7

Die psarlay-Feiern hielten eine Woche an und verliefen auch weiterhin weitgehend so, wie sie begonnen hatten - mit Musik, Tanz und Opfern für verschiedene Götter, die den Dschinn eine reiche Ernte  bescheren sollten. Es gab einen wraz de shode, einen ›Milchtag‹, an dem jeder mit einer Schale Milch von Haus zu Haus ging und die Schafe und Ziegen singend beschwor, reichlich zu fressen und viel Milch zu geben. Bei einer anderen Zeremonie tanzten alle Kinder des Tals mit dünnen Walnusszweigen in den Händen im Kreis, um den Göttern für diesen Bestandteil ihrer Nahrung zu danken. Auf den Altären wurden einigen Gottheiten Tiere geopfert - Rituale, von denen Khalidah sich stets fernhielt -, und es fanden zwanglose Versammlungen statt, bei denen die Heldentaten Mobarak Khans und einiger gefallener Dschinn-Helden gepriesen wurden. All dies wurde von Musik begleitet: schnellen, mitreißenden Weisen, die die Tänzer anfeuerten, und anderen, langsameren Liedern, die den Kamelgesängen von Khalidahs Stamm ähnelten und eine verlorene Liebe oder blutige Kämpfe beklagten.

Obwohl Khalidah diesem kafir-Fest noch immer mit gemischten Gefühlen gegenüberstand, war es ihr nicht möglich, die Dschinn einfach als Ungläubige abzutun. Sie hegten eine tiefe Ehrfurcht vor allen Lebewesen, vollführten sogar ihre Opferungen mit aufrichtigem Bedauern und vergaßen nie, die sterbenden Geschöpfe um Verzeihung zu bitten. Die verzweifelte Sehnsucht nach einem Leben nach dem Tod, die die Religionen des Westens zu prägen schien, kannten sie nicht. Die Dschinn betrachteten Qaf als ihr Himmelreich, das ihre Götter mit allem ausgestattet hatten, was sie benötigten: fruchtbarem Land, sauberem Wasser und den nötigen Rohstoffen, um Kleider herzustellen und Häuser zu bauen.

Am letzten Tag des Festes standen die Mädchen aus der Klause im Morgengrauen auf und gingen zu den Weiden hinunter, wo die Pferde grasten. Dort füllten sie Körbe mit Wildblumen und langen Gräsern und brachten sie zum Tempel. Es war das erste Mal, dass Khalidah ihn von innen sah - tatsächlich hatten die schweren, geschnitzten Türen bislang noch nie offen gestanden. Sie folgte Abi  Gul in einen weitläufigen Raum mit gewölbter Decke. Durch Reihen hoher, schmaler Fenster, deren Läden aufgestoßen worden waren, um die frische Frühlingsluft hineinzulassen, fiel helles Sonnenlicht. Der Boden war mit prächtigen, nach Art der Perser geknüpften Teppichen bedeckt. Es gab keine Kanzel, dafür aber zahlreiche, mit geschnitzten Figuren übersäte und von Hunderten winziger, flackernder Lampen erleuchtete Altäre.

Die Mädchen traten zu einem der größten davon hinüber. Jetzt erkannte Khalidah, dass die Schnitzarbeiten Pferde darstellten - Tausende individueller Figürchen, die den Altar, die Stufen davor und den Boden ringsum bedeckten. Jede war offenbar mit großer Sorgfalt angefertigt und bemalt worden. Einige wirkten neu, andere sehr alt.

»Wenn ein Schlachtross stirbt, schnitzen wir sein Ebenbild und stellen es hier auf«, erklärte Abi Gul. »Wir ehren es, wie wir unsere gefallenen Krieger ehren, denn ohne unsere Pferde wären wir keine Krieger.«

Sie setzte sich zu den anderen Mädchen auf den Boden, griff sich eine Hand voll Gras und Blüten und begann einen Kranz daraus zu flechten. Nachdem Khalidah ihr eine Weile zugesehen hatte, versuchte sie sich gleichfalls daran. Die Mädchen sangen bei der Arbeit leise, und Khalidah verstand inzwischen genug Paschtu, um mitzubekommen, dass sie ihre Pferde priesen.

