22

Am nächsten Morgen aß Sulayman fast nichts, beantwortete aber jede von Khalidahs besorgten Fragen nach seinem Gesundheitszustand mit einem unwilligen Knurrlaut. Ehe sie aufbrachen, verabreichte ihm Ghassan noch eine Dosis seiner Medizin. Sulayman stürzte sie hinunter, wurde dann totenblass und begann ein paarmal zu würgen, behielt den Trank aber bei sich.

Sie hatten die Nacht in den Ausläufern des Zagros verbracht und begannen jetzt mit dem Aufstieg. Während der langen Stunden war Khalidah von ihrer Umgebung so gefesselt, dass sie darüber ihre Sorge um Sulayman und ihre immer stärker schmerzenden Muskeln vergaß: Sie sah trockene, schroffe, teilweise von spärlichem Gras bedeckte Hügel; von Schmelzwasser angeschwollene Flüsse, Schluchten, Plateaus und weiße Gipfel in der Ferne. Endlich erreichten sie einen hohen, windigen Berggrat, und Khalidah machte einen Augenblick Halt, um das großartige Panorama zu bewundern, das sich ihr darbot. Der Berghang fiel steil zu einem mit gelbgrünem Gras und Wildblumen bewachsenen Tal ab, an dessen anderem Ende die Berge wieder anstiegen. Überreste alter Mauern zogen sich an den Hängen  entlang. Dahinter erhoben sich noch höhere Gipfel, deren Schneekronen im Licht der untergehenden Sonne blutrot schimmerten.

»Das ist das Land von Asag«, erklärte Ghassan mit leiser, ehrerbietiger Stimme, »der die Berge zu seinen Frauen genommen und mit ihnen mächtige Felsbrocken als Kinder gezeugt hat und der schließlich im Kampf der Götter von Ninurta getötet wurde …«

Sulayman lächelte. »Gut, dass dich hier niemand hören kann, sonst würde man dir wegen Gotteslästerung den Kopf von den Schultern nehmen.«

»Was hat es mit dieser Gegend wirklich auf sich?«, fragte Khalidah.

»Das Zagros-Gebirge ist das Stammesgebiet der Lur Bozorg«, antwortete Ghassan. »Und dieser Teil hier gehört traditionsgemäß den Bakhtiari.«

»Und wer ist das?«

»Die Bakhtiari sind ein Nomadenstamm, ähnlich wie der deine. Sie leben in schwarzen Zelten und ziehen je nach Jahreszeit von einem ihrer Weidegründe zum nächsten, aber sie züchten hauptsächlich Ziegen, keine Pferde. Zurzeit sind sie nicht hier, und ich bin sicher, sie hätten nichts dagegen, dass wir eine Nacht hier lagern. Kommt jetzt. Die Sonne geht unter, und ihr wollt doch bestimmt nicht auf hartem Stein schlafen.« Er trieb Wasim an, packte die Zügel des Ponys und führte seine beiden Begleiter in der hereinbrechenden Dunkelheit in das Tal hinunter.

 In dieser Nacht durchlebte Khalidah Sulaymans Träume. Sie tat es nicht bewusst; die Bilder suchten sie von selbst heim, wenn sie die Augen schloss. Ein Schwert aus Feuer fraß sich tief in seinen Leib, rote Wölfe hetzten ihn durch ein Labyrinth aus schwarzem Vulkangestein. Sie erwachte von seinem Schrei, und er schrie erneut auf, als sie und Ghassan versuchten, die Decke von seinem vor Fieber glühenden Körper zu ziehen, denn er sah sie als geifernde Franken, die ihn mit ihren blitzenden Klingen durchbohren wollten. Am nächsten Morgen war das Delirium abgeklungen, doch es hatte ihn seine letzte Kraft gekostet. Er vermochte noch nicht einmal die Medizin zu schlucken, die Ghassan ihm einzuflößen versuchte. Während er am ganzen Leibe zitternd auf seiner Decke lag, wandte sich Khalidah an den alten Heiler.

