13

Am nächsten Morgen standen Khalidah und Sulayman früh auf. Die verschleierte Frau am Feuer, die sich seit dem letzten Abend nicht von der Stelle gerührt zu haben schien, gab ihnen Brot und kleine Tassen mit schwarzem, gallebitterem Kaffee.

»Danke«, sagte Khalidah, als sie sich zum Aufbruch rüsteten.

»Sei auf der Hut«, warnte die Frau mit einer Stimme, die dem durch Sandsteinschluchten pfeifendem Wind glich. »Die Wüstenkatze ist ganz nah.«

»Bitte?« Khalidah gefror das Blut in den Adern.

»In der Nacht kamen ihre Männer herbeigeschlichen.« Die Frau nickte und kicherte in sich hinein, wobei sie ein lückenhaftes Gebiss entblößte. »Aber sie konnten die Wüstentochter nicht finden, denn auch sie hat das Herz einer Wildkatze.« Sie begann zu singen:Du siehst mich mit deinen Augen  sonnenverbrannt, eine Wüstentochter  zerlumpt und ohne Schuhe  mit vom Laufen gestählten Füßen.

 Doch ich bin noch immer die Herrin der Geduld  und trage ihre Rüstung  über dem Herzen einer Wüstenkatze  von unerschütterlicher Entschlossenheit erfüllt.

 

Khalidah und Sulayman verzichteten darauf, auch noch den Rest zu hören, und ritten eilig aus dem Hof. Als sich das Lied der Frau in dem Gewirr der Gassen verlor, fragte Khalidah: »Glaubst du, wir sind verfolgt worden?«

»Schon möglich. Aber ich glaube vor allem, dass die Frau nicht bei Verstand war.«

»Aber solche Worte zu singen …«

»Es war Shánfara«, erwiderte Sulayman.

»Das weiß ich«, fauchte Khalidah. »Die ›Ode in L‹.«

»Ein ziemlich bekanntes Gedicht.«

»Aber wie kam sie darauf? Und die Wüstenkatze … Numair heißt ›Panter‹. Könnte sie gemeint haben …«

»Sie könnte alles Mögliche gemeint haben«, entgegnete Sulayman. »Doch wir können nichts tun, wir können nur hoffen, dass sie nicht bei Sinnen war. Wir werden Vorräte einkaufen und dann zusehen, dass wir diese Stadt möglichst schnell möglichst weit hinter uns lassen. Wenn das, was diese Männer gestern Abend erzählt haben, der Wahrheit entspricht, dann ist Numair unsere geringste Sorge.«

Khalidah dachte einen Moment darüber nach. »Demnach glaubst du, dass Saladin wirklich vorhat, die Franken anzugreifen?«

»Ich denke, er wird zuerst Al-Quds ins Auge fassen.«

Khalidah unterdrückte einen überraschten Ausruf. »Das wäre Irrsinn! Die Franken geben diese Stadt nicht auf, solange noch ein Mann übrig ist, der sie verteidigen kann.«

»Ich vermute, das ist dem Sultan durchaus bekannt.«

Wieder überlegte sie kurz. »Ist er wirklich stark genug, um sie zu besiegen?«

»Wenn er bei der Wahl seiner Verbündeten Vorsicht walten lässt, dann ja.«

Sie ritten durch den suq, in dem sich am Abend zuvor die künftigen  Soldaten gedrängt hatten und der jetzt bis auf ein paar Händler, die Ladentüren aufschlossen und Markisen entrollten, verlassen dalag. Sulayman förderte Geld zu Tage, von dem Khalidah gar nicht gewusst hatte, dass er es bei sich trug, und erstand mehr Datteln, getrocknete Kamelmilch, Trockenfleisch, Früchte und Linsen. Sie verstauten die Päckchen zusammen mit den frisch gefüllten Wasserschläuchen in ihren Satteltaschen.

»Das wird erst einmal reichen«, meinte Sulayman. »Aber für die Berge brauchen wir ein Packpferd.«

»Und wo sollen wir eines herbekommen?«, wollte Khalidah wissen.

»Es wird sich schon irgendetwas ergeben«, erwiderte er mit aufreizender Sicherheit und ritt auf das Osttor zu.

