17

Ende Juni wusste Saladin, dass seine Zeit gekommen war. Die Schlachtensaison war herangerückt, und seine Armee würde nie größer noch kampfbereiter sein. Am 24. Juni befahl er bei Tal Tasil eine Truppenparade, und während er mit seinem Gefolge auf dem Hügel stand, marschierte die Armee in voller Truppenstärke an ihnen vorbei. Saladin zählte zwölftausend professionelle Kavalleristen und dreiunddreißigtausend gemeine Soldaten; von dem kaum ausgebildeten murrawiyah bis hin zu den tödlichen Feuertruppen mit ihren Naphtakugeln, den berittenen türkischen Elitebogenschützen und den Beduinen-ghuzat.

»Fünfundvierzigtausend Seelen, die alle darauf brennen, für Allah zu kämpfen«, sagte er danach in seinem Zelt zu seinen umara. »Die Gelegenheit, die sich uns jetzt bietet, kommt vielleicht nie wieder. Meiner Ansicht nach muss die muslimische Armee allen Ungläubigen in einer geschlossenen Schlacht entgegentreten. Wir müssen mit dem Dschihad beginnen, bevor die Männer des Wartens überdrüssig werden.«

Niemand erhob Einwände, also fuhr der Sultan fort: »Wir sind dem Feind schätzungsweise in einem Verhältnis drei zu zwei überlegen - eine gut ausgebildete, fest zusammenhaltende Armee hätte also  durchaus eine Chance, uns zu besiegen. Aber die besten fränkischen Ritter sind bei Cresson gefallen, die Barone noch immer entzweit, und Guy ist so chronisch wankelmütig wie eh und je. Die Franken können uns in einer Feldschlacht nicht schlagen, also müssen wir alles daransetzen, sie in eine solche zu verstricken. Es ist Zeit, die Falle mit dem Köder zu bestücken und zu hoffen, dass der Feind danach schnappt.«

»Was für eine Falle?«, fragte Al-Afdhal.

»Was für ein Köder?«, fügte Al-Zahir hinzu.

»Unser eigenes karges, unwirtliches Land und ihre unbeugsame Ritterlichkeit«, erwiderte Saladin.

Und mehr sagte er an diesem Abend nicht, sosehr seine Söhne und seine Befehlshaber ihn auch bestürmten.

 Obwohl sich Saladin bezüglich seines endgültigen Planes hartnäckig ausschwieg, ließ er an seinem nächsten Ziel keinen Zweifel. Er wollte den Franken auf eine Weise den Krieg erklären, die sie nicht ignorieren konnten, und so wandte er am 26. seine Armee gen Westen, während die Edelleute in Akkon immer noch heftige Dispute austrugen. Bevor er die Truppen in Marsch setzte, ließ er den Blick über das ungeheure Meer von Soldaten hinter ihm schweifen, hob sein Schwert und donnerte: »Sieg über die Feinde Allahs!« Der Ruf wurde begeistert aufgenommen, und die Schreiber kritzelten pflichteifrig auf ihren Tafeln herum, um für die Nachwelt Worte festzuhalten, deren Echo achthundert Jahre lang mit unverminderter Macht widerhallen würde.

Am ersten Tag erklommen sie die Golanhöhen, auf denen sie die Nacht verbrachten. Am nächsten ließen sie die Hauran-Ebene hinter sich und marschierten am westlichen Rand der Höhen entlang, wo die Hügel allmählich Felsklippen wichen, die steil zum See Genezareth abfielen. Gegen Mittag überschritten sie südwestlich von der  Stadt Fiq die Grenze zum Herrschaftsgebiet der lateinischen Staaten. Inzwischen hatten auch alle, die nicht in Saladins Pläne eingeweiht waren, erkannt, dass das Ziel des Sultans nicht die unsichere Grenze zwischen ihrem Land und dem fränkischen Königreich, sondern die weitaus bedeutendere des Jordans war. Der Fluss, an dem Johannes einst Jesus getauft hatte, bildete den Punkt, von dem ab es kein Zurück mehr gab: Sowie die Armee des Sultans ihn überschritt, lagen die beiden Königreiche im Krieg miteinander.

