10

Als Khalidah und Sulayman drei Wochen in Qaf waren, traf eine Bitte um Hilfe bei den Dschinn ein. Sie kam von einem Turkmenenstamm aus der Nähe von Mashad-e-Reza im Südwesten Khorasans; einem Gebiet, das noch immer von den Persern beherrscht wurde. Es war ein kleiner Nomadenstamm, ein Ableger des großen Mary-Teke-Volkes, der mit dem dortigen amir lange Zeit in Frieden gelebt hatte. Doch dieser amir war vor kurzem gestorben, und sein Sohn und Nachfolger schlug einen ganz anderen Kurs ein als sein Vater. Er begann, den Teke für die Nutzung ihres traditionellen Weidelandes Steuern abzupressen, und als die Nomaden nicht zahlen konnten, fing er an, sie öffentlich hinrichten zu lassen. Rakan, der Bote, den der Stamm nach Qaf geschickt hatte, um dort Hilfe zu suchen, war mager und zerlumpt, und in seinen Augen lag ein gehetzter Ausdruck. Tor Gul Khan bat ihn in seine Gemächer, um die Angelegenheit zu besprechen. Nach einer Stunde entließ er ihn, damit er etwas essen und sich ausruhen konnte, und berief eine Versammlung der Ältesten ein.

Khalidah sah sie in den Tempel strömen, als sie mit den anderen Mädchen das Übungsfeld verließ, um ihr Mittagsmahl einzunehmen. »Wie werden sie sich entscheiden?«, fragte sie Abi Gul.

»Oh, sie werden der Bitte des Mannes entsprechen«, erwiderte Abi Gul mit einer abwinkenden Handbewegung. »Tor Gul Khan wird ihn morgen mit zwanzig oder dreißig Kriegern heimschicken.«

»Wirst du sie begleiten?«

Abi Gul lächelte wehmütig. »Ich werde erst in zwei Monaten sechzehn. Aber Afshan und Shahascina werden wahrscheinlich mitreiten.« Sie nickte zu den beiden anderen Mädchen hinüber, die hoffnungsvoll und unsicher zugleich wirkten.

Khalidah musterte sie nachdenklich. Auch der bedauernde Unterton in Abi Guls Stimme war ihr nicht entgangen. »Macht ihr euch deswegen Gedanken?«, fragte sie. »Ist eine erste Schlacht etwas, worauf man sich freut oder eher etwas, wovor man sich fürchtet?«

»Sie ist ein Mittel, um zu dem zu werden, was wir werden wollen«, erklärte Shahascina. »Für Furcht ist da kein Platz.«

»Für Hoffnung vermutlich auch nicht.« Afshan schüttelte ihren Lockenkopf.

»Ganz so einfach ist es nicht«, raunte Abi Gul Khalidah zu, dabei verlangsamte sie ihre Schritte, bis Shahascina und Afshan weit genug vor ihnen gingen, um ihrer Unterhaltung nicht folgen zu können. »Wir mögen Qaf mit demselben Ziel verlassen, aber jede von uns erwartet nach ihrer Rückkehr ein anderes Schicksal. Afshan und Shahascina wollen sich beide im Kampf hervortun, um als erwachsene Mitglieder in die Stammesgemeinschaft aufgenommen zu werden, und das wird ihnen zweifellos auch gelingen. Aber wenn sie als Frauen zurückkehren wird Shahascina Sarbaz heiraten, mit ihm in ein eigenes Haus ziehen und, wenn sie die Fruchtbarkeit ihrer Mutter geerbt hat, vermutlich innerhalb eines Jahres selbst ein Kind haben. Ihr erster Kampf könnte leicht ihr letzter sein. Afshan dagegen wird sich wahrscheinlich für ein Leben als Kriegerin entscheiden.«

»Eine andere Wahl gibt es nicht? Eine Dschinn wird entweder Ehefrau und Mutter oder Kriegerin?«

»Eine Dschinn wird weder zum Kämpfen noch zum Heiraten gezwungen. Afshan wird Kriegerin werden, weil sie glaubt, dass das ihre Bestimmung ist. Aber sie kann ihre Meinung jederzeit ändern. Eines Tages heiratet sie vielleicht auch, oder wird Hausmutter für die jüngeren Mädchen, oder sie weiht ihr Leben den Göttern, bleibt keusch und wird Tempeldienerin … obwohl ich die letzte Möglichkeit eigentlich nicht in Betracht ziehe.«

Khalidah konnte ihr da nur zustimmen. Sie hatte diese Tempeldiener - unverheiratete Männer und Frauen - in ihren schmucklosen weißen Gewändern stumm im Tempel umherhuschen, die Altäre herrichten oder Stunden in tiefer Meditation auf den Knien zubringen sehen und konnte sich die immer fröhliche Afshan in dieser Rolle einfach nicht vorstellen. Andererseits konnte sie sich auch schwer vorstellen, wie sie einem Mann den Kopf abschlug.

