sultans umzukommen?«

»Galt das denn nicht für uns alle? Sind wir nicht genau deswegen heute hier gewesen?«

»Ich nicht«, erwiderte Khalidah bitter. »Und die Dschinn ebenfalls nicht.« Sie kehrte ihm den Rücken zu und legte sich wieder auf das Bett.

»Khalidah …« Der Schmerz und die Verwirrung in seiner Stimme rührten sie so sehr, dass sie fast nachgegeben und Mitleid mit ihm empfunden hätte, doch dann fuhr er fort: »Auf diese Weise kann ich dir das Leben bieten, das du verdienst.«

Sie lachte humorlos auf. »Wenn ich diese Art von Leben gewollt hätte, hätte ich meinen Vetter geheiratet, statt dir nach Qaf zu folgen.«

»Khalidah, bitte versuch doch zu verstehen …«

»Wenn das deine Entscheidung ist, werde ich dich nie verstehen! Die Dschinn haben dir ebenfalls einen Namen und eine Heimat angeboten - ein weit würdigeres Land als das, was du gewählt hast! Aber wenn du dich vom Reichtum und Glanz des Sultans blenden lässt, dann bist du nicht der Mann, für den ich dich gehalten habe!«

Und mehr sagte sie nicht, so sehr er sie auch beschwor und umzustimmen versuchte. Endlich legte er sich neben sie und lauschte die ganze lange Nacht ihres Sieges lang hilflos ihrem Schluchzen.

 Am nächsten Tag begann Saladin ernsthaft mit der Rückeroberung seines Reiches. Als Erstes verfügte er, dass die Gräfin Eschiva, die  noch mit ihrem Gefolge in der Zitadelle von Tiberias festgehalten wurde, die Burg verlassen durfte, und sicherte ihr freies Geleit zu. Graf Tripolis war nach dem verhängnisvollen Angriff vom Vortag nicht zu seiner Frau zurückgekehrt, sondern hatte sich nach Tyrus begeben. Daher verlief die Übernahme von Tiberias friedlich; Eschiva selbst händigte Saladin die Schlüssel zum Stadttor aus.

Diese ohne Blutvergießen verlaufende Eroberung sollte sich als wegweisend für viele weitere in den kommenden Tagen erweisen, aber bevor der Sultan mit der Umverteilung des Heiligen Landes fortfahren konnte, musste er ein dringlicheres Problem lösen. Unter den zahlreichen Gefangenen des Vortages befanden sich auch mehr als zweihundert Templer und Hospitaliter. Der muslimische Ehrenkodex verbot die Hinrichtung von Kriegsgefangenen, aber Saladin wusste, dass diese Ritter die Einzigen waren, die seine neu errungene Autorität zu bedrohen vermochten, und er sie daher nicht frei lassen durfte. Und so erließ er eine weitere, düsterere Verfügung, sprach: »Ich werde das Land von diesen gottlosen Männern reinigen!«, und gab Befehl, alle zu enthaupten.

Er hatte befürchtet, einige seiner frömmeren Anhänger könnten Einwände erheben, doch noch ehe der Morgen verstrichen war wimmelte es in seinem kleinen weißen Zelt von Männern, die darum baten, die Rolle des Henkers übernehmen zu dürfen. So vergab der Sultan diese Aufgabe als Belohnung und Auszeichnung an diejenigen, denen er besonderen Dank zu schulden meinte oder die er beeindrucken wollte. Auch Sulayman zählte zu diesen Privilegierten.

»Du denkst doch nicht ernsthaft daran, dieses Angebot anzunehmen?«, entrüstete sich Khalidah, als er ihr davon erzählte.

»Warum denn nicht?«

»Weil es barbarisch ist! Und allen Lehren Mohammeds widerspricht!«

Sie funkelten sich einen Moment lang erbost an, doch es war Sulayman, der als Erster den Blick senkte. Khalidah fuhr fort, ihre Rüstung zu säubern. »Ich hoffe, der Sultan weiß den Eifer zu schätzen, mit dem du dich seiner Sache verschreibst«, bemerkte sie sarkastisch.

»Khalidah, versuch mich doch zu verstehen …«

»Wie denn?«, fuhr sie auf. »Wie kann ich dich verstehen?« Sie schüttelte den Kopf. »Eine Frau ändert ihre Meinung nicht von einem Tag auf den anderen. Ich habe in der Nacht, in der ich mit dir das Lager meines Vaters verlassen habe, eine Entscheidung getroffen, von der ich wusste, dass ich sie nie rückgängig machen kann.«

»Aber dein Vater hat dir vergeben«, wandte er ein, »und überhaupt … wenn du erst einmal meine Frau bist, interessiert sich kein Mensch mehr dafür, was vorher war.«

Sie lachte freudlos auf. »Glaubst du wirklich, ich könnte als Frau eines Edelmannes glücklich werden, nachdem ich das Leben einer Dschinn geführt habe?« Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Denk an meine Eltern, und sag mir dann, dass das möglich ist.«

Eine Weile herrschte drückendes Schweigen zwischen ihnen, dann griff Sulayman nach seinem Schwert und ging auf das Zelt des Sultans zu.