Am späten Nachmittag erreichten die Truppen den Yarmuk und folgten ihm eine Stunde lang, bis Saladin sie wieder Richtung Norden abschwenken ließ und auf den Zusammenfluss des Jordan und des Sees Genezareth zumarschierte. Diese Nacht schlugen sie ihre Zelte in Al-Qahwani auf, einem armseligen, verfallenen kleinen Dorf am Ufer des mächtigen Stroms. Die Häuser aus Lehm und Ziegeln sahen aus, als würden sie jeden Moment in sich zusammenfallen und mit dem morastigen Boden verschmelzen, auf dem sie erbaut worden waren. Die Gegend war feucht und von Fliegen verseucht, und das Dorf lag gleich weit von Tiberias und der großen Hospitaliterfestung Belvoir entfernt - und in unmittelbarer Nähe des Jordan. Klarer hätte der Sultan seine Absichten nicht kundtun können.

Wie es Saladin beabsichtigt hatte, warfen Guys Kundschafter auf der anderen Seite des Flusses nur einen Blick auf die geballte muslimische Armee, dann wendeten sie ihre Pferde und jagten in vollem Galopp nach Akkon zurück, um dem König diese Neuigkeit zu überbringen. Und wie der Sultan gehofft hatte, verlagerte der verunsicherte Guy daraufhin seine Ritter und Edelmänner sofort nach Saffuriyya, wodurch er die Entfernung zwischen den beiden Armeen halbierte. Als dies geschah, gestattete sich Saladin einen erleichterten Seufzer, denn nun befand sich der Feind in seiner Sichtweite. Er berief eine Versammlung seines eigenen Kriegsrates ein, um seinen nächsten Schritt zu besprechen - der Salim als ein Schritt nach hinten erschien.

»Weitere Überfälle?«, sagte er zu Bilal, als sie das Zelt seines Vaters verließen. »Ich dachte, das läge endgültig hinter uns.«

Bilal schüttelte den Kopf. »Es ist wie in Amman - wie bei all unseren Kämpfen mit den Franken, seit sie Al-Quds eingenommen haben, nehme ich an. Wir mögen ihnen ja zahlenmäßig überlegen sein, aber das nützt uns wenig, wenn sie sich hinter den Mauern ihrer Festungen verkriechen. Und in Saffuriyya haben sie alles, was sie brauchen: genug Wasser, offene Nachschubrouten … sie wären Narren, wenn sie die Festung verließen, um uns in einer offenen Feldschlacht entgegenzutreten.«

»Da stimme ich dir zu.« Salim hackte mit seinem Schwert auf eine verdorrte Yucca ein. »Aber ich halte sie auch nicht für so dumm, sich von ein paar Überfällen aus der Reserve locken zu lassen.«

»Du würdest dich wundern«, gab Bilal trocken zurück. »Es gibt unter ihnen genug, die nach unserem Blut lechzen.«

Sie hatten den Wasserrand erreicht. Das Licht der Lagerfeuer spiegelte sich auf der Oberfläche wider. Salim stieß sein Schwert in den schlammigen Boden, kauerte sich daneben nieder und fragte: »Warum hast du meinem Vater von de Ridefort erzählt?«

Bilal seufzte. »Es ging nicht anders, Salim. Er und Numair können alles Mögliche gegen uns aushecken.« Er hielt inne. »Bist du sehr böse?«

»Weil du es ihm gesagt hast? Nein. Weil du vorher nicht mit mir gesprochen hast - ein bisschen.« Er sah Bilal an. Seine Augen schimmerten klar und wach. »Ich weiß, dass ich in der letzten Zeit nicht ganz ich selbst war, aber ich bin keine solche Memme, dass ich mich vor meinen Pflichten gedrückt hätte.«

