31

Khalidah und Sulayman erreichten das Dorf mit dem Cannabisbusch und passierten es ohne irgendwelche Zwischenfälle, nur eine an den harzigen Blättern knabbernde Ziege starrte sie böse an, als sie an ihr  vorbeiritten. Bald begann ein neuerlicher Aufstieg, diesmal in Berge, die ebenso unüberwindlich wie Furcht einflößend wirkten. Noch nicht einmal das eine oder andere Lehmdorf lockerte die Eintönigkeit der Landschaft auf: Schneefelder und Gletscher, Schmelzwassersturzbäche und kristallklare Seen. Allem haftete die kalte Schönheit eines unberührten und unberührbaren Landes an.

Sulayman kannte die Namen der Berge und Flüsse nicht mehr. Khalidah bezweifelte, dass sie je andere getragen hatten als die, die Allah ihnen zu Beginn der Zeit gegeben hatte. Der Grasbewuchs wurde immer spärlicher und endete schließlich ganz, sodass sich die Pferde widerwillig wieder mit Kamelmilch und Datteln zufriedengeben mussten.

Immer weiter drangen sie in die Berge vor; zitterten des Nachts vor Kälte und trotteten tagsüber mühsam die schmalen Pfade entlang. Da der Untergrund trügerisch war, hatten sie das Reiten schon in den ersten Tagen aufgegeben, außerdem heilte Zahirahs Beinwunde nicht aus, daher führten sie die Pferde am Zügel, auch wenn Khalidah oft meinte, ihre Beine würden sie nicht länger tragen. Obwohl ihre Vorräte wieder knapp wurden, wagten sie nicht, die Schäfer anzusprechen, die gelegentlich mit ihren Herden ihren Weg kreuzten: wild aussehende Männer in schmutzigen Wollgewändern mit wie aus Granit gemeißelten Gesichtern und Augen, in denen das Weiße blutrot leuchtete. Als Khalidah das sah, war sie überzeugt, leibhaftige Teufel vor sich zu haben. Es gelang Sulayman nur mit großer Mühe, sie davon zu überzeugen, dass es eine Gewohnheit dieser Leute war, sich die Augen mit Färberrot einzureiben, damit sie furchterregender wirkten.

»Als ob das nötig wäre«, schnaubte Khalidah, die ihm zwar immer noch nicht ganz glaubte, aber wenig Lust verspürte, diese Theorie an sich selbst auszuprobieren.

»Komm schon, Khalidah«, tröstete er. »Es kann jetzt nicht mehr weit sein.«

Aber seine Worte trugen wenig zu ihrer Beruhigung bei. Sie befanden sich so weit im Osten, wie er noch nie zuvor gekommen war, und noch immer gab es keine Anzeichen dafür, dass in dieser Gegend Menschen lebten, wenn man von den dämonenäugigen Schäfern mit ihren dickschwänzigen Schafen einmal absah, die auf dem Weg vom Nirgendwo zum Nirgendwo, wie es schien, durch die Berge zogen. Endlich musste sich Sulayman eingestehen, was er schon seit Tagen wusste, aber nicht hatte wahrhaben wollen. Es war erst Mittag, doch der Himmel im Norden hatte sich Unheil verkündend verdunkelt, und der Wind frischte auf, also lagerten sie im Schatten eines mächtigen Gletschers und kauerten sich dicht aneinandergeschmiegt vor ihr qualmendes Feuer. Ihre Decken hatten sie den Pferden übergeworfen, weil es ihr sicherer Tod wäre, wenn der Schweiß auf ihrem Fell gefrieren würde.

Während Khalidah aus ihren kargen Vorräten eine Suppe zusammenrührte, die zwar wenig appetitlich, aber wenigstens heiß war, sagte Sulayman plötzlich: »Es ist vorbei.«

Khalidahs Kopf fuhr hoch. »Wie bitte?«, fragte sie, obwohl sie wusste, wie seine Antwort lauten würde.

