18

Die Schilfhäuser wurden mudhif genannt, wie Khalidah von Ghassan erfahren hatte, doch das mudhif von Radwan ibn Radwan al-Mubarak war größer, als Khalidah es sich je hätte träumen lassen. Säulen aus zusammengebundenem Schilf stützten die Wände, in die unterhalb der Traufen des Daches aus Binsenmatten kleine, runde Fenster  eingelassen waren. Angeregtes Stimmengewirr und die Klänge einer  na’ay übertönten das Prasseln des Regens.

Khalidah zog sich ihre Keffieh tiefer ins Gesicht und folgte Ghassan ins Haus. Der Raum wurde von flackernden Öllampen und ein paar Becken mit glühenden Kohlen erleuchtet, auf denen Kaffeekannen warm gehalten wurden. Fast alle Männer des Dorfes schienen sich hier versammelt zu haben. Sie saßen auf Binsenmatten oder wollenen Läufern, hielten kleine irdene Kaffeetassen in den Händen oder teilten sich banj-Pfeifen. Ein schwer gebauter Mann mittleren Alters mit zerfurchtem Gesicht, vorspringender Nase, fleischigen Lippen und kleinen, vom banj bereits glasigen Augen saß auf einem Kissen an der Wand. Er blickte mit vorgetäuschter Gleichgültigkeit zu Khalidah auf. »Wer bist du?«

»Das ist Khalid ibn Abd al-Aziz«, stellte Ghassan mit einem gewinnenden Lächeln vor. »Er ist bei mir zu Gast. Sein Reisegefährte wurde plötzlich krank. Die beiden werden ein paar Tage bei mir bleiben.«

»Er ist ziemlich jung dafür«, grunzte Radwan. Khalidah wusste nicht, ob sich seine Worte auf die Reise, den kranken Gefährten oder ihren Status als Ghassans Gast bezogen und was er überhaupt damit meinte. Aber er schien keine Antwort zu erwarten, denn er fuhr fort: »Was kann er denn?«

Khalidah sah Ghassan ängstlich an. Er lächelte ihr zu, ehe er erwiderte: »Er kann singen, und er kann die oud spielen.«

»Dann wollen wir ihn uns doch einmal anhören«, sagte Radwan in einem Ton, der besagte, dass er nicht damit rechnete, von Khalidahs Fähigkeiten besonders beeindruckt zu sein. Er schnippte mit den Fingern, woraufhin einer der Männer ihr eine oud reichte, dann lehnte er sich wieder zurück und schien ihre Anwesenheit vollkommen zu vergessen.

Seufzend ließ sich Khalidah auf einem Läufer nieder und begann das Instrument zu stimmen, was dringend nötig war. Als sie damit fertig war,  legte sie sich die oud in den Schoß und spielte ein paar Tonleitern. Ihre Finger waren aufgrund mangelnder Übung und der langen Stunden, während derer sie die Zügel hatte halten müssen, anfangs noch steif und ungeschickt. Sie ging von den Tonleitern zu Arpeggios über und spürte endlich, wie sich die Muskeln zu lockern begannen. Fast unbewusst verwandelten sich Fingerübungen in eine sanfte, lockende Melodie, die ihr im Kopf herumging, seit sie Domat al-Jandal verlassen hatten.

Khalidah komponierte nie, unternahm noch nicht einmal den Versuch dazu - sie hatte schon vor langer Zeit herausgefunden, dass es zu nichts führte. Wenn die Musik zu ihr kam, kam sie von selbst; ein neues Lied blieb ein Mysterium für sie, bis ihre Finger die Saiten berührten. Und so hatte sie auch an diesem Abend in Radwans mudhif keine feste Vorstellung davon, welche Worte aus ihrem Mund strömen würden, bis sie zu singen begann, und dann passte das Lied so perfekt zu der Melodie, als habe sie es in stundenlanger Arbeit darauf abgestimmt.

Schmal wie die Sichel des neuen Mondes  aschfahl von Antlitz, wie Pfeilschäfte,  die in der Hand  eines Spielers klirren …  so erhebt er in der Einsamkeit die Stimme.  Die anderen fallen ein  als wären er und sie allein zurückgebliebene Frauen,  die hoch oben auf dem Hügel klagen.  Seine Lider schließen sich. Er verstummt.  Sie folgen ihm.  Sie, er, verloren, verlassen  teilen das Leid ihrer Herzen,  und ringen darum,  die Fassung zu wahren  und ihr Geheimnis nicht preiszugeben.