Bilal kniete sich neben ihn. »Deswegen habe ich dir die Unterredung mit deinem Vater nicht verschwiegen.«

»Weshalb denn dann?«

Bilal kratzte seinen Namen in den Schlamm und setzte den von Salim daneben. »Weil ich Angst hatte.«

Salim musterte ihn nachdenklich. »Sag jetzt nicht, du hättest Angst um mich gehabt.«

Bilalblickte auf. »Und warum nicht? Ich liebe dich, Salim, ich könnte ein Leben ohne dich nicht ertragen. Und da dich das zu einer Zielscheibe für all jene macht, die mir nicht freundlich gesinnt sind …«

»Schon gut«, wehrte Salim müde ab. »Was hat mein Vater denn gesagt?«

»Er bat mich, gut aufzupassen?«

»Wovor?«

Bilal schüttelte den Kopf. »Auf wen.«

»Auf mich?«

»Natürlich.«

»Und auf dich selbst.«

»Das hat er nicht gesagt.«

Salim lächelte. »Es sähe dir ähnlich, das nicht aus seinen Worten herauszuhören.«

»Es ist ohnehin egal.« Bilal löschte ihre Namen wieder und begann stattdessen ein abstraktes Muster in den Schlamm zu zeichnen. »Ein vorsichtiger Soldat ist ein nutzloser Soldat.«

»Dann werden wir wie die Thebaner sein«, stellte Salim nach kurzem Nachdenken fest.

»Die was?«

»Theben war ein antiker griechischer Stadtstaat und eine bedeutende Militärmacht. Sie wahrten ihre Unabhängigkeit auch noch, nachdem all ihre Nachbarn von den Makedonen unterworfen worden waren. Das Geheimnis ihres Erfolgs bestand in einem besonderen Kriegertrupp im Herzen ihrer Armee, der dreihundert Männer umfasste - hundertfünfzig Liebespaare. Sie waren gute Soldaten, aber es war ihre Liebe, die sie zu Elitekämpfern machte. Es gibt ein Zitat von Plutarch, genau kann ich es nicht wiedergeben … etwas in der Art, dass Männer, zwischen denen nur Familienbande bestehen, nicht gewillt sind, sich füreinander in Gefahr zu begeben; diejenigen, die eine romantische Liebe verbindet, dagegen unbesiegbar sind. Sie kämpfen ohne Furcht, sagt er, weil sie es nicht ertragen können, von ihren Geliebten für feige gehalten zu werden. Die Heilige Schar … so hat man sie genannt. Die Heilige Schar von Theben.«

»Was wurde aus ihr?«, fragte Bilal, obwohl er nicht sicher war, dass er die Antwort wirklich hören wollte.

Salim zuckte betont lässig die Achseln. »Sie wurden am Ende in der Schlacht von Chaironeia von Philip II. von Makedonien und seinem Sohn Alexander geschlagen. Es heißt, jeder Einzelne von ihnen hätte bis zum Tod tapfer gekämpft. Kein Wunder, dass Theben an diesem Tag seine Unabhängigkeit verlor.«

»Das ist nicht gerade eine Geschichte, die Mut macht«, meinte Bilal, obgleich Salims Gesicht vor Begeisterung glühte.

»Findest du?« Salim zog die Brauen hoch. »Was hat dir denn in jener Nacht in Oultrejourdain die Kraft gegeben, de Ridefort die Stirn zu bieten?«

Bilal brachte keinen Ton heraus; noch nicht einmal, um Salim zu fragen, woher er von dieser Auseinandersetzung wusste. Doch sein gesenkter Blick war Antwort genug.

»Wenn du für mich kämpfen kannst, Bilal al-Hassani, dann kann ich auch dasselbe für dich tun.« Im selben Atemzug fügte er hinzu: »Es tut mir leid, dass ich mich seit Cresson so dumm verhalten habe.«

»Ich weiß«, erwiderte Bilal ruhig.