Khalidah spähte neugierig in die Läden, an denen sie vorbeikamen. Dann brachte sie Zahirah plötzlich mit einem Ruck zum Stehen. Sulayman sah sofort, was ihr Interesse geweckt hatte. Hinter einem schmutzigen Schaufenster lag inmitten von billigen Gebetsperlen, gesprungenen Hukas und angelaufenen Kerzenhaltern ein Schwert. Sonderlich beeindruckend war es nicht, weder alt noch neu genug, um wertvoll zu sein, mit kurzer Klinge, schlichter Lederscheide und passendem Gürtel. Aber in den Griff war ein Stein eingesetzt, stumpf vor Schmutz, aber trotzdem unverkennbar golden.

Ein Vorgefühl drohenden Unheils überkam Sulayman. »Khalidah …«, begann er, doch sie glitt schon von Zahirahs Rücken und schlang die Zügel um die Eisenstäbe vor dem Fenster. Stirnrunzelnd stieg Sulayman ab und folgte ihr in den Laden.

Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte Khalidah, dass in diesem Laden sehr wenig feilgeboten wurde. Es gab ein paar beschädigte Möbelstücke, einen Haufen verbeulter Töpfe und Tiegel und anderen wertlosen Trödelkram. In der Mitte des Raumes thronte auf einem Stapel schmuddeliger Kissen ein kleiner, verwitterter Mann. Sein rundes Gesicht glich einer Walnuss, Falten lagen um seine schräg stehenden Augen. Er sah sie teilnahmslos an, während er an einer Huka sog. Das Mundstück war aus Knochen geschnitzt, in Form einer Schlange mit Granaten als Augen. Der Rauch, der ihr entströmte, roch süßlich nach Mohn.

»Kann ich euch behilflich sein?«, fragte er auf Arabisch, aber mit persischem Akzent.

»Wie viel verlangst du für das Schwert im Fenster?« Khalidah registrierte verärgert, dass ihre Stimme schrill vor Nervosität klang.

Der Mann musterte sie. »Ihr seid nicht von hier«, stellte er endlich fest. Khalidah gab keine Antwort darauf. »Ihr steht am Beginn einer langen Reise.«

Zwischen wachsendem Unbehagen und der Gewissheit, dieses Schwert unbedingt besitzen zu müssen, hin- und hergerissen erwiderte Khalidah: »Wie jeder Mann in dieser Stadt. Was soll das Schwert denn nun kosten?«

Der Alte stellte seine Pfeife beiseite. Aus dem grinsenden Maul der Schlange quoll noch immer Rauch, als er zum Fenster hinüberhumpelte. Er kramte dort ein wenig herum, kam schließlich mit dem Schwert zurück, legte es neben die Pfeife, nahm seinen Platz auf den Kissen wieder ein und betrachtete es mit einem eigenartigen Glitzern in den Augen. Dann rieb er mit dem Daumen über den Stein im Griff. »Das könnte ein Topas sein. Und selbst wenn es nur Glas ist - es ist eine gute, handliche Waffe, die gerade jetzt, wo so viele muttawiyah  auf der Durchreise durch diese Stadt kommen, einen guten Preis erzielen wird. Aber ihr jungen Männer und euer Streben nach Ruhm und Ehre …« Der Ton, in dem er ›junge Männer‹ gesagt hatte, beunruhigte Khalidah noch mehr. Sie wartete ab, was weiter kam, wagte dabei aber nicht, Sulayman anzusehen.

»Aber ihr reist Richtung Osten, nicht gen Westen«, fuhr der Ladenbesitzer fort. Khalidah blickte erstaunt zu ihm auf, doch sein Gesicht verriet nicht, was in ihm vorging. Er hielt inne und musterte sie forschend. »Mir bleibt nicht mehr viel Zeit in dieser Welt, und eine gute Geschichte bedeutet mir genauso viel wie ein paar Münzen. Erzähl mir, wohin du das Schwert mitnehmen willst, dann mache ich dir vielleicht einen guten Preis.« Er lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen zurück.