»Dann verlierst du jetzt zwei Freundinnen«, bemerkte sie.

Abi Gul zuckte die Achseln. »Für eine gewisse Zeit schon … bis ich meinen ersten Kampf bestreite und in die Reihen der Krieger aufgenommen werde oder …« Sie schielte zu Khalidah hinüber und senkte dann den Blick.

Khalidah seufzte. »Wenn du noch keine sechzehn bist, wird man dir nicht erlauben, zu Saladin zu reiten, selbst wenn Tor Gul Khan den anderen seinen Segen dazu gibt.«

»Hat man dir ›erlaubt‹, dich der Ehe zu entziehen und hierherzukommen?«

»Das war etwas anderes.«

Abi Gul warf ihr einen schwer zu deutenden Blick zu: nicht unbedingt anklagend, aber ganz sicher auch nicht versöhnlich. »Bist du nicht lieber dem Ruf deines Herzens gefolgt statt dich dem Befehl deiner Familie zu unterwerfen? Was ist denn daran anders?« Sie rang entnervt die Hände. »So schwer es dir auch fällt, das zu akzeptieren, Bibi Khalidah - ich glaube daran, dass Saladin unser Messias ist. Ich glaube so fest daran, wie du daran glaubst, dass es keinen Gott gibt außer Allah und Mohammed Sein Prophet ist. Mein Schicksal ist es, Kriegerin zu werden, und obgleich ich Mitleid mit Rakan und allen anderen habe, die zu uns kommen, weil sie Hilfe benötigen, sind die Kämpfe, die wir ihretwegen bestreiten, nur Tropfen im Meer der Geschichte. Saladin dagegen ist eine Flut, und wenn ich schon mein Leben auf Schlachtfeldern verbringe, lasse ich mich lieber von einer Flut mitreißen.«

Sie hatten den Schlafsaal erreicht. Khalidah musterte ihre Freundin lange eindringlich, las aber nur unerschütterliche Entschlossenheit in den grüngoldenen Augen.

»Mich braucht niemand zu beschützen, auch du nicht«, sagte Abi Gul. »Also versuch es bitte erst gar nicht.«

»Wie du willst«, versetzte Khalidah. »Aber mehr verspreche ich dir nicht, bevor du nicht etwas für mich getan hast.«

»Was denn?«

»Ich muss mit Alipsha sprechen, eurem betaan.«

Abi Gul grinste. »Ich dachte schon, du würdest nie fragen.«

 Der Nachmittag war warm, der Himmel mit weißen Wölkchen übersät. Seit Zahirah der Verband abgenommen worden war, ritt Khalidah sie zum ersten Mal wieder. Die Stute schien sich in erstklassiger Verfassung zu befinden und zeigte keine Anzeichen von Lahmheit. Abi Gul beäugte sie vom Rücken ihres blaugrauen Hengstes aus, der Tufan hieß, was ebenso wie Asifa ›Sturm‹ bedeutete.

»Ein wunderschönes Pferd«, lobte sie. »Sie und Tufan würden prächtige Fohlen in die Welt setzen.«

»Denk erst gar nicht darüber nach«, schalt Khalidah. »Wenn sie trächtig ist, kann sie die Reise gen Westen nicht zurücklegen - und ich kann mit ihr schon gar nicht in die Schlacht reiten.«

»Vielleicht irgendwann einmal, wenn die Kämpfe hinter uns liegen«, meinte Abi Gul.

»Inschallah«, stimmte Khalidah zu.