Nach ein paar Minuten sagte Abi Gul: »Du hast eine außergewöhnlich schöne Stimme.«

Khalidah hatte nicht bemerkt, dass sie die Melodien mitgesummt hatte. Verlegen nickte sie.

»Ich habe gehört, dass Brekhnas Stimme auch so ungewöhnlich war«, fuhr Abi Gul fort. »Du musst etwas für uns singen - eines der Lieder deines Stammes.«

»Ich glaube nicht …«, wandte Khalidah ein, wurde aber sofort von Protesten und Bitten übertönt.

Seufzend überlegte sie kurz und entschied sich dann für ihre eigene Version von Shánfaras Ode. Ihre Stimme hallte in dem gewölbeähnlichen Raum wider, was ihr eine eigentümlich ätherische Note verlieh. Die Mädchen arbeiteten unbeirrt weiter, während sie sang, und nach einer Weile begann Khalidah sich zu entspannen. Als das Lied zu Ende war, dankten sie ihr, und Khalidah stellte überrascht fest, dass sie weder das Unbehagen noch die Ehrfurcht erkennen ließen, die ihr sonst oft entgegenschlugen, wenn sie ein Lied vortrug. Stattdessen begann ein anderes Mädchen zu singen, und so flochten sie weiter an ihren Kränzen, bis Gras und Blumen aufgebraucht waren, und legten sie dann mit ein paar gemurmelten Worten am Fuß des Altars nieder.

Abi Gul wiederholte auf Arabisch: »Mögen eure Geister eure Söhne und Töchter zu Ruhm und Ehre führen.«

Danach verließen die Mädchen den Tempel. Khalidah wandte sich an Abi Gul. »Wird jemand daran Anstoß nehmen, wenn ich noch etwas bleibe?«

»Höchstens Sulayman«, grinste diese.

Nachdem auch Abi Gul gegangen war, kniete Khalidah vor dem Pferdealtar nieder und suchte nach der einen Figur, die sie kaum zu finden hoffen durfte und die doch hier sein musste, dann wenn Brekhna für ihren Stamm tot war, war es ihr Pferd ebenfalls. Plötzlich schob sich ein weiß bekleideter Arm über ihre Schulter und griff zielsicher nach einer kleinen kastanienbraunen Figur. Das Pferd war mitten in der Bewegung dargestellt, Kopf und Schweif trug es stolz erhoben. Khalidah drehte sich um und blickte zu Tor Gul Khan empor.

»Husay«, sagte er, als er ihr die Figur reichte. »Das heißt …«

»Falke«, unterbrach sie. »Ich … ich erinnere mich an ihn.« Tatsächlich war die Erinnerung schlagartig zurückgekehrt. Sie war auf diesem Pferd geritten, oder vielmehr hatte ihre Mutter es geritten und sie dabei in einer Schlinge auf dem Rücken getragen, und sie hatte vor Vergnügen laut gequiekt.

Tor Gul Khan maß sie mit einem nachdenklichen Blick. »Zweifellos, wenn du dich wirklich noch an deine Mutter erinnerst. Sie hat dieses Pferd über alles geliebt. Außerdem würde ich Wetten darauf abschließen, dass in deiner hübschen Stute etwas von seinem Blut fließt.«

Diese Vorstellung war sogar noch beunruhigender als ihre plötzlich zurückgekehrte Erinnerung. Tor Gul Khan kniete sich neben sie und betrachtete den Altar, über den die Pferde im flackernden Licht dahinzugaloppieren schienen. Endlich sagte er: »Du hast dich bislang gut gehalten.«

Khalidah schüttelte den Kopf. »Dazu bestand kein Anlass. Alle hier waren sehr freundlich zu mir.«

»Ich habe nichts anderes erwartet. Aber die Frage bezog sich auf deine Reise, nicht auf die Tage, die du in Qaf zugebracht hast.« Khalidah fragte sich, von wem er wohl Informationen über diese Reise bezogen haben konnte. »Sag mir doch«, fragte er nach einem Moment mit einem Anflug von Humor, »was du von Abi Gul hältst.«

