29

Als Khalidah und Sulayman sich am nächsten Morgen verabschiedeten, gab sich Sandara kühl und zurückhaltend, und ihre Kinder machten einen bedrückten Eindruck. Aber sie gab ihnen weitere Vorräte, Wasser und warme Kleider mit. Als Khalidah sich zu ihr hinunterbeugte, um sie von Zahirahs Sattel aus zu umarmen, flüsterte Sandara ihr zu: »Vergiss mich nicht, Khalidah. Ich werde dich auch nicht vergessen.« Dann sagte sie etwas zu Sulayman, was Khalidah nicht verstand, ihn aber dazu veranlasste, kurz zu ihr hinüberzublicken. Dann brachen sie auf, und Daoud schloss mit einem letzten kummervollen Seufzer die Tür des stillen, verwunschenen Gartens hinter ihnen.

Schweigend ritten sie aus der Stadt hinaus. Auch als sie den Fuß der Berge erreichten, wagte keiner von ihnen, es zu brechen. Von einem felsigen Abgrund aus blickten sie über wellige rote Hügel hinweg, die in Richtung des Horizonts stetig anstiegen und ganz in der Ferne weiße Schneekappen trugen.

»Das ist Khorasan«, sagte Sulayman endlich. Er sah Khalidah an, deren Augen unruhig flackerten. »Und nach dem Gespräch mit Sandara bist du dir jetzt nicht mehr sicher, ob es die richtige Entscheidung war, die Reise hierher zu wagen.«

Sie erwiderte nichts darauf, sondern senkte nur den Blick, was  Sulayman bestätigte, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Er seufzte. »Sandara ist eine gute Frau«, fuhr er fort, »und ich dachte, es würde dir helfen, deine Mutter besser zu verstehen, wenn du sie kennen lernst und bewirken, dass du nicht alles blind glaubst, was du in Qaf über sie hören wirst. Aber du darfst nicht vergessen, dass ihre Sicht der Welt von Leid, Verlust und Schuldgefühlen getrübt wird, und das verzerrt ihren Blick für die Wirklichkeit. Ich habe mit ihrem Vater Arzou gesprochen. Er hat ihr schon vor langer Zeit vergeben und würde sie mit offenen Armen wieder aufnehmen, wenn sie nur kommen würde.«

»Hast du ihr das denn nicht gesagt?«, wunderte sich Khalidah.

Sulayman lachte bitter auf. »Ich habe es ihr gesagt, als ich aus Qaf zurückkehrte, und dann noch einmal heute Morgen, als du noch geschlafen hast. Man könnte sogar sagen, ich habe sie angefleht, Vernunft anzunehmen - wenn schon nicht um ihrer selbst willen, dann zumindest ihrem alternden Vater und ihren Kindern zuliebe. Aber Aslams Feuer hat nicht nur ihre Schönheit zerstört. Sandara ist in einem Labyrinth aus Schuld und Reue gefangen, und bevor sie sich nicht selbst verzeiht, kann sie auch die Vergebung anderer nicht akzeptieren. Ich kann nur hoffen, dass die Liebe zu ihren Kindern am Ende siegt und sie sie rettet, bevor es zu spät ist.«

Und wieder breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus.

 Im Laufe der nächsten Tage begann Khalidah Sandara mit anderen Augen zu sehen. Ihre Furcht vor Qaf schwand, und sie blickte einmal mehr mit - wenn auch merklich verhaltenerer - Vorfreude gen Osten. Um sie davon abzuhalten, in fruchtlosen Grübeleien zu versinken, füllte Sulayman die Abende mit Unterrichtsstunden aus, und tagsüber erzählte er ihr, was er von dieser ungezähmten Grenze des Islams wusste. Er arbeitete sich durch die Geschichte Khorasans, bis er zu den ghaznavidischen Türken kam, deren König Mahmud den  Persern das Land so mühelos entrissen hatte, als pflücke er eine reife Aprikose. Doch kaum hatte Mahmud die Grenzen seines neuen Reiches gesichert, da marschierte er schon wieder gen Osten, um den Subkontinent zum Islam zu bekehren.

»Und von seinem blutigen Feldzug rührt auch der Name des Teils des Himalayas, der das Stammesgebiet der Dschinn bildet«, schloss Sulayman. »›Hindukusch‹ heißt ›Schlächter der Hindus‹. Aber hier sind nicht nur die Hindus erbarmungslos abgeschlachtet worden. Als Mahmud vor noch nicht einmal fünfzig Jahren starb, spaltete sich das Land erneut in eine Reihe einander bekämpfender Dynastien auf, und so ist es bis heute geblieben. Deswegen musst du in dieser Gegend auch immer auf der Hut sein, selbst wenn sie vollkommen verlasssen erscheint - in diesen Bergen wimmelt es von Räubern, die dich entweder umbringen oder in ihre Banden aufnehmen wollen, je nachdem, auf welcher Seite du stehst.«

Khalidah wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, doch nach diesen Worten beschlich sie häufig das unbehagliche Gefühl, dass feindselige Augenpaare oder gar Pfeile auf ihren Rücken gerichtet waren.

