15

Khalidah erwachte, als sich im Osten die ersten wässrigen Lichtstrahlen zeigten. Kein Stern funkelte mehr am Himmel. Die Vögel schliefen noch; außer dem Wispern des Windes im Gras war kein Laut zu hören. Sie lag in ihren verrutschten Gewändern auf dem Rücken, eingehüllt in Sulaymans Arme, und genoss den tiefen Frieden erfüllten Begehrens. Sie beobachtete den sich verfärbenden Himmel und fragte sich, warum sie sich jemals mehr als das Glück dieses Augenblicks gewünscht hatte.

»Weil Verlangen nie mit der Erfüllung endet«, flüsterte Sulayman, als sie ihm dieselbe Frage stellte. »Kein menschliches Wesen hört je damit auf, sich nach etwas zu sehnen.«

Khalidah kicherte, weil sie bei diesen Worten seine Härte an ihrem Bein spürte. »Das merke ich gerade selbst.« Grinsend drehte sie sich zu ihm um und strich mit den Fingerspitzen über seinen Rücken. Es war jetzt hell genug, dass sie sehen konnte, wie er die Augen schloss und erschauerte. Ihr eigener Körper reagierte augenblicklich, doch er hielt ihre Hände fest und zog sie an seine Lippen.

»Nein, habibti«, murmelte er. »Dafür haben wir keine Zeit mehr.«

Khalidah seufzte. »Seit ich dich kenne, scheinen wir ein Pferd zu reiten, das dahinjagende Zeit heißt. Wird das je ein Ende haben? Werden  wir je so lange so beieinander liegen können, wie wir wollen, ohne an irgendetwas anderes als an uns denken zu müssen?«

Sein Lächeln erwärmte ihr Herz. Es war nicht sein altes Diebeslächeln, sondern eines, in dem unendliche Zärtlichkeit lag. In diesem Moment wusste sie, dass er, was immer auch geschehen mochte, nie eine andere Frau so anlächeln und dass dieses Lächeln sie bis zum Tag ihres Todes begleiten würde.

»Inschallah«, entgegnete er. »Und ich habe noch nie so sehr gehofft, dass Allah mir meinen Wunsch erfüllt.«

 Die Mädchen begannen sich gerade erst zu regen, als sie in den Schlafsaal zurückkehrte. Khalidah hoffte, sie würden denken, sie käme von einem Gang zum Abtritt zurück, aber niemand schien von ihr Notiz zu nehmen; alle beschäftigten sich nur mit ihren Reisevorbereitungen. Doch als Khalidah zu ihrem unberührten Bett trat, sah sie Abi Gul auf der Kante sitzen und sie mit scharfen Augen mustern.

»Ich wüsste doch zu gern, wo du die Nacht verbracht hast, Khalidah, denn hier warst du ganz sicher nicht.« Der vorwurfsvolle Ton war spielerisch gemeint, die Frage als solche jedoch ernst genug.

»Hast du die ganze Nacht auf mich gewartet?« Khalidah ließ ihre mit Grasflecken übersäten Kleider zu Boden fallen und streifte ein sauberes Gewand über.

»Allerdings«, erwiderte Abi Gul. »Ich habe kein Auge zugetan.« Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke. »Du warst bei Sulayman!«

»Ja.« Khalidah band ihre Schärpe um.

»Du musst mir unbedingt erzählen, wie es war - vielleicht bekomme ich ja keine Gelegenheit mehr, es selbst herauszufinden.«

Nachdem Khalidah ihre Satteltasche überprüft hatte, entgegnete sie: »Herausfinden? Was denn?«

Abi Gul seufzte. »Wenn du ein Geheimnis daraus machen willst, solltest du dir besser das Gras aus den Haaren kämmen.«

Khalidah betastete hastig ihr Haar. Es war zerzaust und starrte tatsächlich vor getrockneten Grashalmen. Entsetzt griff sie nach einem Kamm und begann die Knoten zu entwirren. Abi Gul sah ihr eine Weile belustigt dabei zu, dann mahnte sie: »Nun?«

»Ich würde es dir sagen, wenn ich könnte, Abi Gul.« Khalidah brachte nicht den Mut auf, ihrer Freundin dabei in die Augen zu sehen. »Aber ich finde nicht die richtigen Worte dafür.«

Abi Gul lächelte wehmütig. »Das macht nichts. Ich lese es dir vom Gesicht ab; es strahlt wie der Abendstern am Nachthimmel.« Wieder seufzte sie. »Ach, ich wünschte mir, jemand würde mich auch so lieben.«

»Das wird eines Tages sicher auch jemand tun, Abi Gul. Wer könnte dich nicht lieben?«

Abi Guls Gesicht umwölkte sich, was sie rasch hinter einem Lächeln zu verbergen versuchte. »Es wird Zeit, Bibi Khalidah. Bist du bereit?«

Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen, dachte Khalidah. Ich hoffe es zumindest.