Khalidah lächelte. »Sie ist sehr nett. Und redet wie ein Wasserfall.«

Tor Gul Khan lachte leise. »Sie zeigt auch außergewöhnliches Geschick im Umgang mit dem Bogen.«

»Ich weiß. Ich habe sie auf dem Übungsfeld beobachtet.«

»Sie wird eines Tages eine unserer besten Kriegerinnen sein«, bemerkte Tor Gul Khan nachdenklich. »Wenn sie nicht ihren Überzeugungen zum Opfer fällt.«

Khalidah erschauerte, weil sie ähnlich wie am lange zurückliegenden Vorabend ihrer Hochzeit, kurz bevor ihr ihre Mutter erschienen war, ein bedrückendes Gefühl bevorstehenden Unheils überkam. »Wie meinst du das?«

Tor Gul Khan musterte sie forschend, während der Wind um den steinernen Turm über ihnen heulte und in der Ferne die Schreie eines Raubvogels, Trommelklänge und das Summen einer sitar ertönten.

»Deine Mutter war meine Erbin und sollte meine Nachfolgerin  werden«, erwiderte er. »Aber das war nur nebensächlich; verblasste angesichts der Tatsache, dass sie auch eine Nachfahrin von Mobarak Khan war. Als Brekhna sich von den Dschinn lossagte, geriet nicht nur die Erbfolge, sondern auch die natürliche Ordnung von Qaf und seiner Bewohner aus den Fugen.«

»Und du glaubst, mir ist es bestimmt, diese Ordnung wieder herzustellen?«

»Offen gestanden, Khalidah«, erwiderte er mit müdem Ernst, »habe ich nicht die geringste Ahnung.« In seinen Augen las Khalidah mehr Fragen als Antworten, doch ehe sie etwas sagen konnte fuhr er fort: »Weißt du, was ein betaan ist?«

Khalidah schüttelte den Kopf.

»Er oder sie ist ein Prophet. Kein Prophet im Sinne Jesu Christi oder eures Mohammed, auf denen eine ganze Religion basiert, sondern eine weltlichere, aber dennoch unverzichtbare Version davon - sozusagen Orakel und Priester in einer Person. Ein betaan spricht mit den Geistern, die wiederum mit ihren Göttern sprechen, also ist er in gewissem Sinne die Stimme der Götter.«

Tor Gul Khan hielt inne, weil er zu ahnen schien, dass Khalidah etwas Zeit brauchte, um seine Worte zu verarbeiten. Dann fuhr er fort: »Zurzeit ist ein Mann namens Alipsha unser betaan. Er lebt auf der Hochweide, wo unsere Herden im Sommer grasen, weil er dort seinen Geist rein erhalten kann. Ich gehe zu ihm, wenn ich seinen Rat benötige, und noch seltener kommt er mit Botschaften oder Warnungen zu mir. Am Vorabend meiner Hochzeit mit deiner Großmutter zum Beispiel prophezeite er mir, dass ich keinen Sohn haben und Mobarak Khans Erbe nach meinem Tod auf eine Frau übergehen würde. Natürlich ging ich nach Brekhnas Geburt davon aus, dass sie diese Frau sein würde. Aber ich hatte Alipsha nicht genau genug zugehört, worauf er mich hinwies, als ich ihn voller Zorn zur Rede stellte, nachdem Brekhna uns verlassen hatte. Die Geister hatten ihm nur gesagt,  dass eine Frau meine Nachfolge antreten würde, und nur das hatte er an mich weitergegeben. Weder sie noch er hatten in irgendeiner Weise angedeutet, dass es sich bei dieser Frau um meine Tochter oder überhaupt um jemanden von meinem Blut handeln würde.«

Tor Gul Khan brach abrupt ab, als wäre es zu schmerzlich für ihn, die nächsten Worte auszusprechen.

»Dann hast du mich hierherbringen lassen, um herauszufinden, ob ich diese von den Geistern angekündigte Nachfolgerin bin«, stellte Khalidah sachlich fest.