»Wir können nicht mehr weiter«, erwiderte er tonlos. »Wir haben kaum noch genug zu essen, um damit bis zum letzten Dorf zurückzukommen, und das auch nur, wenn uns nichts aufhält.«

Einige Minuten lang rührte Khalidah schweigend in der Suppe. Endlich reichte sie Sulayman einen Löffel. »Nein«, sagte sie ruhig, aber in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Er sah ungläubig zu ihr auf. »Nein? Wie stellst du dir das denn vor? Sollen wir uns vielleicht von Eis und Geröll ernähren?«

Khalidah tauchte ihren eigenen Löffel in die dampfende Flüssigkeit. »Ich denke, dass ich zu weit gekommen bin, um jetzt aufzugeben«, entgegnete sie.

»Khalidah …«

»Denk doch einmal nach. Beim letzten Mal hast du Qaf erst erreicht, als du am Ende deiner Kräfte warst. Vielleicht verhält es sich jetzt genauso. Vielleicht will man uns auf die Probe stellen. Wir sollen den Dschinn beweisen, dass wir ihrer würdig sind, und sie kommen uns holen, wenn wir diesen Beweis erbracht haben.«

»Das habe ich bereits hinter mir, und von dir wird ein solcher Beweis wohl schwerlich erwartet«, gab er zurück.

»Warum nicht?«

»Weil du eine Dschinn bist.«

»Nein - ich bin die Tochter einer verstoßenen Dschinn und eines fremdländischen Scheichs. Menschen mit gemischtem Blut sind nirgendwo gern gesehen.«

»Warum hat Tor Gul Khan mich dann ausgeschickt, um dich zu suchen?«

»Vermutlich, weil er hofft, dass sich mein Dschinnblut letztendlich als stärker erweisen wird. Vielleicht will er mich jetzt gerade auf die Probe stellen.« Sie hielt inne, dann fügte sie hinzu: »Und sich vielleicht ein Bild vom Ausmaß unseres Vertrauens machen.«

»Unseres Vertrauens? In wen oder was?«, kam es bitter zurück.

»Meines in dich«, antwortete sie ohne Zögern. »Und deines in ihn.«

»Wie kann er erwarten, dass wir Vertrauen in ihn setzen, wenn er uns keinen Grund dafür liefert?«, widersprach Sulayman. »Und wie kann ich Vertrauen in etwas setzen, von dem ich nicht beweisen kann, dass es nicht nur in meiner Fantasie existiert?«

»Ist das nicht die Bedeutung von Glaube und Vertrauen?«, fragte sie weich. Ihre goldenen Augen ruhten voll unerschütterlicher Überzeugung auf ihm. In diesem Moment entschied Sulayman, dass er lieber in diesem namenlosen eisigen Tal umkommen würde, als in einer Welt weiterleben zu müssen, in der die in einem solchen Blick liegende Hoffnung enttäuscht wurde. Also griff er nach seinem Löffel und begann zu essen.

In dieser Nacht kam ein Schneesturm auf, und sie konnten nichts anderes tun, als sich Wärme suchend zwischen den sich eng an sie schmiegenden Pferden aneinanderzuklammern; ein winziger Kreis von Leben in einer Wildnis aus Stein und Eis. Khalidah bemühte sich verzweifelt, wach zu bleiben, denn sie wusste, dass sie, wenn sie einschlief, höchstwahrscheinlich nie wieder aufwachen würde. Doch endlich wurde sie von ihrer Erschöpfung übermannt, und plötzlich wich der peitschende Schnee sanfter Wärme und Händen, die liebevoll über ihren Kopf strichen. Sie schlug die Augen auf und erhaschte einen Blick auf einen flatternden, mit bunten Blumen und Vögeln bestickten weißen Schal.

»Ummah.« Sie versuchte sich aufzusetzen, doch die Hände drückten sie mit sachter Gewalt zurück. Außer den durchdringenden goldenen Augen konnte sie von Brekhnas Gesicht nichts erkennen, und diese lösten sich im nächsten Moment vor ihr auf, und vor ihr entstand das Bild einer Sandwüste in der Abenddämmerung und einer in eine erbitterte Schlacht verstrickten Armee. Es waren Muslime, das erkannte sie an den mit Koransprüchen bestickten Bannern, und ihre Zahl war so groß, dass sie zunächst dachte, sie würden sich gegenseitig bekämpfen. Dann begann sie inmitten des aufwirbelnden Staubes und des blitzenden Stahls weiße Tuniken mit roten Kreuzen auszumachen - die Kleidung der Tempelritter. Doch die Männer waren alle tot, ihre Leichen wurden unter den Hufen der Pferde ihrer muslimischen Gegner zermalmt.