Khalidah sah ihn durch den Rauch hinweg an. Eine merkwürdige Benommenheit hatte von ihr Besitz ergriffen; es fiel ihr schwer, ihren Blick auf etwas zu konzentrieren. Fast gegen ihren Willen strömten die Worte aus ihr heraus, als hätte die grinsende Schlange sie ihr entlockt. »Es begleitet mich nach Qaf.«

Der alte Mann lächelte ohne jeden Humor. »Das glaube ich nicht«, murmelte er. Im nächsten Moment erwachte der Raum zum Leben. Die von der Decke herabhängenden Läufer fielen zu Boden und gaben den Blick auf drei bewaffnete Männer frei. Sie trugen Beduinengewänder, hatten ihre Keffiehs bis zu den Augen hochgezogen und rückten auf Sulayman und Khalidah vor, während sich der Ladenbesitzer in den Schatten zurückzog. Mit einer einzigen fließenden Bewegung packte Khalidah das Schwert und schlitzte einem Beduinen fast mechanisch die Kehle auf. Dann blickte sie sich um. Sulayman hatte seinen Dolch gezogen und kehrte ihr den Rücken zu, während er den beiden überlebenden Männern entgegentrat.

Die Beduinen umkreisten sie einen Moment lang und griffen dann an. Sie waren gut ausgebildet, konnten aber ihre Kampftechnik in dem engen Raum nicht richtig entfalten, und Khalidah bewegte sich blitzschnell. Sie zog einem zweiten Beduinen die Klinge durch das Gesicht, und als seine Keffieh zerriss, erkannte sie einen von Numairs Gefolgsleuten. Die Haut seiner rechten Wange hing in Fetzen herab, und aus seinem linken Auge strömte Blut. Vor Schmerz und Schreck benommen stolperte er und taumelte gegen seinen Kameraden, der daraufhin das Gleichgewicht verlor. Während die Beduinen versuchten, ihrer Verwirrung Herr zu werden, packte Sulayman Khalidah am Arm und zog sie zur Tür hinaus.

Der unverletzte Beduine machte sich von seinem Gefährten los und setzte ihnen nach. Sulayman entwand Khalidah das Schwert und drückte ihr seinen Dolch in die Hand, dann wirbelte er herum und schob sich zwischen Khalidah und ihren Angreifer. Er schien noch sehr jung zu sein; in den Augen über der Keffieh flackerte blanke Angst. Sein Schwertarm zitterte, als er einen Hieb gegen Sulayman führte, doch es mangelte ihm an Geschick und Erfahrung, und die Furcht machte ihn linkisch und schwerfällig. Als er sich zu weit vorwagte, hob Sulayman mit einem Ausdruck grimmiger Entschlossenheit sein Schwert, und einen Moment später rollte der Kopf des Jungen durch den Staub.

Er blieb direkt vor Khalidahs Füßen liegen. Khalidah wandte sich ab und erbrach sich heftig an die Wand. Sie würgte noch immer, als Sulayman sie in den Sattel hob und Zahirah mit der flachen Seite seiner Klinge einen Schlag auf die Flanke versetzte, woraufhin die Stute angaloppierte. Khalidah blieb keine Zeit, die Füße in die Steigbügel zu schieben, und ihre Beine zitterten vor Schock und Übelkeit so stark, dass sie sie nicht Halt suchend gegen den Leib des Pferdes zu pressen vermochte, also beugte sie sich über den Hals des Tieres und krallte sich mit aller Kraft an den Zügeln fest, dabei flüsterte sie wieder und wieder: »Ich falle nicht hinunter … ich halte mich im Sattel …«

Endlich verlangsamten die Pferde ihr Tempo, und Khalidah registrierte erst jetzt, dass sie das Stadttor erreicht hatten. »Räuberische Beduinen«, fuhr Sulayman einen der Wachposten an, dabei deutete er in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Sie haben uns in einem Laden auf der Hauptstraße überfallen. Beeilt euch, ehe sie entkommen können!«

Die Wächter starrten ihnen verdutzt hinterher, als sie ihre Pferde erneut zu einem Galopp antrieben. Erst als die Tiere erste Anzeichen  von Erschöpfung zeigten, ließen sie sie im Schritt gehen, und Sulayman wandte sich mit vor Zorn funkelnden Augen an Khalidah.

»War es das wert?« Er schwenkte das blutbefleckte Schwert durch die Luft.

»Das verstehst du nicht«, gab Khalidah zurück.