»Es kommt mir vor, als wäre ich an jenem Tag innerlich erfroren, aber als ich dich mit Numair kämpfen sah, da fing irgendetwas in mir Feuer, und ich fand wieder zu mir zurück. Es war wie … wie …«

»Ich weiß«, wiederholte Bilal. »Du brauchst nichts mehr zu sagen.«

»Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die ich dir sagen muss«, widersprach Salim. »Aber sie können warten.«

»Was hast du vor?«, fragte Bilal, als sein Freund sich zu entkleiden begann. Der Prinz antwortete, indem er seine Gewänder über sein im Boden steckendes Schwert hängte und in das dunkle Wasser watete. Dann streckte er eine Hand nach Bilal aus.

»Ich kann nicht schwimmen«, erwiderte dieser.

»Ich lasse dich nicht los«, versicherte Salim ihm.

Weder an diesem noch an einem der beiden darauffolgenden Tage, die sie bei Al-Qahwani lagerten, machten sie sich die Mühe, ihr Zelt aufzubauen. Wenn die Abenddämmerung hereinbrach, schwammen sie, bis sie erschöpft waren, und legten sich dann in die Decke gehüllt, die sie seit Busra teilten, im Gras am Ufer nieder. Das Schwimmen fiel Bilal erstaunlich leicht; es war fast so, als kehre die Erinnerung an etwas zurück, was er einst beherrscht hatte. Darüber wunderte er sich immer wieder aufs Neue, da er seine gesamte Kindheit in der Wüste verbracht hatte.

»Warum?«, meinte Salim, als Bilal eine dementsprechende Bemerkung machte. »Du bist wie ein Fluss.«

»Inwiefern?«

»Dein Gesicht verrät wenig und verdeckt viel. Du liebst im Stillen … und doch ist es das stille Wasser, die Strömung unter der Oberfläche, die Täler aus Bergen wäscht.«

Salims Schulter hob sich vom Nachthimmel ab wie einer der sanft geschwungenen Hügel ringsum. »Weißt du eigentlich, wie viel du mir bedeutest?«

»Herz meines Herzens«, flüsterte Salim und zog ihn enger an sich.

 Am ersten Morgen in Al-Qahwani hatte Salim sein saqa wieder zusammengezogen. Danach hielten sie sich jeden Tag im Morgengrauen bereit und warteten auf die Befehle des Sultans. Diese wichen nie voneinander ab. Auf der Karte, die er seinen umara am ersten Abend am Jordan gezeigt hatte, hatte Saladin ein Gebiet von der Form einer Speerspitze eingezeichnet, die auf Nazareth, Tiberias und den Berg Tabor zeigte.

»Löscht dort alles aus«, hatte er geschnarrt.

Salim begriff schnell, dass es ein Irrtum gewesen war, die neuerlichen Überfälle als Rückschritt zu bezeichnen. Sie hatten nichts mit ihren Vorstößen in Oultrejourdain gemein, die zwar erfolgreich, aber oft auch chaotisch verlaufen waren. Jetzt schlugen die Stoßtrupps mit rascher, brutaler Präzision zu, steckten Felder und Dörfer in Brand und streckten jeden nieder, der ihnen Widerstand zu leisten wagte. Sie machten weder Gefangene noch Beute, sondern richteten nur eine größtmögliche Verwüstung an und zogen sich dann auf die andere Seite des Flusses zurück, ehe der Frankenarmee Zeit blieb, ihr Lager ausfindig zu machen - geschweige denn, Truppen gegen sie auszuschicken.