Ihr Großvater holte tief Atem, sagte aber, statt ihre Frage zu beantworten: »Du hast die Geschichte unserer Herkunft gehört und kennst Mobarak Khans Gelübde, daher wirst du verstehen, warum wir uns dem Kampf gegen das Böse und gegen jegliches Unrecht verschrieben haben. Wir trachten danach, beides auszumerzen, wann und wo immer es sich zeigt, denn wir halten es für das Vermächtnis der bösen Geister, die Mobarak Khan zu Beginn allen Seins vertrieben hat. Aber damit war die Geschichte noch nicht zu Ende.«

Wieder entstand eine Pause. Khalidah gewann den Eindruck, dass ihr Großvater sich innerlich für das wappnete, was gleich folgen würde. Endlich fuhr er fort: »Zu Mobarak Khans Zeit lebte ein Schaf hirte namens Pamir unter den Dschinn. Er war ein eigenartiger Mann. Manche bezeichneten ihn als einfältig, aber es war allgemein bekannt, dass er Visionen empfing, die sich oft bewahrheiteten. Heutzutage wäre er zweifellos ein berühmter betaan gewesen. Damals aber erkannten die Dschinn außer Mobarak Khan keinen Propheten an.

Pamir war mit seiner Herde auf den Hochweiden, als Mobarak Khan starb, und trotzdem erschien er drei Tage nach dessen Tod, an dem Morgen, an dem er zur letzten Ruhe gebettet werden sollte, an seinem Grab. Er zeigte keinerlei Überraschung darüber, den Stammesführer tot in seinem Sarg liegend vorzufinden, sondern wunderte sich nur über die Trauer seines Volkes. ›Warum weint und klagt ihr  so?‹, fragte er sie. ›Mobarak Khan ist nicht gestorben, sondern hat uns nur für einige Zeit verlassen, so wie es ein Hirte tut, wenn er zu den Sommerweiden zieht.‹<

Die Leute taten seine Worte als Zeichen von Irrsinn ab, doch Pamir war noch nicht fertig. Er teilte ihnen mit, ihm sei im Traum der Geist von Mobarak Khan erschienen und habe ihm geweissagt, das Glück würde den Dschinn viele Generationen lang hold sein; sie würden all die Kämpfe gewinnen, die sie auszufechten hätten, und während der restlichen Zeit friedlich in ihrem Tal leben. Aber eines Tages würden sich die bösen Geister, die er einst vertrieben hatte, wieder zusammenrotten und eine Armee von unvorstellbarer Stärke bilden. Sie würden vom Westen her über das Meer kommen und wie eine Welle des Bösen über den Osten hinwegrollen. Die Städte würden in Blut ertrinken, die Bewohner, die das Gemetzel überlebten, ihr weiteres Dasein als Sklaven fristen. Doch wenn dieser Tag kommen würde, würde Mobarak Khan wieder menschliche Gestalt annehmen, um die Armee der Menschen gegen die des Bösen in die Schlacht zu führen.«

Khalidah merkte erst jetzt, dass sie die geschnitzte Figur von Brekhnas Pferd so fest umklammerte, dass sie sich schmerzhaft in ihre Handfläche bohrte. Mit angehaltenem Atem wartete sie darauf, dass Tor Gul Khan weitersprach.

»Prophezeiungen sind nie so klar und eindeutig, wie man es gerne hätte«, sagte er endlich. »Mobarak Khans Geist hatte Pamir zum Beispiel gesagt, er würde als Mitglied eines bedeutenden Stammes von lokalem Adel wiedergeboren werden und sich als Anführer erst beweisen müssen. Er würde das Kind einer neuen Religion und Verfechter ihrer Tugenden sein, dabei aber zugleich die alten Lehren ehren. Pamir konnte auch weder vorhersagen, wann und wo diese Wiedergeburt erfolgen, noch, ob Mobarak Khan in Gestalt eines Mannes oder einer Frau auf die Erde zurückkehren würde.«

Khalidah sog zischend den Atem ein und stieß ihn wieder aus.  »Bitte erzähl mir jetzt nicht, dass du mich für Mobarak Khans Reinkarnation hältst.«