Sie ritten über weiches Gras und durchquerten kleine Wälder, bis sie nach mehreren Stunden die Hochweiden erreichten. Hier war die Luft dünner und kühler, und helle Sonnenstrahlen blitzten zwischen den über den Himmel hinwegziehenden Wolken auf. Einige Hirten hatten ihre Herden bereits hier heraufgetrieben und waren in die aylaqs gezogen, die neben den den Fluss speisenden Quellen errichteten steinernen Schutzhütten. Neben diesen Hütten lagen Ställe, in die die Schafe abends gebracht wurden, um sie vor Raubtieren zu schützen. Als sie sich einer Hütte näherten, rief Abi Gul etwas auf Paschtu, woraufhin ein Junge ins Freie trat, die Reiter einen Moment lang mit zusammengekniffenen Augen musterte und dann lachend auf sie zurannte. Abi Gul sprang von ihrem Pferd und umarmte ihn, dann wandte sie sich an Khalidah.

»Bibi Khalidah, darf ich dir meinen Bruder Arsalan vorstellen?«

Arsalan neigte den Kopf vor ihr. Khalidah erwiderte die Geste, dann musterte sie ihn verstohlen. Der Junge war ein paar Jahre älter als Abi Gul und sah ihr ungemein ähnlich. Abi Gul sprach auf Paschtu auf ihn ein, und er antwortete in derselben Sprache. Khalidah fing die Worte für Pferde und Schnee und wiederholt betaan auf.

Endlich drehte sich Abi Gul zu ihr um. »Verzeih uns, Bibi Khalidah. Arsalans Arabisch war noch nie sehr gut, und seit er das Leben eines Schafhirten führt, hat er fast alles vergessen, was er gelernt hat. Aber er sagt, dass Alipsha in seiner Hütte ist und er uns zu ihm bringen wird. Die Pferde müssen wir allerdings hier lassen und zu Fuß gehen. Nach der Schneeschmelze sind die Pfade immer trügerisch.«

Arsalan half ihnen, die Pferde abzusatteln und sperrte sie dann in einen leeren Schafpferch. »Fertig?«, fragte er auf Arabisch, und ohne auf eine Antwort zu warten drehte er sich um und begann den Berghang zu erklimmen.

Er bewegte sich mit der Anmut und dem Geschick eines Steinbocks. Abi Gul und Khalidah folgten ihm etwas langsamer. Khalidah war noch immer nicht an körperliche Anstrengungen in solcher Höhe gewöhnt, und die drei mussten häufig stehen bleiben, damit sie verschnaufen konnte. Sogar Abi Gul schien für die Pausen dankbar zu sein. Es dauerte nicht lange, bis Khalidah begriff, warum Arsalan darauf bestanden hatte, die Pferde zurückzulassen. Das Gras wich allmählich steiniger, schlammiger Erde, auf der Khalidah manchmal  kaum Halt fand. Die Pferde wären ihnen hier nicht von Nutzen, sondern eher eine Last gewesen.

Endlich erreichten sie den Gipfel. Von den schneebedeckten Bergkuppen ringsum wehte ein eisiger Wind herüber. Khalidah schlang ihren Schal um Kopf und Schultern und hakte sich bei Abi Gul ein, während sie sich sich den zu beiden Seiten steil abfallenden Pfad entlangtasteten. Sie überquerten den Grat und gelangten in eine kleine Senke; gerade groß genug, um einer Steinkate Platz zu bieten. Sie lag so windgeschützt, dass in ihrem Schatten etwas Gras und Wildblumen wuchsen. Eine Ziege mümmelte an ein paar leuchtend roten Mohnblumen, und aus einem Loch im Dach des aylaq quoll Rauch.

Arsalan trat auf die offene Tür zu, spähte in das Dunkel und wechselte dann mit irgendeiner unsichtbaren Person ein paar Worte. Einen Moment später trat er mit einem Mann ins Freie, der aussah, als habe das Leben ihn bis auf die Knochen aufgezehrt und nur Sehnen und Geist zurückgelassen. Sein fadenscheiniges weißes Gewand hing an ihm wie auf einem Rahmen trocknende Wäsche, seine Finger glichen knorrigen Stöcken, seine dunkle, verwitterte Haut schien ihn wie ein loser Sack zu umschlottern, und sein hohlwangiges Gesicht wurde von einer vorspringenden Nase beherrscht. Aber in seinen leuchtend goldenen Dschinn-Augen loderte das Feuer eines jungen Mannes. Er grinste Khalidah zahnlos an, nahm ihre Hände in die seinen und küsste sie unter gemurmelten Segenswünschen auf beide Wangen.

