12

Die Spuren waren leicht zu finden, wenn man wusste, wonach man suchen musste. Doch Daqaq bereitete es kaum Befriedigung, so mühelos darauf gestoßen zu sein. Er konnte sich angenehmere Möglichkeiten denken, seine Zeit herumzubringen, als die treulose Verlobte seines Herrn quer durch die Wüste zu verfolgen, aber Numair hatte darauf bestanden. Daqaq wusste nicht, was er sich davon versprach. Ihm war nur befohlen worden, sie aufzustöbern und lebendig zu Numair zurückzubringen.

Am späten Nachmittag dieses Tages bog die Fährte abrupt zu einem Sandsteinvorsprung bei einer kleinen Quelle ab und endete dort. Daqaq stieg von seinem Kamel, während seine Kameraden im Schatten des Felsens warteten. Wie eine Eidechse kroch er über den sandigen Untergrund und untersuchte das Gelände rund um das Felsgestein sorgfältig, fand aber nicht die geringste Spur von Khalidah, ihrem Liebhaber und den beiden Pferden. Es war, als habe sich die Erde aufgetan und sie alle verschluckt, und wenn er abergläubisch  oder religiös gewesen wäre, hätte er vermutlich genau das geglaubt. Aber Daqaq war ein durch und durch praktisch denkender Mann, und so kam er gleich zu dem richtigen Schluss.

»Sie haben gestern hier gelagert und sind letzte Nacht aufgebrochen. Sie sind auf dem Weg nach Domat al-Jandal.«

Seinen Männern, die wussten, dass eine Reise nach Domat al-Jandal eine Durchquerung der Nafud bedeutete, entrang sich ein unterdrücktes Stöhnen. Einer von ihnen, ein weinerlicher Vierzehnjähriger namens Jafar, der sie nur begleitete, weil er einer von Abd al-Hadis Bastarden war, ging sogar so weit, zu fragen: »Ab hier sind keine Spuren mehr zu sehen. Woher willst du wissen, dass sie gerade dorthin wollen?«

»Eine Lektion für dich, mein Junge.« Daqaqs Stimme klang kalt und gelassen. »Eine Wüste ist wie ein Meer, auf dessen Weiten ein Schiff der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen gleicht. Aber kein Schiff kann auf Dauer auf dem offenen Meer überleben. Früher oder später muss es einen Hafen anlaufen. An-Nafud ist das Meer, Domat al-Jandal der Hafen.«

Er stieg wieder in den Sattel, und sein knieendes Kamel erhob sich. Wieder blickte er gen Osten. Jafar machte Anstalten, weiter zu quengeln, doch Daqaqs Geduld war erschöpft. Er versetzte seinem Kamel einen Schlag mit seiner Gerte, gab vor, Jafars erschrockenes Gekreische nicht zu hören, als dessen Kamel unverhofft angaloppierte, und hoffte wider besseres Wissen, der Junge würde aus dem Sattel geschleudert werden und sich den Hals brechen.

Sie brauchten fünf Tage, um die Stadt zu erreichen. Während der kräftezehrenden Durchquerung der Wüste klammerte sich Daqaq an die Vorstellung, Khalidah gefangen zu nehmen, wie an ein Leuchtfeuer, das ihm den Weg wies. Er stellte sich das nackte Entsetzen auf ihrem Gesicht vor, wenn er sie packte; ihre flehentlichen Bitten um Gnade; ihre Angst, wenn er nicht darauf einging und stattdessen ihren  Liebhaber mit seinem Schwert durchbohrte. Doch als sie schließlich in die Stadt einritten, schwand seine Zuversicht merklich. Domat al-Jandal befand sich in Aufruhr, und er brauchte nicht lange, um den Grund dafür herauszufinden. Die Nachricht von Arnats gotteslästerlicher Herausforderung hatte sich bereits vor ihrer Ankunft wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet, und obwohl noch kein offizieller Ruf zu den Waffen erlassen worden war, strömten bereits muttawiyah aus allen Teilen des Reiches nach Damaskus. Alle Gasthäuser wimmelten von Freiwilligen, die sich aus religiösen Gründen der Armee anschließen wollten - zumeist Männern, die von weither kamen. Khalidah und den Spielmann würde es keine große Mühe kosten, in dieser Menge unterzutauchen. Aber Daqaq wagte nicht, zu seinem Herrn zurückzukehren, ohne zumindest einen Versuch unternommen zu haben, die beiden zu finden. Er schickte seine Männer mit dem Auftrag in sämtliche Richtungen los, sich in allen Gasthäusern und Schänken nach einem qanun-Spieler zu erkundigen. Gegen Abend sollten sie sich an einem bestimmten Treffpunkt versammeln. Die Adresse hatte er ihnen bereits genannt.

Seine Gefolgsleute ritten gehorsam davon, nur Jafar widersprach hochmütig: »Ich für meinen Teil denke gar nicht daran, meine Zeit mit einem so fruchtlosen Unterfangen zu verschwenden.«

»Was soll das heißen?«, herrschte Daqaq ihn an.