 Obwohl sich das ganze Dorf einfand, um sie zu verabschieden, war diesmal weder der Jubel noch das Schluchzen zu hören, das den Aufbruch des Kriegertrupps von Rakan begleitet hatte. Die gespenstische Stille, die Khalidah am Abend zuvor am Fluss gespürt hatte, schien sich noch verstärkt zu haben. Die Reiter schnallten ihre Satteltaschen fest und überprüften die Lasten der Packpferde, dann ritten sie auf die Hügel zu, hinter denen Rakans Trupp verschwunden war.

Khalidah ritt hinter den Führern an der Spitze, Abi Gul zu ihrer Linken und Sulayman auf einem großen Hengst namens Sre Zer zu ihrer Rechten. Während ihrer ersten Woche in Qaf war Asifa rossig geworden, und obwohl die empfängnisbereiten Stuten sorgfältig von den Hengsten getrennt wurden, hatte man sie und Sre Zer eines  Tages friedlich Seite an Seite grasend außerhalb der Ställe vorgefunden. Obgleich es noch zu früh war, um festzustellen, ob sie trächtig war, hatte der Besitzer des Hengstes Sulayman versichert, Sre Zer habe bislang noch jede Stute gedeckt, mit der er zusammengekommen war, und darauf bestanden, dass er Asifa zurückließ und statt dessen den Hengst nahm.

Als sie die Obstgärten, die Häuser und schließlich das Übungsfeld hinter sich ließen, wurde Khalidah plötzlich bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wie man aus dem Tal hinausgelangte, denn sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie hergebracht worden war. Abi Gul lachte, als sie sie danach fragte.

»Hast du bislang noch nie darüber nachgedacht?«

»Dazu war ich dank deiner Mithilfe viel zu beschäftigt«, gab Khalidah zurück.

»Mohnsaft.« Abi Gul grinste.

»Was?«

»Kennst du die Wirkung von Mohnsaft nicht?«

Khalidah und Sulayman wechselten einen Blick und brachen dann in Gelächter aus. Abi Gul, die nicht wusste, was sie so Komisches gesagt haben sollte, runzelte verwirrt die Stirn.

»Entschuldige«, prustete Khalidah. »Es ist nur so, dass ich ohne Mohnsaft und seine wunderbaren Eigenschaften gar nicht hier wäre. Sulayman hat ihn am Vorabend meiner Hochzeit dazu benutzt, meinen gesamten Stamm zu betäuben. Auf diese Weise gelang mir die Flucht.«

Abi Gul musterte sie mit hochgezogenen Brauen. »Nun, unsere Vorgehensweise ist weit weniger dramatisch. Wenn die Kundschafter uns melden, dass sich jemand Qaf nähert, lassen wir ihn Mohnsaft trinken, ehe wir ihn in das Tal bringen. Wir wollen verhindern, dass sich jemand den Weg merkt.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass mich an jenem Abend irgendjemand aufgefordert hat, Mohnsaft zu trinken«, hielt Khalidah ihr entgegen.

Abi Gul schüttelte den Kopf. »Das war auch nicht nötig. Sie haben ihn dir in den Mund geträufelt, während du geschlafen hast. Aufgewacht bist du dann in Qaf.«

Khalidah fragte sich, wie viel von ihrem seltsamen Traum von der Schlacht und dem sterbenden Templer wohl der Droge zugeschrieben werden konnte, aber andererseits hatte sie denselben jungen Mann, den Sohn des Sultans, noch einmal in der Hütte des betaan gesehen. All dies warf zu viele Rätsel auf, und im Moment galt es, sich nur auf die vor ihnen liegende Reise zu konzentrieren.