 

Sie sang weiter, ohne die Männer zu beachten, die jetzt verzückt lauschten, wie sich Shánfaras alte Worte mit einer Musik vereinten, die als monotoner Gesang einer halb verrückten, am Rand einer Wüstenstadt unablässig in ihrem Kessel rührenden Frau begonnen hatte. Doch als sie zu den Zeilen über die Wüstentochter kam, geriet sie ins Stocken.

»Niemand hat dir erlaubt, einfach aufzuhören«, bellte Radwan.

»Entschuldige.« Khalidah stimmte das Instrument überflüssigerweise noch einmal. »Die oud liebt den Regen nicht.«

Radwan musterte sie unter seinen schweren Lidern eindringlich. »Du bist kein gewöhnlicher Straßenmusikant und auch kein Kind mehr.« Er hob das Mundstück der Huka an die Lippen, sog daran und stieß eine beißende Rauchwolke aus. »Komm her, Junge«, befahl er mit leiser, heiserer Stimme. »Lass dich einmal genauer anschauen.«

Viele Männer waren verstummt, als Khalidah zu singen begonnen hatte, verfolgten die Szene jetzt aber mit unverhohlenem Interesse. Khalidah beschlich das unbehagliche Gefühl, dass sie alle etwas wussten, was sie selbst nicht wusste. Ghassan wirkte leicht beunruhigt, aber ihr blieb keine andere Wahl, als die oud zur Seite zu legen und zu dem massigen Stammesführer der Mubarak hinüberzugehen. Sie kniete vor ihm nieder, den Blick auf den Boden gerichtet, doch er streckte eine Hand aus, hob ihr Kinn an und zwang sie, ihn anzusehen.

»So ungewöhnliche Augen«, murmelte er nachdenklich. »Und so eine weiche Haut … fast wie die eines Mädchens.« Ihr Herz machte vor Schreck einen Satz. Er weiß Bescheid, dachte sie voller Panik. Ihr Verdacht schien sich zu bestätigen, als sie Begierde in seinen Augen aufflackern sah. »Sag mir … was ist denn das Ziel deiner Reise?«

»Yazd«, flüsterte sie. Ihr war kaum bewusst, was sie sagte, und instinktiv griff sie auf ihre alte Geschichte zurück. »Ich werde zu einem Derwisch ausgebildet.«

»Ein heiliger Mann also«, brummte Radwan. »Wirklich zu schade.«

Sie sah, dass das Glitzern in seinen Augen einem Ausdruck von Enttäuschung gewichen war. Schlagartig begriff sie alles und fühlte sich sowohl erleichtert als auch abgestoßen. Zu ihrem Ärger bemerkte sie aus den Augenwinkeln heraus, wie einige Männer in die Ärmel ihrer Gewänder kicherten.

»Und wie lange wirst du bei Ghassan bleiben?«, fuhr er fort.

»Ich weiß es noch nicht«, stammelte sie. »Mein … mein Vetter hat das Viertagefieber, und wir können erst weiterreisen, wenn er wieder gesund ist.«

Radwan betrachtete sie einen Moment lang, dann seufzte er. »Nun gut«, meinte er resigniert. »Zumindest hast du eine schöne Stimme. Du wirst jeden Abend für mich spielen, solange du dich in meinem Dorf aufhältst.«

»Wie du wünschst, Sayyid«, nickte Khalidah.

»Ich nehme doch an, dass du nicht allen Freuden des Fleisches abgeschworen hast?«, fragte Radwan dann. Khalidah runzelte verwirrt die Stirn, bis sie sah, dass er ihr das Mundstück der Huka hinhielt. Sie schielte zu Ghassan hinüber, der nur die Achseln zuckte. Widerstrebend nahm sie die Pfeife entgegen. Radwan beobachtete, wie sie daran sog und den Rauch hustend wieder ausstieß. Offensichtlich stellte ihn ihre Reaktion zufrieden. Er bedachte sie mit einem Grinsen, das schwarze Zahnstümpfe entblößte, und mit einem Schlag auf die Schulter, ehe er krächzte: »Und jetzt, Junge, geh zu deiner oud zurück und spiel weiter.«

 Als Ghassan und Khalidah endlich zu Ghassans Kanu zurückstolperten, hatte der Regen etwas nachgelassen. Nach der unbewussten Abfuhr, die sie ihm erteilt hatte, hatte sich Radwan sichtlich für Khalidah erwärmt, Lied um Lied gefordert und ihr scharfen Kornschnaps  und banj aufgenötigt. Den Schnaps schüttete sie in die Binsenmatten, wenn niemand hinsah, aber die Luft im mudhif war so mit banj-Rauch geschwängert, dass sie auch dann die Wirkung gespürt hätte, wenn sie die ihr angebotene Pfeife abgelehnt hätte.