»Nur ein Narr wäre hier öffentlich aufgetreten und hätte die Aufmerksamkeit der Leute auf sich gelenkt, nachdem er weniger als eine Woche auf der Flucht ist.«

»Sie mussten überstürzt auf brechen«, knirschte Daqaq mit zusammengebissenen Zähnen. »Das heißt, sie konnten kaum etwas mitnehmen. Wie sollen sie sich denn ihren Lebensunterhalt verdienen, wenn nicht mit seiner Spielmannskunst?«

Jafar schüttelte den Kopf. »Du hast keine Ahnung, was du tust, nicht wahr?«

Daqaqs Hände schossen vor. Er packte Jafar am Saum seines Gewandes und zog ihn so unsanft zu sich hin, dass der Junge beinahe aus dem Sattel gerutscht wäre. »Jetzt hör mir einmal gut zu, mein Junge«, zischte er. »Dass das Blut des Scheichs in deinen Adern fließt, mag dich ja in seinem Lager beschützen, aber hier draußen ist es einen Kameldreck wert. Ich habe viele Freunde hier. Ein Wort von mir, und dein Kopf hat die längste Zeit auf deinen Schultern gesessen.«

»Das würdest du nie wagen«, fauchte Jafar. »Wenn mir etwas zustößt, wird der Scheich dich hinrichten lassen.« Aber er konnte die in seinen Augen aufflackernde Angst nicht ganz verbergen.

Daqaq kicherte böse. »Du leidest unter krankhafter Selbstüberschätzung, Junge. Wenn dich ein unglücklicher Unfall den Kopf kostet, wird es deinen Vater nur am Rande interessieren, das kannst du mir glauben. Aber wenn du es darauf ankommen lassen willst …«

Mit nacktem Hass in den Augen wendete Jafar sein Kamel und ritt in die überfüllten Straßen hinein. Daqaq stieß erleichtert den Atem aus, als der Junge in der Menge verschwand. Obwohl er das Gegenteil behauptet hatte, wusste er, dass Jafars Worte der Wahrheit entsprachen. Er hatte sich lange Zeit eingeredet, Khalidah könne ihm nicht entkommen, aber seine anfängliche Sicherheit drohte allmählich in blinde Panik umzuschlagen. Numair hatte ihm befohlen, nicht ohne sie zurückzukommen, und diesen Befehl musste er ausführen, obwohl er zu fürchten begann, dies werde sich in dieser von Menschen wimmelnden Stadt als unmöglich erweisen. Zum Glück hatte er noch einen Trumpf, den er ausspielen konnte. Er nahm sich zusammen und lenkte sein Kamel gen Osten.

 Musa war ein alter Mann mit einem von Falten zerfurchten Gesicht, einem grausamen Mund und einer noch grausameren Vergangenheit. Seine Muttersprache war Persisch, und in seinen Adern flossen ein paar Tropfen Hazara-Blut, wie sein rundes Gesicht und die leicht  schräg stehenden Augen bewiesen. Das hatte ihn allerdings nicht davon abgehalten, in den Diensten verschiedener persischer umara  Schiiten zu Dutzenden abzuschlachten. Er hasste seine Heimat Khorasan, das dort ansässige Volk noch weit mehr, und er konnte nicht begreifen, weshalb sein junger Freund um einer Frau mit Khorasani-Blut willen eine so lange, anstrengende Reise auf sich nahm.

»Ich bin der Gefolgsmann eines reichen und mächtigen Scheichs«, erklärte Daqaq, als sie in der sinkenden Nachmittagssonne vor Musas Trödelladen saßen. »Ich tue nur, was mir befohlen wurde.«

»Aber was will dieser Numair denn mit dem Weib anfangen?« Musa reichte ihm das Mundstück der Huka. »Warum will er ein Mädchen heiraten, das ihn hasst und ihm das Leben zur Hölle machen wird, wo er doch nur ihren Vater töten und das Land, das er so begehrt, mit Gewalt an sich reißen muss? Hat das dein Stamm nicht seit Jahrhunderten getan?«

»Ich denke, hinter dieser Angelegenheit steckt mehr, als mir bekannt ist.« Daqaqas glasige Augen verrieten, dass das banj bereits Wirkung zeigte. »Das ist bei meinem Herrn häufig so.«

»Mmm. Dann ist es vielleicht an der Zeit, dass du dir einen neuen Herrn suchst. Bleib hier - ich finde schon Arbeit für dich.«

Daqaq schüttelte nur lächelnd den Kopf. Trotz aller Widrigkeiten wusste er, dass er kein anderes Leben als das eines Nomaden führen konnte.

»Sag mir eines«, fuhr Musa nach einer Weile fort. »Von welchem Stamm kam denn die Mutter dieses Mädchens?«

Daqaq überlegte kurz, dann erwiderte er: »Ich weiß nur, dass sie sich al-Dschinn nannte.«

Musa brach in Gelächter aus, dabei blies er Rauchwolken in die stickige Luft.