»Was gibt es da zu verstehen?«, fuhr er auf. »Das war ganz eindeutig ein Köder, den dein ehrenwerter Vetter und seine fränkischen Verbündeten für dich ausgelegt haben!«

Khalidah musterte ihn kühl. »Schon möglich, aber ich konnte die Stadt unmöglich ohne dieses Schwert verlassen.«

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«

»Sieh dir die Klinge an«, erwiderte sie. »Dort, direkt unterhalb des Heftes.«

Widerstrebend betrachtete Sulayman das Schwert. Und inspizierte es plötzlich genauer. Unter dem getrockneten Blut konnte er eine Inschrift ausmachen. Er kratzte das Blut weg und legte drei Worte frei:  Licht meiner Seele. Sie schlugen irgendwo tief in seinem Inneren eine Saite an, und gegen seinen Willen machte sein Herz einen kleinen Satz. Als er aufblickte, ruhten Khalidahs goldene Augen unverwandt auf ihm.

»Na und?«, stieß er schließlich hervor. »Das sind ganz gebräuchliche Koseworte.«

»So hat mich meine Mutter immer genannt«, gab sie mit steinerner Miene zurück.

Er seufzte. »Khalidah, jeder hätte in das Schwert eines Soldaten solche Worte …«

»Das ist kein gewöhnliches Soldatenschwert«, unterbrach sie ihn. »Es hat meiner Mutter gehört.«

»Zu diesem Schluss bist du nur aufgrund der Gravur gekommen?«, erkundigte er sich ungläubig.

»Nein«, entgegnete sie. »Sondern weil ich mich gut daran erinnere.  Sie hat es in alte Kleider eingewickelt unter ihrem Bett aufbewahrt. Und sie hat mir nur ein einziges Mal in meinem Leben einen Klaps gegeben - an dem Tag, an dem sie mich dabei ertappt hat, wie ich mit der Waffe spielte.«

»Ist dir das alles gerade jetzt wieder eingefallen?« Der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Ich glaube, das Schwert ist gar nicht der wahre Grund für deinen Ärger.«

Während sie weiterritten, wurde das Schweigen zwischen ihnen immer angespannter. Endlich konnte Sulayman nicht länger an sich halten. »Na schön. Wann gedachtest du mir denn zu verraten, dass du eine Kriegerausbildung durchlaufen hast?«

Khalidahs Augen sprühten Feuer. »Wenn ich den Zeitpunkt für richtig gehalten hätte!«

»Verstehe. Gibt es vielleicht sonst noch etwas, was ich über dich wissen müsste?«

»Was ist denn mit dir?«, schoss sie zurück. »Du hast mir nie gesagt, dass du kämpfen kannst wie ein … wie ein …«

»Dieb?«

Das Wort, das ihr auf der Zunge gelegen hatte, lautete ›Erzengel‹; das, was er gebraucht hatte, ließ ihren Ärger verfliegen. Seufzend gab sie zu: »Ich habe dir das nicht aus Bosheit vorenthalten, Sulayman. Versetz dich doch einmal in meine Lage. Ich kenne dich schließlich erst seit sieben Tagen.« Als er grimmiges Schweigen wahrte, fuhr sie fort: »Na schön, frag mich, was du wissen willst. Ich verspreche dir, vollkommen aufrichtig zu antworten.«

Wieder schwieg er lange Zeit, bevor er tief Atem holte. »Ich möchte alles hören.«

»Wie bitte?«

»Du kennst meine Lebensgeschichte. Jetzt erzähl du mir die deine.«

»Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte.«

»Am Anfang, würde ich vorschlagen. Wo wurdest du geboren?«

Khalidah zögerte einen Moment. »In Wadi Tawil. Der Stamm war gerade dort eingetroffen, um das Vieh auf die Sommerweiden zu treiben, als bei meiner Mutter die Wehen einsetzten.«

»Erinnerst du dich noch an sie?«

»Nur ganz schwach. Sie sta … ich meine, sie verließ uns, als ich drei Jahre alt war.«

»Und dein Vater?«

Wieder zögerte sie unschlüssig. »Ich glaube, mein Vater ist über ihren Verlust nie hinweggekommen. Er hat sie aus Liebe geheiratet … und sie ihn aus demselben Grund, schätze ich. Viel mehr hatten sie sonst nämlich nicht gemeinsam.«

»Sie hatten dich.«

Khalidah lächelte wehmütig. »O ja. Ein einziges Kind, und noch dazu eine Tochter.«

»Und trotzdem muss deinem Vater viel an dir gelegen haben, sonst hätte er dich nicht wie einen Sohn aufgezogen.«

»In vieler Hinsicht, ja. Aber manchmal zweifle ich an der Weisheit dieser Entscheidung.«

»Sie hat dir gerade das Leben gerettet.«

»Stimmt. Vielleicht hat er irgendein Versprechen gehalten, das er meiner Mutter gegeben hat«, meinte Khalidah nachdenklich. »Oder er war einfach nur verzweifelt, weil er keinen Sohn hatte.«

»Spielt das jetzt noch eine Rolle?«

Diesmal gab Khalidah keine Antwort.