Khalidahs einzige frühere Erfahrung mit banj bestand in einem Nachmittag vor fünf Jahren, den sie mit Bilal und einem Klumpen Cannabisharz, der einem der Männer ihres Vaters aus der Tasche gefallen und von Bilal heimlich aufgehoben worden war, verbracht hatte.

»Bist du sicher, dass das Haschisch ist?«, hatte sie ihn gefragt und dabei zweifelnd den Klumpen betrachtet, den er ihr auf der Handfläche hinhielt und der eher den unverdauten Überresten eines kleinen Nagetiers ähnelte, die die Jagdfalken gelegentlich auswürgten.

»Natürlich bin ich sicher!« Bilal hatte ihr einen vernichtenden Blick zugeworfen, der ihr verraten hatte, dass er genauso unsicher war wie sie selbst, aber fest entschlossen, das nicht zuzugeben. »Es scheint nur leider nicht besonders viel zu sein …«

Wie sich herausstellte, hätte die Menge ausgereicht, um ein Pferd zu betäuben. Sie rauchten mit eiserner Entschlossenheit; ihre Ehre hing davon ab, den gesamten Klumpen um jeden Preis in ein Häufchen Asche zu verwandeln. Die Folge davon war ein kurzer Anflug von Euphorie, gefolgt von grässlichen Wahnvorstellungen, und am Ende waren sie verängstigt zu Zeyneb gelaufen und hatten ihr unter Tränen alles gebeichtet, während sie sich übergeben hatte, bis nur noch grüne Galle kam. Seit diesem Tag hatte Khalidah kein banj mehr angerührt, weshalb sie jetzt die Wirkung der Droge stärker zu spüren bekam, als sie es je für möglich gehalten hätte. Sie hoffte nur, dass derartige Exzesse während ihres Aufenthalts bei den Mubarak nicht zur Gewohnheit werden würden, sonst war ihre Gesundheit mit Sicherheit bald ebenso angeschlagen wie die Sulaymans.

Aber sein Anblick ernüchterte sie rasch. Die Kohlen in dem Becken waren fast heruntergebrannt. Sie kniete sich neben ihm nieder, während Ghassan neue nachlegte, an denen sogleich rote Flammen zu lecken begannen. Ghassan legte ihm eine Hand auf die Stirn, gab ihm noch etwas Medizin und wandte sich dann an Khalidah.

»Ich muss mich für Radwan entschuldigen«, sagte er. »Ich hätte nicht gedacht, dass er … solchen Gefallen an dir finden würde.« Khalidah warf ihm einen scharfen Blick zu, sagte aber nichts. »Du hast mir nicht gesagt, dass du singen kannst«, meinte er dann in einem ganz anderen Ton, den sie nur allzu gut kannte.

»Doch, das habe ich - du hast mich gefragt, kurz bevor wir gegangen sind, und ich habe dir geantwortet.«

»Das schon … aber ich wusste ja nicht, dass du singen kannst wie … wie …«

Sie sah zu, wie er nach Worten suchte, von denen sie aus bitterer Erfahrung wusste, dass er sie nicht finden würde. Endlich sagte er leise: »Wie dem auch sei, es tut mir leid.«

Sie wischte seine Entschuldigung mit einer Handbewegung beiseite. »Ich werde heute Nacht bei ihm wachen.«

Doch Ghassan schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Du schläfst jetzt«, ordnete er an. »Und du lässt Sulayman schlafen. Morgen wird eine Veränderung eintreten - ob zum Besseren oder zum Schlechteren lässt sich jetzt noch nicht sagen. Dann musst du ausgeruht sein.«

Khalidah wollte Einwände erheben, war aber zu erschöpft, um lange mit ihm zu diskutieren. Schuldbewusst und dankbar zugleich rollte sie sich auf der anderen Seite des Kohlebeckens in ihre Decke und schlief sofort ein.