»Ich wiederhole nur, was mir gesagt wurde«, erwiderte Daqaq gekränkt.

Musa winkte abschätzig mit der Hand ab. »Natürlich, natürlich. Al-Dschinn, ich verstehe. Die Dschinn existieren wirklich, das gebe ich zu, aber sie werden den Legenden, die sich um sie ranken, schon lange nicht mehr gerecht. Sie sind nicht viel mehr als eine Horde Bergbanditen, die sich für einzigartig halten. Ihre Frauen gelten als eigenwillig und unlenkbar.« Er fixierte Daqaq mit dem scharfen Blick sehr alter Menschen. »Bist du jemals einem Angehörigen der Dschinn begegnet?«

»Ja, einmal - Khalidahs Mutter.«

»Und hat sie ihrem Mann Glück gebracht? Oder lass es mich anders ausdrücken - hat sie ihm je etwas anderes als Unheil beschert?«

»Sie hat ihm vor ihrem Tod nur diese eine Tochter geschenkt. Und er hat nie wieder geheiratet.«

»Gerade das meinte ich.« Musa seufzte. »Ich glaube, bei deiner Suche nach diesem Mädchen wird nichts Gutes herauskommen - ganz sicher nicht für deinen Herrn. Aber ich werde dir helfen, sie zu fangen, wenn du darauf bestehst.«

Daqaq funkelte ihn finster an. »Ich dachte, du hättest keine Neuigkeiten über ihren Verbleib?«

»Das habe ich auch nicht. Was nicht heißt, dass ich nicht über die Möglichkeiten verfüge, mir welche zu verschaffen.«

Daqaq dachte gerade über eine bissige Antwort nach, als er ein Kamel die Straße entlang auf sich zureiten sah. Der Reiter war Ali; er hatte ohne Erfolg das gesamte Westviertel der Stadt durchkämmt. Jafar traf wenig später mit seinem Kamel am Zügel ein. Auch er hatte nichts in Erfahrung bringen können. Als Mahmud zurückkehrte, war es bereits dunkel, und Daqaq und die restlichen Männer saßen in dem kleinen Hof hinter Musas Laden und verzehrten eine Mahlzeit aus Pilaw und Joghurt, die Musas Frau aufgetragen hatte. Daqaq sah Mahmud sofort an, dass er gute Nachrichten mitbrachte.

»Du hast etwas herausgefunden?«, fragte er.

Mahmud nickte, ehe er sich zum Essen setzte. »In einem Gasthaus  nicht weit von hier wurden heute zwei Reiter gesehen. Ein junger Mann und ein Junge, beide auf ausgezeichneten Pferden, einem kastanienbraunen und einem grauen. Das Gasthaus ist ein armseliger Schuppen, der schwerlich gut bewacht werden dürfte.«

»Gepriesen sei Allah!«, entfuhr es Daqaq. Ein breites Grinsen huschte über sein ernstes Gesicht. »Dort werden wir sie leicht überwältigen können.« Musas zweifelnder Blick entging ihm nicht, aber er achtete nicht darauf. »Du hast deinem Herrn einen großen Dienst erwiesen«, wandte er sich an Mahmud. »Wenn wir nach Hause zurückkehren, werde ich dafür sorgen, dass du angemessen belohnt wirst.«

Die Männer begannen, sich einen Plan zurechtzulegen, um Khalidah und den Spielmann möglichst rasch in ihre Gewalt zu bringen, während der alte Musa ihnen schweigend zuhörte. Sie würden bis zu den frühen Morgenstunden warten, dann in das Gasthaus eindringen, die Flüchtlinge aufstöbern, den Spielmann töten und Khalidah lebend gefangen nehmen.

 Musa zeigte sich wenig überrascht, als die Männer bei Tagesanbruch mit leeren Händen zurückkehrten. »Wir haben jeden Raum durchsucht«, erklärte Daqaq. »Sie waren nirgendwo zu finden.«

»Und der Wirt?«, warf Musa ein. »Habt ihr denn nicht daran gedacht, ihn zu befragen?«

»Wir durften uns nicht sehen lassen.«

»Was ist mit dem Hof? Gab es keine Nebengebäude? Ställe oder Ähnliches?«

Die Männer wechselten betretene Blicke. »Wir gehen sofort zurück«, befahl Daqaq.

»Davon würde ich euch abraten.« Musa deutete durch das Ladenfenster zum Himmel. Der Horizont nahm bereits die Farbe eines Lapislazuli an, bald war es Zeit für die Morgengebete. Stille trat ein. Daqaq sah Musa an, der seine leise Belustigung nicht verhehlen konnte.

»Du hattest Recht, alter Mann«, gab er widerstrebend zu. »Willst du mir also helfen?«

Musas verzerrte Lippen krümmten sich zu einem Grinsen.

 

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