Diese blitzartigen Überfälle zählten zu den größten Stärken der muslimischen Armee, und Saladin nutzte sie, um so viel Verwirrung zu stiften wie möglich, bevor er zu seinem endgültigen Schlag ausholte. Aber sie dienten auch noch einem anderen Zweck. Der Sultan musste absolut sicher sein, dass sich der Hauptteil der gegnerischen Armee in Saffuriyya befand, ehe er seine Pläne in die Tat umsetzte, und seine Männer lieferten ihm dank ihrer Streifzüge durch das Umland die gewünschten Informationen.

So rief Saladin am 29. Juni des christlichen Kalenders einmal mehr seine umara zusammen und befahl ihnen: »Brecht eure Zelte ab und haltet euch bereit. Morgen überqueren wir den Fluss.«

 Sie überquerten ihn bei der Brücke von Sennabra, was fast einen ganzen Tag in Anspruch nahm. Als die letzten Nachzügler das Wasser hinter sich gelassen hatten, hatte Saladin schon fünf Meilen westlich von Tiberias bei Kafr Sabt seine Zelte aufgeschlagen und die Hauptstraße von dort nach Saffuriyya blockiert. Von seiner jetztigen Position aus konnte er jeden fränkischen Vorstoß abfangen.

In der Zwischenzeit schickte er einen Soldatentrupp nach Tiberias (›Der Köder‹, beschied er jeden knapp, der nach dem Grund dafür fragte) und sandte Kundschafter nach Saffuriyya, um in Erfahrung zu bringen, wie die Franken auf diese Schachzüge reagierten. Salim bat darum, sich ihnen anschließen zu dürfen, und wider besseres Wissen gab der Sultan endlich nach.

»Ich nehme an, du willst Bilal al-Hassani mitnehmen«, sagte er.

»Ohne ihn würde ich nirgendwo hingehen.«

Der Sultan maß seinen Sohn mit einem harten Blick, dann seufzte er. »Salim … versteh das, was ich dir gleich sagen werde, nicht falsch, denn mir ist der Junge auch ans Herz gewachsen, und obwohl ich als treuer Diener Allahs die Natur eurer … äh … eurer Beziehung nicht gutheißen kann …«

Salim unterdrückte ein Lächeln. Es war das erste Mal, dass er seinen Vater nach den richtigen Worten suchen sah. Aber da es ihm nicht gefiel, ihn in solcher Verlegenheit zu sehen, unterbrach er rasch: »Ich verstehe, abatah. Du brauchst nichts weiter zu sagen.«

Wieder seufzte Saladin. »Ich fürchte, das muss ich, obgleich ich es lieber nicht täte. Ich weiß, dass du ihn liebst, Salim, und ich würde euch um nichts in der Welt trennen - aber die Welt selbst ist nicht so verständnisvoll. Du bist der Sohn eines Königs und er der Erbe eines Wüstenscheichs, auch wenn ihm das jetzt vielleicht noch nicht klar ist. Ihr werdet beide eines Tages über euer Volk herrschen, und ein Herrscher muss zum Wohle seiner Untertanen Opfer bringen. Zuallererst und vordringlich werden sie von dir erwarten, dass du Söhne zeugst.« Er brach ab und musterte Salim eindringlich. »Verstehst du mich?«

Salim sah ihn an. Sein Gesichtsausdruck glich dem einer Antilope, die von ihrem Wasserloch auf blickt und die Augen des Jägers auf sich  gerichtet sieht. Keine Furcht lag darin, nur Kummer und eine tiefe Resignation. In diesem Moment begriff Saladin, dass er seinem Sohn nichts gesagt hatte, was Salim nicht schon seit langer Zeit wusste, und obgleich er von der Art von Liebe, die Salim bevorzugte, nichts hielt, empfand er so aufrichtiges Mitleid mit ihm, als habe er ihm soeben die Hand seiner auserwählten Braut versagt.

Er versuchte, sich ein Lächeln abzuringen, was kläglich misslang. Doch zu seiner Überraschung streckte der Junge die Arme aus und umarmte ihn, und Saladin wurde plötzlich schmerzlich bewusst, dass er Salim nicht mehr liebevoll berührt hatte, seit er entwöhnt worden war. Doch noch ehe er weiter darüber nachdenken konnte löste sich Salim schon wieder von ihm.