Einen Moment später erkannte sie, dass auch das nicht ganz zutraf. In der Mitte der riesigen islamischen Armee stand ein christlicher Ritter noch aufrecht; ein junger Mann mit einem Gesicht, das nie einem Soldaten hätte gehören dürfen. Tränen rannen aus seinen braunen Augen in seinen rotbraunen Bart, während er auf die Feinde einhieb, die ihn mit tödlicher Entschlossenheit immer enger umzingelten. Hinter ihm saß ein junger Mann auf seinem Pferd und beobachtete ihn: ein Muslim, der eine blutbefleckte gelbe Tunika über der Rüstung eines Prinzen trug. Sein fein geschnittenes Gesicht war von Kummer und Mitleid gezeichnet. Er sah zu, wie die Soldaten den fränkischen Ritter verhöhnten und seinen Tod absichtlich hinauszögerten, um sich an den Qualen ihres Opfers zu weiden, dabei schlossen sich seine Finger so fest um den Griff seines eigenen blutigen Schwertes, dass die Knöchel weiß hervortraten. Khalidah betete unwillkürlich, dass er sich ein Herz fasste und den sterbenden Ritter erlöste. Als hätte er ihre stumme Bitte gehört, hob der junge Prinz sein Schwert und spaltete dem Franken mit einem mächtigen Hieb, den dieser nie kommen sah, Helm und Schädel. Der Ritter sank leblos zu Boden. Der Prinz riss sein Pferd herum und galoppierte davon, doch Khalidah hatte trotzdem noch die Tränen gesehen, die über sein Gesicht strömten.

Während er in der Ferne verschwand, hörte sie den silbrigen Klang einer na’ay, die eine Melodie spielte, die Khalidah nicht kannte, obwohl sie den bitteren Kummer in ihrem Herzen in Töne zu fassen schien. Nach und nach verhallten die Kampfgeräusche, und das Schlachtfeld versank im Dunkeln, doch die Flötenklänge hielten an, und dann spürte sie Arme, die sie umschlangen, und das Pochen eines Herzens an ihrem Ohr. Sie schlug die Augen auf und stellte fest, dass sie sich eng an Sulaymans Brust schmiegte und die Finger in seinen Mantel gekrallt hatte. Sie erinnerte sich an Schnee und schroffe Felsen, sah jetzt aber nichts davon. Auch die im Abendsonnenschein kämpfende Armee war verschwunden, war einem flackernden Feuer, einem weichen Kissen unter ihr, dem durch ein hohes Fenster scheinenden Mond und einer wohligen, ihren ganzen Körper durchströmenden Wärme gewichen.

»Ich wusste gar nicht, dass du Paschtu sprichst.« Sulayman blickte mit einem Lächeln, das seine Besorgnis nicht ganz verdecken konnte, auf sie hinunter.

»Das tue ich auch nicht.«

»Trotzdem hast du vor ein paar Minuten in deinem Traum ein paar Worte in dieser Sprache gesprochen … oder vielmehr geschrien. Wovon hast du nur geträumt?«

»Frag sie das jetzt noch nicht«, mischte sich eine Männerstimme mit einem Akzent ein, den sie nicht einordnen konnte. Erst jetzt merkte sie, dass die na’ay verstummt war. Sie drehte sich um und sah den Sprecher neben ihrem Lager auf dem Boden sitzen: ein alter, aber immer noch kraftvoller und vitaler Mann, der ein weißes Gewand und einen dunklen Turban trug. In seinem Schoß lag eine Schilfflöte. Er lächelte sie an, doch seine goldenen Augen blickten ernst.

»Wo sind wir?«

Khalidah hatte die Frage an Sulayman gerichtet, doch es war der alte Mann, der antwortete: »Du befindest dich in meinem Haus.«

»Und du bist …«

»Tor Gul Khan. Dein Großvater.« Er legte eine Hand auf sein Herz und verneigte sich leicht vor ihr. »As-salaamu’aleikum, Khalidah bint Abd al-Aziz al-Hassani. Es ist mir eine Ehre, dich als Erster in Qaf willkommen zu heißen.«

 

 

 

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