Nachdem er sie endlich freigegeben hatte, forderte er sie alle mit einer Geste zum Eintreten auf. Die Kate wirkte innen genauso armselig wie von außen. Alte, fast zerfallene Läufer bedeckten den Boden aus festgestampfter Erde, die Feuerstelle bestand aus einer kleinen Grube in der Mitte des Raumes, das Brennmaterial aus getrocknetem Ziegendung. Auf drei flachen Steinen stand ein brodelnder Kessel, dem ein beißender, aber nicht unangenehmer Kräutergeruch entströmte. Alipsha bedeutete ihnen, sich zu setzen, also nahmen sie  auf den Läufern Platz, denn Kissen, Stühle oder gar andere Möbelstücke gab es nicht, es sei denn, man wollte den riesigen Steinbockschädel in einer Ecke als solches bezeichnen. Khalidah fragte sich, ob der alte Mann in seine mottenzerfressenen Teppiche eingewickelt auf dem Boden schlief und empfand fast Mitleid mit ihm, bis ihr einfiel, dass sich ein Derwisch auf der Suche nach Erleuchtung oft ähnliche Entbehrungen auferlegte.

Als alle saßen, ging Alipsha ins Freie und kam mit einem hölzernen Eimer wieder, den er vor Khalidah hinstellte und ihr einen Schöpflöffel reichte. Der Eimer war bis zum Rand mit Milch gefüllt. Khalidah war sicher, einen Teil der Wochenration des alten Mannes zu verzehren, wusste aber auch, dass sie nicht ablehnen durfte, wenn sie ihn nicht kränken wollte. Also tauchte sie den Löffel in die Milch, nippte daran und gab ihn dann an Arsalan weiter. Alipsha ließ sich ihr gegenüber vor dem Feuer nieder und musterte sie eine Weile, bevor er das Wort an sie richtete.

»Willkommen, Bibi Khalidah«, sagte er langsam. »Ich habe …«

Khalidah sah Abi Gul an und wiederholte das Ende des Satzes, das sie nicht verstanden hatte. »Matale …«

»Mateledal - warten auf«, übersetzte Abi Gul. »Alipsha hat darauf gewartet, dass du zu ihm kommst.«

»Warum?«, wandte sich Khalidah an den alten Mann.

Dieser brach in einen Wortschwall aus, dem sie gar nicht erst zu folgen versuchte. Sie wartete, bis er verstummt war, und nickte dann Abi Gul zu, die erklärte: »Er hat während der letzten drei Wochen von dir geträumt - seit du in Qaf bist. Und davor …« Sie brach ab und hob unbehaglich die Schultern.

»Bitte sprich weiter, Abi Gul.«

»Er sagt, er hat mit deiner Mutter gesprochen.«

Obwohl ihr klar war, dass Alipsha dies nicht wörtlich gemeint haben konnte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. In Qaf war sie  von morgens bis abends damit beschäftigt, den Anforderungen eines Lebens als Dschinn gerecht zu werden, doch hier, in dieser abgeschiedenen Kate, wurde ihr plötzlich schmerzlich bewusst, dass ihre Mutter noch am Leben war; sich vielleicht sogar an einem ähnlichen Ort wie diesem auf hielt.

Als hätte sie Khalidahs Gedanken gelesen fuhr Abi Gul hastig fort: »Sie erscheint ihm in seinen Träumen, sagt er, und bittet ihn, über dich zu wachen und dich mit seinem Rat zu erleuchten. Aber er sagt auch, dass er dir nicht raten kann, wenn du ihm keine Fragen stellst.«

»Aber wie soll ich das denn tun?«

»Sprich«, forderte Alipsha sie auf, »und du wirst feststellen, dass wir einander verstehen.«

Der Rauch in der Hütte hatte sich verdichtet, und Khalidah wusste plötzlich nicht mehr, welcher Sprache der Mann sich soeben bedient hatte; ihr wurde nur klar, dass sie ihn verstanden hatte. »Wie ist das …«, begann sie verwirrt.

»Weil ich der betaan bin«, erwiderte er, als erkläre das alles. »Nun sag mir, warum du hier bist, Khalidah.«

Sie blickte in sein gütiges, von Falten durchzogenes Gesicht, das von dem vom Kessel aufsteigenden Dampf verschleiert wurde. Es schien zu wabern und zu einem anderen Gesicht zu verschwimmen - dem eines jungen Mannes mit ähnlichen Zügen. Sie kam sich vor, als würde sie auf zwei Bilder blicken, mit jedem Auge auf eines, und sie spürte, wie sie von einem starken Schwindelgefühl erfasst wurde. Besser, sie schloss einen Moment lang die Augen …

»Mein Vater«, murmelte sie. »Und Zeyneb … was ist aus ihnen geworden?«

»Öffne die Augen wieder«, befahl er, und sie gehorchte.