 Am nächsten Morgen wurde sie von einer strahlenden Helligkeit geweckt. Sie kam sich vor, als wäre sie von einem Pferd meilenweit über einen harten Untergrund geschleift worden, und sie spürte, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte. Als sie sich mühsam auf die  andere Seite drehte, erkannte sie, was anders war: Nach tagelangem Dauerregen schien jetzt wieder die Sonne. Gleißende Strahlen fielen durch die Ritzen in den Schilfwänden, wurden von den Glasgefäßen und den glasierten irdenen Tiegeln zurückgeworfen und schmerzten in ihren Augen. Allmählich fielen ihr die Ereignisse des vergangenen Abends wieder ein: Ghassan, Radwan, die oud, ihre eigene Stimme, die Shánfaras Worten eine neue Bedeutung verlieh. Und dann seltsame Träume von endlosen Wüsten und dem Sirren von Mücken, das sich in eine Stimme verwandelte, die ihren Namen zischte; einen heißen Wind, der an ihren Kleidern und ihren Haaren zerrte, bis sie abwechselnd vor Kälte zitterte oder in der Hitze zu verglühen meinte, und einen dunklen Spalt in der Erde, voller roter Augen und messerscharfer Zähne, denen sie Sulaymans schlaffen Körper zu entreißen versuchte. Sie setzte sich mit einem Ruck auf, woraufhin sich der Raum um sie zu drehen begann. Und dann fiel ihr Blick auf Sulayman. Seine Augen standen offen und waren fest auf sie gerichtet.

Das Schwindelgefühl verebbte. Sie sprang auf. »Es geht dir besser!«

»Aber gesund ist er noch lange nicht«, erklang Ghassans Stimme von seinem im Schatten liegenden Arbeitstisch her. »Ich nehme an, ihr zwei habt euch viel zu erzählen - aber streng ihn nicht zu sehr an, Khalidah. Ich bin bald wieder zurück.« Er erhob sich, verließ das kleine Haus und trat in den hellen Sonnenschein hinaus.

Sulayman richtete sich langsam auf, als Khalidah sich zu ihm an sein Lager setzte, und dann sahen sie einander stumm an, weil keiner von ihnen wusste, was er sagen sollte. Sie fragte sich, ob er wohl den Drang unterdrückte, sie zu umarmen, so wie es ihr bezüglich seiner Person erging, dabei spürte sie aufsteigende Tränen in ihren Augen brennen und unterdrückte sie ärgerlich. »Es tut mir leid …«, begann sie.

»Es tut dir leid?«, unterbrach er sie. »Was geschehen ist, ist allein meine Schuld. Ich war so besessen davon, Khorasan zu erreichen, dass  ich an kaum etwas anderes gedacht und die ersten Symptome der Krankheit einfach ignoriert habe, und deswegen musstest du meinen Kadaver durch halb Jassirah schleifen …«

»Und das würde ich noch einmal tun, wenn ich dich dadurch retten könnte«, erwiderte sie ruhig.

Er lächelte schwach. »Tapfere Worte, Sayyida. Wir wollen hoffen, dass du sie nie in die Tat umsetzen musst.« Dann erstarb sein Lächeln, und er schüttelte den Kopf. »Viertagefieber - also wirklich! Ich hätte es besser wissen müssen. Das Erste, was ich bei der Truppe gelernt habe, war, nie an feuchten Orten mit schlechter Luft zu lagern.«

»Ich kannte einmal einen Kräuterkundigen, einen Berber, der eine Zeit lang mit unserem Stamm gereist ist«, erwiderte Khalidah. »Er hat behauptet, das Viertagefieber würde nicht von schlechter Luft ausgelöst, sondern von Moskitos übertragen.«

»Dann muss er ein Scharlatan gewesen sein.«

Khalidah lächelte. »Der Meinung war mein Vater auch, deshalb schickte er ihn fort. Trotzdem sind wir in den letzten Tagen von Mücken fast aufgefressen worden …«

Sulayman schüttelte den Kopf. »Dass ich krank geworden bin, war Allahs Wille … hoffentlich lässt Er mich auch rasch wieder gesund werden.« Eine Weile lauschten sie dem Rascheln des Schilfes im Wind, dann fragte er: »Was hältst du von Ghassan?«

»Er ist ein ziemlich schwieriger Mensch.«

Sulayman lachte leise. »Das kann man wohl sagen, aber welcher Mensch ist denn nicht schwierig?« Du, meistens jedenfalls, dachte Khalidah, behielt es aber für sich. »Hat er dir gesagt, wann wir weiterreiten können?«

Khalidah seuzfte. »Ghassan redet nicht viel mit mir. Ich fürchte, er mag mich nicht sonderlich.«

»Ghassan kann nur Dummköpfe nicht ertragen. Wenn er dich nicht mögen würde, wärst du nicht hier.«

Den Blick auf den Streifen silbrigen Wassers gerichtet, der hinter dem Türspalt schimmerte, meinte Khalidah nachdenklich: »Ich glaube, dir zuliebe würde er eine ganze Schar Dummköpfe erdulden.«

Sulayman grübelte einen Moment lang darüber nach. Seine Lippen pressten sich zu einem schmalen Strich zusammen. »Hat er dir erzählt, wie wir uns kennen gelernt haben?«, fragte er endlich.