»Danke, abatah«, sagte er.

»Dafür, dass ich die Worte ausgesprochen habe, die du am wenigsten hören wolltest?« Das kam bitterer heraus, als er beabsichtigt hatte.

»Für deine Aufrichtigkeit. Und dafür, dass du mir die Zeit gönnst, die mir mit ihm noch bleibt.«

Der Sultan fuhr sich müde mit der Hand über das Gesicht. »Schon gut, mein Junge. Lass uns nicht weiter darüber sprechen, bis die Zeit kommt … aber ich sollte nicht von der Zukunft sprechen, wenn wir gar nicht wissen, ob es übermorgen überhaupt noch eine für uns gibt. Geh jetzt und hole Informationen über die Franken ein. Und, Salim - ich muss dich ja wohl nicht daran erinnern, dass de Ridefort nach seinem Sohn Ausschau halten wird?«

Salim nickte. »Ich werde auf ihn Acht geben.«

»Ausgezeichnet«, erwiderte der Sultan trocken. »Und sorg dafür, dass er dasselbe für dich tut.«

Und so ritten Salim und Bilal, als die Sonne hinter den grünen Hügeln Galiläas unterging, mit einer Hand voll Kundschaftern zu dem Frankenlager in der Nähe von Saffuriyya. In der Nähe von Turan teilte  sich die Gruppe auf und bildete einen weitläufigen Halbkreis um das Lager. Bilal und Salim banden ihre Pferde in einem kleinen Wäldchen an und legten den Rest des Weges zu Fuß zurück. Als die ersten Zelte in Sicht kamen, war die Nacht hereingebrochen. Die Zelte waren klein, zerschlissen und in einem Kreis um ein Feuer herum aufgestellt. Eine Schar von Soldaten saß davor - wild aussehende Männer, dunkel wie die Araber, mit langem wirrem Haar, zottigen Bärten und schmutzigen Kleidern, die einen Weinkrug kreisen ließen. Es schien bei weitem nicht der erste zu sein, denn sie sprachen und lachten unbekümmert laut.

»Fußsoldaten«, stellte Salim angewidert fest.

»Wo kommen sie her?« Bilal runzelte die Stirn. »Sie sprechen nicht die Sprache der Franken.«

Salim sah ihn überrascht an. »Ich wusste gar nicht, dass du ihre Sprache beherrschst.«

Bilal zuckte die Achseln. »Nur ein paar Worte. Aber das ist unwichtig. Ich habe doch schon gesagt, dass sie nicht Fränkisch sprechen, obwohl mir ein paar Worte eigenartig bekannt vorkommen …«

»Das liegt daran, dass sie sich der Langue d’Oc bedienen - der Sprache des Südens des Frankenreiches.« Salim betrachtete die Soldaten nachdenklich. »Und da ich diese Sprache gleichfalls nicht verstehe, nutzen sie uns wenig. Komm weiter.«

Sie schlichen langsam am Rand des Lagers entlang, zogen sich zurück, wenn sie Wachposten erblickten und pirschten sich dann behutsam weiter vor. Das nördliche Ende, wo der Boden eben war, war am dichtesten besiedelt; Richtung Süden wurden die Zelte immer weniger, bis nur noch an den Hängen des Hügels von Nazareth eine dünne Linie niedriger Feuer flackerte. Bilal stellte erleichtert fest, dass von den Templern nichts zu sehen war, obwohl sie nicht weit von dem roten Seidenzelt, das Salim zufolge den König beherbergte, einige schwarzweiße Hospitaliterbanner entdeckten.