 »Was ist passiert?«, fragte Abi Gul, als sie später vor ihrem Zelt ein paar Kleider wuschen.

Khalidah erwog flüchtig, abzuleugnen, dass etwas nicht stimmte, aber Abi Gul war eine gute Freundin, die Aufrichtigkeit verdiente. »Sulayman hat mich verlassen«, bekannte sie.

»Nicht möglich!«, entfuhr es Abi Gul. »Erzähl mir nicht, er hat eine andere Frau gefunden - ich würde dir kein Wort glauben!«

Ein grimmiges Lächeln spielte um Khalidahs Lippen. »Keine Frau«, erwiderte sie. »Einen Mann. Den Sultan - seinen Vater.« Sie berichtete Abi Gul, was Sulayman ihr erzählt hatte, und als sie geendet hatte, hing Abi Gul lange ihren Gedanken nach.

»Das ergibt keinen Sinn«, meinte sie schließlich. »Sulayman ist kein wankelmütiger Mensch. Bist du sicher, dass du ihn nicht falsch verstanden hast?«

Khalidah schüttelte den Kopf. »Er hat an seinen Absichten keinen Zweifel gelassen. Und gerechterweise muss ich sagen, dass ich ihn in gewisser Hinsicht sogar verstehen kann. Immerhin bin ich selbst ohne Mutter aufgewachsen und weiß, wie quälend Ungewissheit und Sehnsucht sein können.«

»Aber du bist die Frau, die er liebt«, gab Abi Gul zu bedenken. »Du bist seine Zukunft, nicht dieser alternde Sultan.«

»Ich fürchte, er sieht das etwas anders.« Khalidahs Stimme schwankte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Und du bringst es nicht über dich, ihm zuliebe hierzubleiben?«

Khalidah schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf.

»Ach, Khalidah …« Abi Gul hätte wohl noch mehr gesagt, wenn nicht irgendetwas ihre Aufmerksamkeit abgelenkt hätte. »Sieh nur, dort - was für ein merkwürdiger Mann! Glaubst du, es ist ein versprengter Franke?«

Khalidah blickte geistesabwesend auf, dann starrte sie den Mann an, auf den Abi Gul deutete. Er ritt einen mageren, räudigen Klepper, schwankte im Sattel, als wäre er betrunken, und schien von einem riesigen Insektenschwarm begleitet zu werden, obwohl das aus der Entfernung nicht genau zu erkennen war.

»Nein, das ist kein Franke.« Sie ließ ihre Wäsche fallen und sprang auf.

»Woher weißt du das?«, fragte Abi Gul.

»Weil ich ihn kenne. Es ist mein Vetter, mit dem ich einmal verlobt war.«

»Aber was tut er hier?«

Khalidah gab keine Antwort, weil sie noch etwas anderes gesehen hatte: drei Gestalten, die von dem zwischen ihr selbst und Numair  gelegenen Hinrichtungsplatz kamen und auf das Lager zugingen. Ohne darauf zu warten, dass Abi Gul ihr folgte, holte sie ihr Schwert aus dem Zelt und rannte los. Lange ehe sie sie erreichte, hatte sie die drei Männer bereits als Sulayman, Bilal und Salim identifiziert. Die Art, wie Sulayman sich ungezwungen lachend mit seinen Begleitern unterhielt, verriet Khalidah deutlicher als jedes Wort, das zwischen ihnen gefallen war, dass sie ihn an den Glanz seiner neuen Welt verloren hatte. Aber Numair war unterdessen von seinem Pferd gestiegen, und so verdrängte sie ihren Schmerz und konzentrierte sich auf diese unmittelbare Bedrohung.

»Khalidah«, wunderte sich Sulayman, als er sie sah. »Was ist denn …«

»Numair!«, rief sie ihm zu, ohne stehen zu bleiben. »Hinter dir!«

Sulayman und Bilal fuhren herum, doch Salim lachte nur. »Das ist unmöglich! Ich habe ihn getötet. Du musst dich irren …«

Aber er brachte den Satz nie zu Ende, denn im nächsten Moment sank er auf die Knie. Ein Ausdruck ungläubigen Entsetzens lag plötzlich auf seinem Gesicht, und der Schaft eines Speers ragte aus seiner Brust. Einen Moment lang schien die Welt stehenzubleiben, dann brach Chaos aus. Salim sackte in sich zusammen, Bilal warf sich klagend über ihn und zerrte vergeblich an dem Speer, der seine Brust durchbohrt hatte. Abi Gul kniete neben Bilal nieder, Sulayman zog sein Schwert, aber Khalidah kam ihm zuvor. Sie rannte auf die von Fliegen umschwirrte gespenstische Erscheinung mit dem angeschwollenen, höhnisch grinsenden Gesicht und den zerfetzten, vor Blut und Schmutz starrenden Kleidern zu, und als Sulayman sie einholte, hatte Khalidah Numair bereits zu Boden gestoßen und noch mit ihrem verletzten Arm die Kraft gefunden, ihm das Schwert ihrer Mutter tief in den Hals zu treiben.

 

Wuestentochter
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