Der Dampf war noch dichter geworden, und irgendetwas schien sich jetzt darin zu bewegen, formte sich allmählich zu einer Gruppe  dahingaloppierender schwarzer Reiter, die von ihrem Vater angeführt wurde. Das Bild löste sich auf, wich dem von Zeyneb, die in einer Küche in einem Topf rührte - ihrer eigenen Küche, der neben dem  maharama, das sie zusammen mit Khalidah bewohnt hatte, und sie machte keineswegs den Eindruck einer Sklavin. Auch dieses Bild verschwamm, und Khalidah blickte auf das zweier junger Männer - einer hatte lange schwarze Locken, der andere einen verbundenen Arm und nach Beduinenart kurz geschorenes Haar - die nur mit Lendentüchern bekleidet neben einem Granatapfelbusch an einem Ufer saßen und die Füße ins Wasser hielten.

Während sie sie wie gebannt anstarrte, lehnte sich der Schwarzgelockte zurück und wandte ihr sein fein gezeichnetes Gesicht zu. Sie erkannte in ihm sofort den Ayyubidenkrieger, der in ihrem Alptraum in der ersten Nacht in Qaf den Tempelritter getötet hatte. Doch dies war kaum in ihr Bewusstsein eingesickert, als sich der andere junge Mann umdrehte und sich über ihn beugte. Mit ungläubig geweiteten Augen verfolgte Khalidah, wie Bilal seinen schönen Freund mit der Leidenschaft eines Liebhabers küsste. Als sie einander in die Arme fielen, verblasste das Bild.

Khalidah schloss die Augen wieder. Ihr Herz raste. »Was tut er denn da?«, fragte sie, erkannte aber schon, während sie die Worte formte, wie töricht sie klangen.

Der betaan kicherte. »Hat deine Kinderfrau dir denn gar nichts erklärt?«

»Schon gut, ich weiß, was er tut, aber Bilal … ich hätte nie …«

Sie brach ab, weil sie nicht wusste, wie sie ihre Gedanken in Worte fassen sollte oder was sie überhaupt denken sollte. Trotz allem, was der Koran und die hadith zu diesem Thema zu sagen hatten und was die streng an ihren Traditionen festhaltenden Beduinen davon hielten, war sie gebildet und aufgeklärt genug, um zu wissen, dass diese Form der Liebe in anderen Teilen der islamischen Welt toleriert und  innerhalb gewisser Grenzen sogar gefördert wurde. Außerdem war das, was Bilal getan hatte, auch nicht empörender als der Umstand, dass sie monatelang allein in der Begleitung eines Mannes gewesen war, der nicht zu ihrer Familie gehörte.

»Also gut: Wohin führt mein Vater diese Männer?«

»Das weiß ich nicht.«

»Weißt du, wer sich um Zeyneb und den Rest des Stammes kümmert?«

»Nein, leider nicht.«

»Was ist mit dem Jungen, den Bilal … nun ja … ich habe ihn schon einmal gesehen. Weißt du, wer er ist?«

»Diese Frage kann ich dir beantworten. Er ist der Sohn von Sultan Saladin.«

In Khalidahs Kopf drehte sich alles. Sie hatte schon aufgrund der gelben Tunika, die er in ihrer ersten furchtbaren Vision getragen hatte, vermutet, dass er zum Gefolge des Sultans gehörte - aber Bilal als Geliebter eines Ayyubidenprinzen? Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es dazu gekommen sein sollte, und sie spürte Panik in sich aufsteigen. Wenn schon der Junge, den sie in- und auswendig zu kennen geglaubt hatte, sich so grundlegend verändert hatte, was mochte dann während ihrer Abwesenheit mit dem Rest ihres Stammes und ihrem Land geschehen sein?

Aber Alipsha spürte ihre Furcht. Als er weitersprach, empfand sie seine Stimme als so beruhigend wie Finger, die über ihr Haar strichen. »Die Welt hört nie auf, sich zu verändern, aber die, die du liebst, sind am Leben und bei guter Gesundheit, Khalidah … ist das denn nicht genug?«

Dem hatte Khalidah nichts entgegenzusetzen.