»Wie lange dauert es noch, bis wir unser Ziel erreichen?«

»Einen Tag, wenn wir unser Tempo halten können und ich den Weg wiederfinde.«

»Wird er so lange durchhalten?«

Ghassan seufzte. »Das liegt allein in Allahs Händen.«

Sie mussten beide all ihre Kraft aufbieten, um Sulayman in den Sattel zu hieven, doch Asifa warf ihn sofort wieder ab; sie musste die Ausdünstungen seiner Krankheit riechen, das redete sich Khalidah zumindest ein, um nicht darüber nachdenken zu müssen, was das Tier vielleicht sonst noch gewittert haben könnte. Also hob sie ihn mit Ghassans Hilfe auf das kräftige Pony, doch als sie versuchten, Asifa das Gepäck aufzuladen, bäumte sich die Stute schrill wiehernd auf und ließ sich kaum bändigen. Am Ende bekam Zahirah den Packsattel aufgelegt, was sie sich ruhig gefallen ließ, und Khalidah ritt Asifa, die ihren Unmut durch ständiges Scheuen und Hochwerfen des Kopfes kundtat. Khalidah umklammerte die Zügel grimmig und wünschte, sie hätte verhindert, dass Sulayman gerade dieses Pferd für sich auswählte.

Sie durchquerten das Tal und begannen erneut mit dem Aufstieg in die Berge. Sulaymans Reiterinstinkt war stärker als seine Krankheit; er passte sich unbewusst, fast automatisch den Gegebenheiten des Geländes an, selbst wenn er die Bodenunebenheiten nicht sah. Khalidah war so damit beschäftigt, ihn im Auge und die störrische Stute unter ihr unter Kontrolle zu halten, dass sie außer dem feuchten Wind, der gleißend hellen Sonne und der Luft, die so dünn und kalt war, dass sie kaum atmen konnte, nichts von ihrer Umgebung wahrnahm. Wie aus weiter Ferne hörte sie, dass Sulayman gleichfalls keuchend nach Atem rang.

Am Nachmittag verlor er das Bewusstsein. Wie an jenem furchtbaren Tag, an dem ihn das Fieber zum ersten Mal überwältigt hatte, begann er im Sattel zusammenzusacken und schließlich vom Rücken des Ponys zu rutschen. Nach kurzem Beratschlagen kamen Ghassan und Khalidah überein, dass sie, da sie weniger wog als Ghassan, am besten dazu geeignet war, mit Sulayman auf einem Pferd zu reiten. Und so saß sie einmal mehr hinter ihm im Sattel, stützte ihn mit einem Arm und lenkte das geduldige Pony mit der anderen Hand. Ghassan kämpfte hinter ihr mit Zahirah und Asifa, während sie sich den steinigen Pfad hinaufquälten.

Sulayman, jetzt im tödlichen Strom seiner Alpträume gefangen, klammerte sich an einen letzten Rest bewusster Wahrnehmung wie ein Ertrinkender an einen im Wasser treibenden Baumstamm. In seinem Delirium stammelte er unverständliche, unzusammenhängende Worte, deren Sinn Khalidah vergeblich zu erfassen versuchte. Sie peinigten sie viele Stunden lang, bis ihr aufging, dass das Geräusch, das ihn noch mit dem Leben verband, das Schlagen ihres eigenen Herzens war.

 Am späten Nachmittag durchwateten sie den Pasitigris und machten kurz Halt, um die Pferde zu tränken. Vor ihnen erstreckte sich eine weitläufige, grasbewachsene Ebene, doch Khalidah hatte nur Augen für das dahinter erneut ansteigende Gelände. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, doch als Ghassan Wasim darauf zulenkte, folgte sie ihm ohne Protest. Sie wusste, dass es Wahnsinn war, so kurz vor Einbruch der Nacht in die Berge zurückzureiten, aber sie wusste auch, dass Sulayman den Morgen vielleicht nicht mehr erleben würde. Er schien innerlich zu verglühen; zitterte in ihren Armen wie Espenlaub, und allein das hätte ausgereicht, um sie unermüdlich weiterzutreiben.