Lange ritten sie schweigend weiter; Pfade entlang, die sich zwischen den Hügeln hindurchwanden und die Khalidah alleine nie gefunden hätte, und allmählich begann sie zu glauben, dass sie wirklich so schnell nach Syrien gelangen würden, wie die Dschinn es versprochen hatten. Nach einigen Stunden wurden die Hügel zu den Bergen mit den schneebedeckten Kuppen, die von Qaf aus so weit entfernt gewirkt hatten. Sie durchquerten ein Felsental, das sich rasch verengte, bis Khalidah beide Seiten zugleich hätte berühren können, wenn sie die Arme ausgestreckt hätte. Riesige Felswände ragten rechts und links von ihnen auf, schienen sich einander zuzuneigen, bis sie sich tatsächlich berührten und die kleine Armee durch eine dunkle Höhle ritt. Irgendwo vor ihnen schimmerte Licht auf, und Wasser rauschte in der Ferne. Das Rauschen wurde lauter, das Licht immer heller, bis Khalidah endlich den von einem tosenden Wasserfall verhangenen Ausgang des Felsengangs sah.

Die Pferde vor ihr schwenkten scharf nach rechts ab. Sie gab Zahirah den Kopf frei und ließ sie Tufan folgen. Der graue Hengst verschwand um eine Ecke, dann ertastete sich Zahirah hinter ihm den einen schmalen, steinigen Hang hinunterführenden Weg. Bald ließen sie den Wasserfall hinter sich und gelangten in ein weiteres, sehr viel  breiteres Tal, von graubraunen Hügeln gesäumt, hinter denen die schroffen Berge aufragten. Der Untergrund war so fest und glatt wie eine Pferderennbahn. Erstaunt registrierte Khalidah, dass sie diesen Ort wiedererkannte.

»Wir waren schon einmal hier«, sagte sie zu Sulayman. »Vor uns liegt ein Fluss, an dem wir gelagert haben … aber das muss vier oder fünf Tage vor unserer Ankunft in Qaf gewesen sein.«

»Eine Woche«, berichtigte er.

»Wie ist das möglich?«

Sulayman schüttelte den Kopf. »Sie sind die Dschinn; sie wissen vieles, was uns verborgen bleibt.« Er überlegte kurz, dann fügte er hinzu: »Außerdem können wir, bevor wir hier gelagert haben, schon tagelang im Kreis geritten sein.«

Möglich war es, entschied Khalidah, aber insgeheim bezweifelte sie es.

Sie beschleunigten das Tempo, als sie das Tal durchquerten, und ließen die Pferde in einen leichten Galopp fallen, wenn der Untergrund es erlaubte. Zahirah hielt mühelos mit ihren größeren Artgenossen mit, schien sie sogar übertreffen zu wollen, was Khalidah mit Stolz erfüllte. Sie ritten den ganzen Tag lang, bis das letzte Licht erlosch, dann lagerten sie auf einer Wiese neben einem kleinen grünen Teich.

Die Dschinn waren nicht nur Meister darin, sich in diesen trügerischen Bergen zurechtzufinden, sondern sie schlugen auch ihr Lager schneller auf, als Khalidah es je erlebt hatte. Innerhalb weniger Minuten waren die Pferde abgesattelt, abgerieben und mit Korn gefüttert worden, kurz darauf brannten kleine Feuer, über denen Wasserkessel brodelten. Khalidah teilte sich ein Feuer mit Sulayman, Abi Gul und Hila. Ambrenn und ihr Verlobter waren auf Geheiß ihrer Eltern, die nicht an die Prophezeiung glaubten, in Qaf zurückgeblieben. Ein paar ältere Krieger, Vetter von Abi Gul und Hila, gesellten sich zu ihnen  und unterhielten sie mit Geschichten früherer Feldzüge, während sie ihren Tee tranken und ihre getrockneten Maulbeeren und das eingesalzene Hammelfleisch verzehrten. Aber niemand hegte den Wunsch, allzu lange aufzubleiben; alle wussten, dass sie beim ersten Tageslicht wieder aufbrechen würden und dann wieder eine anstrengende Reiseetappe vor ihnen lag.

Die Vettern zogen sich zurück, und Abi Gul und Hila wickelten sich in ihre Decken und schlossen die Augen, ohne Sulayman und Khalidah irgendwelche Beachtung zu schenken. Khalidah war halb verlegen, halb dankbar dafür, dass sie nicht zu Ausflüchten greifen musste, als sie und Sulayman nach ihren Decken griffen und sich davonstahlen.

 

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