Ein paar Tage lang folgten sie dem Fluss Khash. Links von ihnen ragte der verschneite, im klaren Licht violett leuchtende Gipfel des Kuh-e-Sangan auf. Dann kehrten sie dem Berg den Rücken zu und ritten in das Tal Helmand, eine grüne, von einem eiskalten Schmelzwasserbach durchzogene Senke. Diesem Wasserlauf folgten sie gleichfalls mehrere Tage, während derer die Berge ringsum immer mächtiger zu werden schienen.

»Dort«, sagte Sulayman eines Morgens, als Khalidah den gefrorenen Tau der Nacht von ihrer Decke schüttelte. Er deutete auf eine Bergkette in der Ferne, die höher war als alle, die sie bislang gesehen hatten. »Das ist der Hindukusch. Irgendwo in diesen Bergen …«

Wirst du erkennen, ob du mich liebst oder nur meine Verbindung zu dem  Land, nach dem du dich so sehr sehnst, dachte Khalidah, doch obwohl sie sich sofort für diesen Gedanken schämte, ließ er sich einfach nicht mehr abschütteln. Sie trank ihren Tee aus und erschauerte, als er in ihrem Mund brannte. Sie hatten an einer Stelle ihr Lager aufgeschlagen, wo der Fluss schmal und das Tal tief war. Das Sonnenlicht würde erst gegen Mittag hier einfallen, und dann auch nur für eine oder zwei Stunden. Khalidah drehte sich zu den Pferden um und betrachtete sie bekümmert. Trotz der üppigen Weideflächen wurden sie immer magerer; sie konnten das Gras nicht so schnell fressen, wie Kälte und Strapazen an ihrem Fleisch zehrten.

»Bald wird es besser«, flüsterte sie Zahirah zu, und tatsächlich wurden die Bedingungen während der nächsten Tage erträglicher. Irgendwo südwestlich von Kabul wandten sie sich vom Fluss ab und überquerten die Shomali-Ebene; eine weitläufige, fruchtbare Fläche voller Wein- und Obstgärten, zwischen denen kleine Lehmhütten wie Ameisenhügel aufragten. Wenn sie durch diese Ansiedlungen ritten, lachten die Kinder sie an, und Frauen boten ihnen Tee, getrocknete Aprikosen und noch grüne, harte Maulbeeren an.

Doch diese erholsame Phase hielt nicht lange an. Von den Gärten von Shomali wand sich ein Pfad in das Baba-Gebirge hinauf, den ersten knorrigen Finger des Hindukusch, und schlängelte sich an der Seite der Berge entlang. Stellenweise war er mit einer Eisschicht überzogen und fiel manchmal Tausende von Fuß zu trostlosen Tälern aus rötlichem Stein und Staub ab.

Trotz der unwirtlichen Gegend trafen sie zu Khalidahs Erstaunen auf zahlreiche andere Reisende, besonders, als sie sich dem Chayber-Pass näherten, der einzigen Route, die von Kabul in den Orient führte. Jedes Mal, wenn ihnen ein Reisender auf dem Weg gen Westen entgegenkam, schloss Khalidah die Augen und betete, dass Zahirah nicht ausglitt, wenn sie sich auf dem Pfad, der kaum breit genug für einen Reiter war, aneinander vorbeidrängten. Manchmal stießen  sie auf kleine Dörfer, die an den Berghängen klebten wie Pilze an den Stämmen großer Bäume. Frauen und Kinder kauerten vor armseligen Lehmhütten und beobachteten die vorbeireitenden Reisenden mit unbestimmter Sehnsucht.

Nach einem zweitägigen kräftezehrenden Aufstieg erreichten sie den Pass und begannen auf der anderen Seite mit dem Abstieg: Sulayman mit gelassener Ruhe, Khalidah in dem Bemühen, die ständigen Schwindelanfälle zu unterdrücken, die die Höhe in ihr auslöste. Tiefer und tiefer ging es, bis ihre Beinmuskeln von der Anstrengung, stundenlang mit nach hinten verlagertem Gewicht zu reiten, heftig zu schmerzen begannen. Doch als sie um eine kurze Rast bat, beschied Sulayman sie mit einem knappen: »Noch nicht.«

Sie war wütend auf ihn - wütender, als sie es je zuvor gewesen war -, weil er sich ihrer Meinung nach wieder einmal absichtlich stur stellte und auf sie nicht die geringste Rücksicht nahm. Eine Stunde lang malte sie sich genüsslich aus, was für Schmähungen sie ihm entgegenschleudern würde, sobald sie Halt machten, und dann verstand sie plötzlich, warum er ihrer Bitte nicht entsprochen hatte. Sie waren in ein Sandsteintal gelangt, über dessen Sohle sich grüne Weiden und frisch beackerte Felder zogen. Hinter den dazugehörigen Bauernhöfen schmiegte sich eine kleine Stadt an den Fuß der Berge, und hoch über dieser Stadt waren drei große bogenförmige Nischen in den Sandstein gehauen. Sie beherbergten aus Stein gemeißelte Statuen, deren Züge Khalidah aus der Entfernung noch nicht erkennen konnte.