Zum Glück war der Mond fast voll, und der Himmel blieb klar. Es fiel ihnen nicht schwer, den Pfaden zu folgen, wenn Ghassan sie gefunden hatte, doch dies bereitete ihm zunehmende Schwierigkeiten. Die Sicherheit, mit der er sie tags zuvor geführt hatte, war verflogen, und jedes Mal, wenn sich die Wege gabelten, blieb er stehen und grübelte darüber nach, welchen sie einschlagen mussten. Khalidah bemühte sich, ihr Temperament zu zügeln, doch endlich konnte sie nicht länger an sich halten und platzte heraus: »Warum zögerst du so lange? Siehst du denn nicht, dass er uns unter den Händen stirbt?«

Ghassan drehte sich müde zu ihr um. »Weil seine einzige Chance - und unsere, wohlgemerkt - darin besteht, dass ich den richtigen Weg finde. Aber wenn du dich lieber in die nächstbeste Schlucht stürzen und allem Elend ein Ende bereiten willst …«

»Schon gut«, lenkte sie ein. »Sag mir nur eins: Warst du schon einmal an dem Ort, zu dem du uns bringst?«

Ghassans Blick verriet ihr alles, was sie wissen musste. Seufzend trieb Khalidah ihr erschöpftes Pony weiter.

Sie ritten die ganze Nacht hindurch. Die Luft wurde noch dünner und kälter, der Pfad immer trügerischer, bis sie sich gezwungen sahen, abzusteigen und die Pferde am Zügel zu führen. Khalidah brachte Ghassan dazu, Sulayman auf Wasims Rücken zu setzen, weil das Pony ihrer Meinung nach nicht mehr lange durchhalten konnte, und der große Wallach enttäuschte sie nicht. Obwohl Sulayman schlaff über seinem Hals hing und nichts tat, um ihn zu lenken, achtete Wasim so genau darauf, wo er hintrat, dass Khalidah nur an den steilsten Stellen helfen musste, seinen Reiter im Sattel zu halten. Schneeglitzernde Gipfel umgaben sie wie Wellen auf einem gefrorenen Meer. Khalidah spürte schon bald ihre Hände und Füße nicht  mehr. Der eisige Wind fraß sich erbarmungslos durch ihre Kleider. Endlich stieg ihr ein kaum merklicher Geruch nach Holzrauch in die Nase, und sie stieß einen erleichterten Seufzer aus.

»Wir sind da«, bestätigte Ghassan.

Khalidah folgte seinem ausgestrecken Finger mit den Augen. Im letzten Mondlicht konnte sie ganz am Rand des Berggrats, unmittelbar bevor er ins Nichts abfiel, ein Gebilde ausmachen, das einem Steinhaufen glich, dem eine dünne Rauchsäule entwich. Als sie näher kamen, schimmerte schwacher Lichtschein vor ihnen auf, und sie traten durch eine schmale Tür in eine steinerne Hütte.

Den größten Teil des geräumigen Inneren bildete eine natürliche Höhle in dem Fels, die durch Steinwände etwas ausgeweitet worden war. In der Mitte dieses Raumes brannte ein Feuer, dessen Rauch durch ein Loch in der Decke abzog. Es roch nach frisch bearbeiteter Erde. Als Khalidahs Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah sie auch den Grund dafür. Die gesamte Höhle war mit Pflanzen gefüllt, die direkt aus dem Felsstein zu wachsen schienen; von zarten Gebirgsblumen bis hin zu großen tropischen Bäumen. Die wenigen freien Flächen waren mit Binsen und süß duftenden Kräutern bedeckt, über die sich die Pferde sofort hermachten.

Es dauerte einen Moment, bis Khalidah die winzige Frau bemerkte, die neben dem Feuer kniete. Sie vermittelte den Eindruck einstiger großer Schönheit, obwohl ihre Züge bis auf die klaren grünen Augen eher unauffällig zu nennen waren, und sie strahlte trotz ihres von Falten durchzogenen Gesichts und der wirren grauen Haare eine Aura von Jugend und Vitalität aus. Als sie den Kopf hob und lächelte, wusste Khalidah plötzlich mit absoluter Sicherheit, dass Sulayman am Leben bleiben würde.