»Jetzt habe ich dich beruhigt«, sagte Alipsha weich. »Nun erzähl mir, was dich hergeführt hat.«

»Nach Qaf? Ich nehme an, ich glaubte, meine Mutter habe mich  gerufen. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, denn sie ist nicht hier, und ich spüre ihre Gegenwart auch nicht. Noch nicht einmal die jenes Teils von ihr, der mich gerufen hat.«

»Der Geist ist ebenso flüchtig wie die Zeit«, erwiderte Alipsha. »Brekhna ist hier und auch wieder nicht, aber sie ist nicht die Antwort.«

»Vielleicht nicht«, gab Khalidah zu. »Aber Brekhna ist der Grund dafür, dass die Dschinn glauben, ich wäre dazu ausersehen, sie ihrem Schicksal entgegenzuführen.«

»Bist du dir da ganz sicher?«

»Wenn du etwas anderes weißt, wäre ich dir dankbar, wenn du es mir geradeheraus sagen würdest. Ich habe in der letzten Zeit so viele Rätsel und Prophezeiungen zu hören bekommen, dass es mir für ein ganzes Leben reicht.«

Alipsha schwieg einen Moment, dann seufzte er. »Khalidah, ein  betaan sieht die Dinge nicht in geraden Linien. Für mich bilden Ursachen und Auswirkungen keine Kette, sondern ein unendliches Netz. Jede Faser ist ein eigenes Leben, und jedes Leben bildet einen Teil des Ganzen. Einige Fäden sind lang und fest, andere kurz und brüchig. Einige kreuzen andere, einige laufen zusammen, andere berühren sich dagegen kaum. Ich bin nicht allwissend - bei weitem nicht -, aber manchmal wird es mir gestattet, einen Blick auf Teile dieses Netzes zu werfen. Aus irgendeinem Grund erscheint mir dein Teil davon häufiger als andere. Viel kann ich dir nicht sagen, nur dieses: Dein Faden berührt den von Brekhna nur an bestimmten Stellen, ist aber eng mit denen der Dschinn verknüpft.«

»Und was schließe ich daraus?«, fuhr sie auf. »Das kann bedeuten, dass es mir bestimmt ist, hierzubleiben und Tor Gul Khans Platz einzunehmen, aber genauso gut könnte es meine Bestimmung sein, die Dschinn zu Saladin zu führen.«

»Würde es dir helfen, wenn ich dir sage, dass dein Faden genauso  stark mit denen des Stammes deines Vaters verbunden ist?« Khalidah wunderte sich selbst darüber, wie sehr sie dies bewegte, aber ihr blieb keine Zeit für Fragen, denn Alipsha fuhr schon fort: »Er überschneidet sich auch mit denen von Saladin. Bei dir läuft eine Vielzahl von Lebensfäden von allen Seiten dieses Landes und der jenseits seiner Grenzen zusammen. Die Auswirkungen davon werden noch lange zu spüren sein.«

»Dann ist es also mein Schicksal, die Dschinn in den Kampf gegen die Franken zu führen?«

Der betaan seufzte. »Khalidah … der größte Unterschied zwischen unserer Religion und der deinen besteht wahrscheinlich darin, dass unserer Ansicht nach nichts im Buch des Lebens niedergeschrieben oder uns vom Schicksal vorherbestimmt ist. Ich sehe Möglichkeiten, sonst nichts. In anderen Worten: Trotz allem, was ich dir gesagt habe, bist und bleibst allein du die Herrin deines Schicksals.«

»Dann hast du mir im Grunde genommen gar nichts gesagt«, versetzte Khalidah bitter.

»Nein?«, fragte der betaan sanft. »Oder meinst du einfach, dass ich dir nicht das gesagt habe, was du hören wolltest?« Wieder seufzte er. »Ich weiß, wie schwierig es ist. Für Menschen wie dich ist es immer schwierig. Man kann es dir schwerlich zum Vorwurf machen, dass du deinen Glauben verloren hast - genau wie deine Mutter.«

»Bitte?« Khalidah war augenblicklich ganz bei der Sache. »Was soll das heißen - genau wie deine Mutter? Was weißt du über sie?«

Doch Alipsha ging auf ihre Frage nicht ein, sondern meinte nur: »Wenn du einen Rat von mir willst, kann ich nur das sagen, was ich jedem Mann und jeder Frau sage, die zu mir kommt: Wähle deinen Weg, und gehe ihn bis zum Ende. Aber letztendlich bist du es, die diese Wahl treffen muss, Khalidah. Niemand kann sie dir abnehmen.«

 

Wuestentochter
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