Das Bild einer sich in den Wehen windenden Frau flammte vor Khalidah auf. Sie verdrängte es hastig, doch Sulayman war ihr veränderter Gesichtsausdruck nicht entgangen, und er deutete ihn richtig. »Was noch?« Seine Stimme klang plötzlich gepresst und angespannt. »Was hat er dir sonst noch erzählt?«

»Das, was du ohnehin schon weißt«, gab sie bedächtig zurück. »Und einiges, was du noch nicht weißt. Aber danach solltest du ihn besser selbst fragen, Sulayman.«

Er sah sie an wie ein waidwundes Tier. Als er endlich langsam nickte, konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er damit weniger Zustimmung bekunden als vielmehr etwas bestätigen wollte, was ihm bereits bekannt war.

 Die Abenddämmerung brach langsam über dem Wasserdorf herein. Die Mütter riefen ihre Kinder nach Hause, Wasserbüffel stapften schwerfällig zu ihren Ställen zurück, Männer vertäuten mit Fischen oder frisch geschnittenem Viehfutter beladene Kanus, und der Rauch von fünfzig Kochfeuern kräuselte sich zum Himmel empor. Sulayman und Khalidah saßen mit Ghassan vor dessen Hütte an einem eigenen kleinen Feuer. Ghassan buk Fladenbrot, röstete Fische und setzte ihnen diese Mahlzeit dann vor.

»Kranke zu pflegen regt den Appetit an«, meinte er, als er sich über seine eigene Portion hermachte.

Sulayman griff nach einem Stück Brot, doch Khalidah bedachte  Ghassan nur mit einem langen, herausfordernden Blick. Dieser winkte mit einer Hand ab. »Ja, ich weiß, dass ich es ihm sagen sollte. Aber alles zu seiner Zeit, Khalidah.«

»Ich mag es nicht, wenn ein Geheimnis zwischen uns steht«, gab sie unwirsch zurück.

»Und wenn das so bleibt, könnt ihr euch glücklicher schätzen als die meisten anderen Paare«, erwiderte Ghassan trocken.

Sulayman und Khalidah sahen sich an und senkten dann beide verlegen den Blick. »Du stellst zu viele Mutmaßungen an«, sagte Khalidah leise.

»Oh, das glaube ich nicht.« Ghassans Stimme klang mit einem Mal seltsam schroff und zugleich voller Sehnsucht. Er kaute einen Moment lang nachdenklich an seinem Bissen Brot, dann seufzte er resigniert. »Na schön, du gibst ja doch keine Ruhe …«

Er begann, Sulayman die Geschichte zu erzählen, die Khalidah am Abend zuvor zu hören bekommen hatte. Nachdem er geendet hatte, legte sich Schweigen über die kleine Gruppe, bis Sulayman nicht gerade verbittert, aber gänzlich ohne Wärme fragte: »Hast du dein Geheimnis jetzt gelüftet, weil du glaubst, dass ich dem Tode nah bin?«

»Nein, sondern weil du sterblich bist«, erwiderte Ghassan, was Khalidah wenig tröstlich fand.

»Das ist keine Antwort!«, fuhr Sulayman auf.

Ghassan sah ihn ruhig an. »Wir müssen alle irgendwann sterben, Sulayman. Ich gebe zu, dass ich, was Haya betrifft, zu lange geschwiegen habe. Bitte lass es uns dabei belassen.«

Sulayman wandte sich an Khalidah. »Und du? Glaubst du, dass ich der Sohn dieser Jüdin bin?«

Khalidah sog die feuchte Luft tief ein, ehe sie antwortete: »Ich glaube, dass es nicht darauf ankommt, was ich glaube. Du musst deine Vergangenheit aus den Puzzleteilchen zusammensetzen, die dir zur Verfügung stehen - genau wie ich.«

Sulayman musterte sie einen Moment lang mit undurchdringlicher Miene, dann ging er ins Haus zurück.

 

Wuestentochter
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