»Wo sind wir hier?«, fragte sie, als sie zwischen Weizenfeldern hindurch auf die Stadt zuritten.

»In Bamiyan«, erwiderte Sulayman. »Der einst bedeutendsten Stadt in Khorasan und Mittelpunkt der Seidenstraße. Egal ob man früher von Peking nach Rom oder von Samarkand nach Jaipur gereist ist, man kam durch Bamiyan hindurch.«

»Also sind die Statuen dort oben Abbilder von kafir-Göttern?«

»Sie stellen Buddha dar«, entgegnete Sulayman. »Einen Propheten, der …«

»Ich weiß, wer Buddha war«, gab Khalidah gereizt zurück. »Aber was haben seine Statuen in einem muslimischen Land zu suchen?«

»Dieses Land war nicht immer muslimisch.« Sie befanden sich jetzt nah genug bei den Klippen, um feststellen zu können, dass sie mit kleinen Höhlen durchsetzt waren wie ein Bienenkorb mit Waben. Sulayman deutete darauf, als er mit seinen Erklärungen fortfuhr. »Siehst du das? Das waren buddhistische Kapellen und Klöster. Hier lebten einst Tausende von Mönchen, die Reisenden und Pilgern Obdach gewährten. Heute stehen sie leer, aber du kannst immer noch die Statuen und Bilder sehen, die die Mönche während ihrer Zeit hier angefertigt haben - Mönche und andere Künstler. In diesen Höhlen findest du chinesische Kalligraphie und tibetische Mandalas Seite an Seite mit Darstellungen von Ganesha und Zeus und dem Propheten Jesus.«

Mittlerweile konnten sie im Licht der sinkenden Sonne auch die Züge der Buddhas ausmachen; ihre Augen unter schweren Lidern und ihr zum Tal gewandtes friedlich heiteres Lächeln. Der größte von ihnen war so hoch wie die Höhle in Wadi Tawil, in der sich Khalidah vor Monaten vor dem verborgen hatte, was sie für ihr unausweichliches Schicksal gehalten hatte.

»Früher haben diese Statuen in leuchtenden Farben geprangt, habe ich gehört«, sagte Sulayman. »Sie waren bunt bemalt oder vergoldet und mit funkelnden Juwelen geschmückt. Ich nehme an, die Zeit und Diebe haben hier ihr zerstörerisches Werk getan.«

»Lass uns dort hinaufsteigen«, schlug Khalidah vor. »Wir können heute Nacht doch in einer dieser Höhlen schlafen.«

Sulayman lächelte. »Genau das hatte ich auch vor. Sie haben in der Vergangenheit Tausenden von Reisenden als Quartier gedient, und wir haben ohnehin nicht mehr genug Geld, um in der Stadt zu übernachten.«

So schlugen sie einen Bogen um das, was von der einst so stolzen Stadt Bamiyan übrig geblieben war, und führten die Pferde über schmale Pfade und bröckelige Steintreppen die Klippen hinauf. Sie fanden eine Höhle, die tief genug in den Fels hineinreichte, um ihnen Schutz vor dem Abendwind zu bieten, und hoch genug war, dass die Pferde darin stehen konnten. Sulayman entzündete ein Feuer, in dessen flackerndem Schein Khalidah die mit Fresken bedeckten Wände betrachtete. Auf einem Bild bahnten sich in blutrote Gewänder gehüllte Männer mit schmalen orientalischen Augen einen Weg durch ein Feld voller Blumen; ein anderes zeigte einen von mondweißen Pferden gezogenen und von einem Mann mit prachtvollem Haar gelenkten goldenen Streitwagen, der über einen azurblauen Himmel jagte. Als sie endlich den Blick davon loszureißen vermochte und sich zu Sulayman umdrehte, lag dieser der Länge nach ausgestreckt auf dem Boden und sah mit halb geschlossenen Augen zu den Deckenmalereien empor.

»Wie weit ist es noch bis Qaf?«, fragte sie ihn.

Sulayman schwieg eine Weile. Endlich sagte er: »Ich weiß es nicht.«

Khalidah trat zu ihm und blickte auf ihn hinab. »Was soll das heißen?«

Er setzte sich seufzend auf. »Erinnerst du dich noch an das, was ich dir über meine erste Reise nach Qaf erzählt habe? Ich war bewusstlos, als ich dort ankam, und ich war bewusstlos, als ich wieder fortgebracht wurde. Wir können einen oder hundert farsakhs von Qaf entfernt sein. Aber das Dorf, in dem ich unter dem Cannabisbusch erwacht bin, liegt nur ein paar farsakhs von hier. Ich denke, wir reiten dorthin - und dann können wir nur hoffen.«

Khalidah starrte in die Dunkelheit hinter dem Höhleneingang hinaus und fragte sich plötzlich, worauf sie eigentlich hoffte.

 

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