»Sayyida.« Ghassan kniete vor der alten Frau nieder.

Sie nickte leicht, sah aber nicht ihn, sondern Khalidah an, dann legte sie ihm eine Hand auf den Kopf, woraufhin er augenblicklich  in einen tiefen Schlaf fiel. Dann winkte sie Khalidah mit einer knorrigen Hand zu sich. Mit letzter Kraft zerrte Khalidah Sulayman zum Feuer hinüber. Die alte Frau nickte noch einmal lächelnd, als sie ihn vor ihren Füßen zu Boden sinken ließ.

»Armes kleines Ding, so verloren und verlassen«, sagte sie mit einer Stimme, die dem leisen Rauschen des Windes in Palmwedeln glich, und obwohl sie im Vergleich zu Sulayman geradezu zwergenhaft winzig wirkte, erschien Khalidah die Bemerkung ganz natürlich. Sie legte eine Hand auf Sulaymans brennende Stirn.

»Kannst du ihn retten?«, fragte sie.

Die Frau blickte erneut zu ihr auf. Tiefes Mitleid stand in ihren Augen zu lesen. »Ich kann den Tod abwenden«, erwiderte sie.

»Dann tu, was in deiner Macht steht«, beschwor Khalidah sie.

»Alles zu seiner Zeit.« Die Frau fuhr fort, Sulaymans Gesicht zu streicheln, als sei er ihr liebstes Haustier. Ihre Augen schienen bis auf den Grund von Khalidahs Seele zu blicken. »Was ist mit dir?«, fragte sie. »Warum bist du hierhergekommen?«

»Seinetwegen«, entgegnete Khalidah mit fester Stimme.

»Das ist nicht der alleinige Grund«, meinte die Frau. »Und es hilft dir nicht, wenn du es ableugnest. Jede Sehnsucht nach einem Ort oder einem Menschen hat eine Bedeutung, Khalidah. Würde es dir Trost bringen, etwas über dein Schicksal zu erfahren?«

Khalidah sah sie ängstlich, verwirrt und zutiefst erschöpft an. »Sollte es das denn?«

Die Frau schenkte ihr ein überraschend süßes Lächeln. »Du stellst die richtigen Fragen - bei jungen Menschen findet man diese Gabe selten. Nun gut, dann werde ich dir nur eines sagen: Indem du dich für Shambala entschieden hast, hast du die richtige Wahl getroffen.«

»Shambala?«

»Shambala … Eden … Qaf …« Die Frau zuckte die Achseln. »Aber die richtige Wahl führt nicht zwingend zu innerem Frieden. Deine  Straße beschreibt viele Biegungen. Manche führen zu Krieg, manche zu Frieden, manche zu schmerzlichen Verlusten, andere zu großer Freude. Du wirst von vielen betrauert werden, wenn du einst nicht mehr bist.« Sie brach ab. Ihre grünen Augen glitzerten. »Bist du sicher, dass du nicht noch mehr erfahren willst?«

Khalidah nickte nachdrücklich. Die Frau lächelte erneut, und diesmal schien Zustimmung in diesem Lächeln zu liegen. »Du hast große Mühe auf dich genommen, um ihn hierherzubringen. Aber nun ist er in Sicherheit. Schlaf jetzt.«

Khalidah wollte protestieren, merkte aber, dass sie die Augen kaum noch offen halten konnte. Also streckte sie sich auf dem Boden aus, und dann schien plötzlich ein Kissen unter ihrem Kopf zu liegen und eine Decke über sie gebreitet zu sein, obwohl sie sicher war, dass beides einen Moment zuvor noch nicht da gewesen war. Das Letzte, was sie sah, bevor der Schlaf sie übermannte, war die alte Frau, die Kräuter in einem Kupferbecken zerstieß und dabei Khalidahs Melodie zu Shánfaras Ode summte.