Hinter dem zentral positionierten Zelt des Königs schien keine ersichtliche Ordnung mehr zu herrschen; provisorische Unterschlupfe der nicht ausgebildeten Infanterie standen wahllos zwischen den Seidenzelten der wohlhabenden weltlichen Ritter. Unzählige verschiedene Sprachfetzen drangen an ihre Ohren: das Französisch des Nordens, die Langue d’Oc, ein paar seltsame abgehackte Worte, die laut Salim zu der Sprache der Menschen aus den mit Schnee und Eis bedeckten Ländern noch weiter oben im Norden gehörten; italienische Dialekte, deren Sprachmelodie der des Arabischen oft erstaunlich ähnlich war, obwohl die Worte so fremd klangen wie die der Sprachen des Nordens und arabisches Geschnatter aus dem Mund der muslimischen Söldner und der allgemein verachteten pullani, der fränkisch-arabischen Halbblute. Es war ein pullani-Lager, wo es ihnen endlich gelang, ein interessantes Gespräch zu belauschen.

»… sollten wir zur anderen Seite überlaufen, solange wir noch können«, sagte ein dunkler, knochiger Mann gerade zu seinen Kameraden. »Ich habe es von einem Knappen gehört, der mit ihnen in Akkon war - die Barone gehen sich gegenseitig an die Gurgel. Denkt an meine Worte … sie werden erst dann Ruhe geben, wenn sie dieses Land zerrissen und die einzelnen Teile an die muslimischen Schweine verfüttert haben.«

»Dieselben Schweine, auf deren Seite du dich stellen willst?«, höhnte ein kleiner, drahtiger Mann zu seiner Rechten, nahm einen Schluck aus einem Krug und reichte ihn dann dem größeren Soldaten.

»Besser ein Schwein als ein Sklave«, erwiderte dieser düster. »Es heißt, der Sultan hat hunderttausend Mann bei Caffarset stehen.«

»In seinen ganzen Ländern zusammen findet er keine hunderttausend Mann!«, empörte sich ein Dritter.

»Du bist ein Dummkopf«, wies ihn der erste Mann zurecht. »Der Sultan befehligt hundert Mal so viele.« Er schüttelte den Kopf. »De  Ridefort ist schon eifrig dabei, den König zu bearbeiten - es wird so kommen wie bei Cresson. Wie viele sind wir? Zwanzigtausend vielleicht, und nur tausendzweihundert davon Ritter. Der Sultan verfügt über mindestens doppelt so viele Leute. Gott will es - dass ich nicht lache! Dieser verrückte Templer und sein Freund Kerak werden zum Angriff blasen und dann dastehen und Beifall klatschen, wenn die Schweine uns bei lebendigem Leib verschlingen. Wie bei Cresson, sage ich euch.«

»Bist du sicher, dass die Zahlen stimmen?«, fragte der drahtige Mann, der merklich kleinlaut geworden war.

»So sicher, wie man nur sein kann«, versetzte sein Freund. »Ich sagte doch schon, dass ich mit einem Knappen aus Akkon gesprochen habe.«

Salim und Bilal krochen ins Dunkel zurück. Wenn man dem finsteren Halbblut glauben konnte, kannten sie jetzt die genaue Stärke von König Guys Armee und konnten dem Sultan wertvolle Informationen bringen. Jeder in seine eigenen Gedanken versunken gingen sie zu ihren Pferden und ritten schweigend zum Lager zurück. Dort angekommen machte sich Salim sofort auf den Weg zu seinem Vater, um ihm mitzuteilen, was sie in Erfahrung gebracht hatten. Bilal wandte sich zu seinem eigenen Zelt. Er war so mit seinen Sorgen und Bedenken beschäftigt, dass er erst merkte, dass es hell erleuchtet war, als er die Klappe in der Hand hielt und sie schon angehoben hatte, bevor er sich darüber wunderte. Daher dauerte es einen Moment, bis er die Erscheinung bewusst wahrnahm, die auf dem Teppich saß und den dunklen Kopf über ein Buch mit Gedichten beugte, mit dem sich Bilal an diesem Nachmittag im Lesen geübt hatte.