»Also bist du in der Kunst des Schwertkampfes sowie in Poesie und Musik unterwiesen worden. Was hast du sonst noch gelernt?«

»Ja, was noch?« Khalidah schüttelte den Kopf. »Ich habe gelernt, dass ein Stamm seinem Anführer vergibt, eine Fremde geheiratet zu haben, aber seinem Kind nie verzeiht, dass es ihr Blut in sich trägt.  Ich habe gelernt, dass Männer einem Mädchen nicht trauen, wenn es zu gebildet ist oder wenn seine Fähigkeiten den ihren überlegen sind. Ich habe gelernt, dass letztendlich die größte Sorge eines Vaters bezüglich seiner Tochter darin besteht, sie loszuwerden … dass nur Tiere dir echte Liebe entgegenbringen … dass wahre Freiheit einzig und allein auf dem Rücken eines Pferdes existiert …«

Sulayman wartete darauf, dass sie weitersprach. Als sie beharrlich schwieg, sagte er trocken: »Soll ich dich jetzt bemitleiden?«

»Das bleibt dir überlassen.«

Sulayman dachte eine Weile nach. Dann fragte er: »Und Zeyneb? Wie viel bedeutet sie dir?«

Khalidah seufzte. »Als Kind hat sie mir alles bedeutet. Jetzt ist sie der einzige Mensch, um dessentwillen ich Gewissensbisse verspüre. Sie war im Grunde genommen meine wahre Mutter.«

»Wo kommt sie her?«

»Woher weißt du, dass sie keine Hassani ist?«

Sulayman zuckte die Achseln. »Nur so ein Gefühl? Nun?«

»Ich weiß nicht, woher sie zu uns kam, und auch nicht, wann - nur dass es vor dem … Verschwinden meiner Mutter gewesen sein muss.«

»Hast du sie denn nie gefragt?«

»Doch, natürlich. Aber sie hat mich immer schroff abgefertigt. Sie sprach nie über ihre Vergangenheit oder über Bilals Vater oder über den Grund, weshalb sie nicht mehr mit ihm zusammen war. Aber manchmal weinte sie nachts, wenn sie dachte, ich könnte es nicht hören.«

»Du liebst sie«, stellte Sulayman sachlich fest. »Und sie liebt dich.«

»Ja«, erwiderte Khalidah weich, und dann noch einmal: »Ja.«

»Was ist mit ihrem Sohn?«

»Bilal? Wir sind zusammen aufgewachsen, wie Zwillinge. Er war mein bester Freund - mein einziger Freund, um genau zu sein. Die  Beduinen stehen Menschen mit fremdländischem Blut in den Adern äußerst misstrauisch gegenüber.«

»Aber?«

Khalidah seufzte. »Bilal ist schwierig. Abwechselnd überschäumend fröhlich und dann wieder zutiefst melancholisch, und seine Stimmung kann ohne ersichtlichen Grund von einem Moment zum anderen umschlagen. Man muss immer auf alles gefasst sein. Außerdem ist er mit seinem Leben unzufrieden. Er brennt vor Ehrgeiz, sieht aber keine Möglichkeiten, seine hochfliegenden Pläne zu verwirklichen. Und seit einiger Zeit …«

»Ist eure Beziehung komplizierter geworden«, beendete Sulayman den Satz für sie. »Seine Liebe zu dir geht über deine zu ihm weit hinaus.«

Khalidah nickte. Nach einem Moment fragte sie: »Warum interessierst du dich so für Zeyneb und Bilal?«

Aber er schüttelte nur den Kopf und verfiel in Schweigen, während die am Himmel aufsteigende Sonne sie zu blenden begann, der Sand vor ihren Augen verschwamm und ihre Schatten in Richtung ihrer Heimat zuckten, während ihre Körper sich immer weiter von ihr entfernten.

Wuestentochter
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