 Khalidah träumte, sie fiele durch Zeit und Raum. Ab und an flammten Szenen mit kristallener Klarheit vor ihr auf. Sie sah in Pelze gehüllte Menschen in einem Land aus Eis, dann das junge Grün neu angelegter Gärten. Schwarzhaarige Reiter mit schräg stehenden Augen galoppierten über eine weite grasige Ebene gen Westen. Drei an Walnussschalen erinnernde Schiffe, auf deren Segeln dasselbe rote Kreuz prangte wie auf den Mänteln der Templer, kämpften gegen eine stürmische See an. In einer Vision stand sie in einem Raum aus Sandstein mit einem langen Fenster in einer Wand. Durch das Fenster fiel helles Licht, in dem eine Frau saß und nähte. Sie hatte dichtes schwarzes Haar, das fast bis zum Boden reichte, schwarze Augen mit leicht östlichem Einschlag, und sie sang in einer fremden Sprache ein Lied von solcher Süße, dass Khalidah Tränen in die Augen stiegen.

Ein dunkler Schlund öffnete sich unter ihr und wurde langsam immer heller. Zwei Armeen standen sich auf dem weißen Sand eines Tales gegenüber. Am Rand des Tals erhoben sich bewaldete Hügel, und weit in der Ferne erstreckte sich eine weitläufige Wasserfläche. Bunte Standarten wehten in der Morgenbrise; auf der einen Seite die Kreuze der Tempelritter, rot auf weißem Grund, die Kreuze der Hospitaliter, weiß auf schwarz und die Banner der großen Fürstenhäuser der Franken, auf der anderen die der Kriegerstämme des Islams: das leuchtende Gelb der Ayyubiden und Mamluken, das Grünweiß der Fatimiden und das Schwarz der Seldschuken. Die Armeen trafen mit einem Gebrüll wie Donnerhall aufeinander, der Boden erzitterte, dann wurden sie von der großen Staubwolke verschluckt, die sie aufgewirbelt hatten. Khalidah hörte ihre eigene Stimme »Jetzt!« schreien, dann stieß sie in das Gewirr aus kämpfenden Leibern und Stahl hinab.

Kurz bevor sie sich in das Getümmel stürzen konnte erwachte sie. Ihr Herz hämmerte wie wild. Zuerst wusste sie nicht, wo sie war, dann begann sie ihre Umgebung allmählich bewusst wahrzunehmen. Sie lag auf einer alten Binsenmatte auf dem Boden einer Höhle und war mit ihrer Decke zugedeckt. Das Feuer neben ihr war heruntergebrannt, und durch Ritzen im Felsgestein fielen die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages. In einer Ecke stand eine zerbeulte Kupferschale mit den Überresten einer Flüssigkeit, bei der es sich um einen Kräutertrank zu handeln schien.

Sulayman und Ghassan lagen auf der anderen Seite des erloschenen Feuers. Das Schlimmste befürchtend kroch Khalidah zu Sulayman hinüber, stellte aber zu ihrer Erleichterung fest, dass er ruhig und gleichmäßig atmete. Als sie seine Wange berührte, fühlte sie sich kühl an. Sie lehnte sich zurück und starrte die kahlen Steinwände an. Wirre Bilder von Blumen und Blättern und einer Frau mit altem Gesicht und junger Stimme, die in Rätseln gesprochen hatte, zogen an  ihr vorbei und vermischten sich mit denen ihrer Träume, bis sie nicht mehr sicher war, was wirklich geschehen war und was nicht.

Endlich weckte sie Ghassan auf. »War sie ein Mensch aus Fleisch und Blut?«, fragte sie geradeheraus. »War irgendetwas von der gestrigen Nacht real?«

Ghassan nickte zu Sulayman hinüber. »Sag du es mir.«

Khalidah barg seufzend das Gesicht in den Händen. »Wer war die Frau?«

 

»Amertat«, erwiderte Ghassan.