Die Erscheinung blickte auf, und ihn überkam dasselbe Gefühl wie in dem Moment, wo er das südliche Fränkisch gehört hatte: dass er Zeuge von etwas wurde, was für ihn einen Sinn ergeben sollte und es irgendwie nicht tat. Er erkannte das herzförmige Gesicht mit den  goldenen Augen unter fein geschwungenen Brauen sofort, doch die Zeit hatte ihm jetzt unauslöschlich fremde Züge verliehen. Die Veränderung ging über die Kajalstriche, die die Augen umrandeten, die dunklen Muster auf Stirn und Wangen, die Muskeln einer Kriegerin unter dem weißen Gewand und das Schwert in ihrer Schärpe hinaus. Doch als sie sich erhob und zaghaft lächelte, war sie mit einem Mal wieder seine Jugendfreundin.

»Khalidah?«, fragte er, als er in das Zelt trat und die Klappe fallen ließ.

»Bilal«, erwiderte sie. In ihrer Stimme schwangen die Gefühle mit, die ihr neues Gesicht verbarg. Zögernd streckte sie die Arme nach ihm aus, zögernd umarmte er sie, und dann fielen die vergangenen Monate und alles, was sie ihnen gebracht hatten, mit einem Mal von ihnen ab.

 

Wuestentochter
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
Wuestentochter_split_000.html
Wuestentochter_split_001.html
Wuestentochter_split_002.html
Wuestentochter_split_003.html
Wuestentochter_split_004.html
Wuestentochter_split_005.html
Wuestentochter_split_006.html
Wuestentochter_split_007.html
Wuestentochter_split_008.html
Wuestentochter_split_009.html
Wuestentochter_split_010.html
Wuestentochter_split_011.html
Wuestentochter_split_012.html
Wuestentochter_split_013.html
Wuestentochter_split_014.html
Wuestentochter_split_015.html
Wuestentochter_split_016.html
Wuestentochter_split_017.html
Wuestentochter_split_018.html
Wuestentochter_split_019.html
Wuestentochter_split_020.html
Wuestentochter_split_021.html
Wuestentochter_split_022.html
Wuestentochter_split_023.html
Wuestentochter_split_024.html
Wuestentochter_split_025.html
Wuestentochter_split_026.html
Wuestentochter_split_027.html
Wuestentochter_split_028.html
Wuestentochter_split_029.html
Wuestentochter_split_030.html
Wuestentochter_split_031.html
Wuestentochter_split_032.html
Wuestentochter_split_033.html
Wuestentochter_split_034.html
Wuestentochter_split_035.html
Wuestentochter_split_036.html
Wuestentochter_split_037.html
Wuestentochter_split_038.html
Wuestentochter_split_039.html
Wuestentochter_split_040.html
Wuestentochter_split_041.html
Wuestentochter_split_042.html
Wuestentochter_split_043.html
Wuestentochter_split_044.html
Wuestentochter_split_045.html
Wuestentochter_split_046.html
Wuestentochter_split_047.html
Wuestentochter_split_048.html
Wuestentochter_split_049.html
Wuestentochter_split_050.html
Wuestentochter_split_051.html
Wuestentochter_split_052.html
Wuestentochter_split_053.html
Wuestentochter_split_054.html
Wuestentochter_split_055.html
Wuestentochter_split_056.html
Wuestentochter_split_057.html
Wuestentochter_split_058.html
Wuestentochter_split_059.html
Wuestentochter_split_060.html
Wuestentochter_split_061.html
Wuestentochter_split_062.html
Wuestentochter_split_063.html
Wuestentochter_split_064.html
Wuestentochter_split_065.html
Wuestentochter_split_066.html
Wuestentochter_split_067.html
Wuestentochter_split_068.html
Wuestentochter_split_069.html
Wuestentochter_split_070.html