»Wer?«

»Amertat. Eine der Amesha Spentas … eine Art Göttin. Sie verkörpert die Unsterblichkeit und ist die Schutzherrin der Pflanzen.«

Khalidah sah ihn ungläubig an. »Willst du mir weismachen, dass wir im Haus einer persischen Göttin übernachtet haben?«

»Ich will dir gar nichts weismachen. Wir haben einfach nur im Haus einer Frau namens Amertat geschlafen, und sie hat unserem Freund das Leben gerettet.«

Wieder seufzte Khalidah tief. »Und wie geht es jetzt weiter?«

»Jetzt …«, Ghassan griff nach Wasims Zaumzeug, »… macht ihr euch auf euren Weg und ich mich auf meinen.«

»Kommst du nicht mit uns?«

Ghassan schüttelte lächelnd den Kopf. »Dies ist deine Reise, Khalidah … deine und seine.« Er nickte zu Sulayman hinüber. »Aber besucht mich auf eurem Rückweg, wenn es euch möglich ist, und erzählt mir, wie es euch ergangen ist.« Er sah sie an. Seine Züge wurden weicher. »Wünsch ihm in meinem Namen alles Gute.«

»Willst du nicht noch warten und es ihm selbst sagen?«

Ghassan schüttelte erneut den Kopf. »Er wird sich an nichts von dem erinnern, was geschehen ist, und das ist vermutlich auch besser so. Lass ihn in dem Glauben, du hättest mich in den Marschen zurückgelassen und er wäre von selbst wieder gesund geworden.«

Khalidah sah den alten Mann lange an, dann kniete sie vor ihm nieder, nahm seine Hände in die ihren und berührte damit ihre Stirn. »Danke für alles, Ghassan. Und es tut mir leid …«

»Dir muss nichts leidtun«, erwiderte Ghassan. »Führe auch weiterhin ein rechtschaffenes Leben.« Er küsste sie auf die Stirn, dann führte er sein Pferd zur Tür und verschwand im Licht der aufgehenden Sonne.

 

Wuestentochter
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
Wuestentochter_split_000.html
Wuestentochter_split_001.html
Wuestentochter_split_002.html
Wuestentochter_split_003.html
Wuestentochter_split_004.html
Wuestentochter_split_005.html
Wuestentochter_split_006.html
Wuestentochter_split_007.html
Wuestentochter_split_008.html
Wuestentochter_split_009.html
Wuestentochter_split_010.html
Wuestentochter_split_011.html
Wuestentochter_split_012.html
Wuestentochter_split_013.html
Wuestentochter_split_014.html
Wuestentochter_split_015.html
Wuestentochter_split_016.html
Wuestentochter_split_017.html
Wuestentochter_split_018.html
Wuestentochter_split_019.html
Wuestentochter_split_020.html
Wuestentochter_split_021.html
Wuestentochter_split_022.html
Wuestentochter_split_023.html
Wuestentochter_split_024.html
Wuestentochter_split_025.html
Wuestentochter_split_026.html
Wuestentochter_split_027.html
Wuestentochter_split_028.html
Wuestentochter_split_029.html
Wuestentochter_split_030.html
Wuestentochter_split_031.html
Wuestentochter_split_032.html
Wuestentochter_split_033.html
Wuestentochter_split_034.html
Wuestentochter_split_035.html
Wuestentochter_split_036.html
Wuestentochter_split_037.html
Wuestentochter_split_038.html
Wuestentochter_split_039.html
Wuestentochter_split_040.html
Wuestentochter_split_041.html
Wuestentochter_split_042.html
Wuestentochter_split_043.html
Wuestentochter_split_044.html
Wuestentochter_split_045.html
Wuestentochter_split_046.html
Wuestentochter_split_047.html
Wuestentochter_split_048.html
Wuestentochter_split_049.html
Wuestentochter_split_050.html
Wuestentochter_split_051.html
Wuestentochter_split_052.html
Wuestentochter_split_053.html
Wuestentochter_split_054.html
Wuestentochter_split_055.html
Wuestentochter_split_056.html
Wuestentochter_split_057.html
Wuestentochter_split_058.html
Wuestentochter_split_059.html
Wuestentochter_split_060.html
Wuestentochter_split_061.html
Wuestentochter_split_062.html
Wuestentochter_split_063.html
Wuestentochter_split_064.html
Wuestentochter_split_065.html
Wuestentochter_split_066.html
Wuestentochter_split_067.html
Wuestentochter_split_068.html
Wuestentochter_split_069.html
Wuestentochter_split_070.html