Tor Gul Khan sah seine Enkelin an. Zu ihrer Verwirrung spielte ein Lächeln um seine Lippen. »Nein, Khalidah, das tue ich nicht.« Bei diesen Worten durchzuckte sie ein unerwarteter Stich der Enttäuschung. »Ich fürchte, die Bedeutung dieser Geschichte - und deine Rolle darin - ist wesentlich komplizierter. Jede Religion steckt voller Widersprüche, wie du selbst am besten wissen wirst. Nimm Jesus als Beispiel: Sowohl dein Volk als auch die Christen und Juden glauben, dass er einst auf dieser Erde wandelte und den Menschen eine wichtige Botschaft brachte. Aber je nach Sichtweise galt er als Prophet, als Irrsinniger, als Ketzer oder als Gott. Mir bleibt es unbegreiflich, wieso wegen dieser Frage so viel Blut vergossen werden konnte, denn letztendlich war er doch nur eines - ein Mann, der Liebe und Güte predigte. Doch für die Menschen, die um die Herrschaft über Al-Quds ringen, geht es nicht nur um Leben oder Tod, sondern auch um Erlösung oder Verdammnis.

Und dann nimm den Islam. Ihr alle betrachtet Mohammed als seine Galionsfigur, aber seit dem Moment seines Todes entzweit euch die Frage seiner Nachfolge, und wieder musste deshalb Blut fließen.« Wieder seufzte er. »Nun, unsere eigene Religion bildet leider auch keine Ausnahme. Wenn du an ihrer Oberfläche kratzt, wirst du feststellen, dass sie ebenso umstritten ist wie das Christentum oder der Islam. Seit Pamirs Vision konnten die Dschinn sich nicht einig werden, ob der Schaf hirte nun ein Prophet oder ein vor Kummer über den Tod seines geliebten Stammesführers um den Verstand gebrachter Narr war. Einige von uns - unter anderem Abi Gul und ihre Familie - halten Mobarak Khan für einen Messias, der eines Tages zu uns zurückkehren und uns in den Kampf führen wird. Andere glauben, dass er nur ein Mann war - ein Mann, der unter dem Schutz der Götter stand und in dessen Adern vielleicht sogar göttliches Blut floss,  nichtsdestotrotz aber ebenso ein Mensch aus Fleisch und Blut wie wir und somit sterblich.

Wäre mit Pamirs Prophezeiung alles zu Ende gewesen, wäre diese Kluft vielleicht überwunden worden, und beide Parteien hätten sich im Laufe der Zeit wieder angenähert. Aber unglücklicherweise kam es anders. Siehst du, Khalidah, wir verbrennen oder begraben unsere Toten nicht, sondern bringen sie in hölzernen Särgen zu den Friedhöfen in den Hügeln hinauf und überlassen sie dort den Elementen. Wir glauben, dass der Körper auf diese Weise am schnellsten zu seinem Ursprung zurückkehren kann. Das bedeutet allerdings auch, dass die Gräber Angriffen von Tieren oder Räubern ausgesetzt sind. Am Tag nach Mobarak Khans Beisetzung ging eine von seiner Gemahlin angeführte Gruppe von Frauen zu seinem Grab, um Brot daraufzulegen - eine unserer Sitten, ein Opfer für die Götter -, und als sie dort ankamen, fanden sie den Sarg leer. Der Deckel war abgenommen worden, und es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass jemals ein Leichnam darin gelegen hatte.«

»Wie bei Jesus«, murmelte Khalidah.

Tor Gul Khan warf ihr einen scharfen Blick zu. »Es gab eine ganze Reihe logischer Erklärungen dafür, aber für diejenigen, die sich verzweifelt an die Überzeugung klammerten, dass er uns nie wirklich verlassen hatte, war es ein Beweis dafür, dass die Götter Mobarak Khans Körper an sich genommen hatten und er in dunklen Zeiten zu uns zurückkehren würde, wie Pamir es vorhergesagt hatte. Seitdem sind wir in zwei Glaubenslager gespalten, aber es ist uns gelungen, mit unseren unterschiedlichen Ansichten zu leben. Deshalb ist die Person des Khans auch für den Stamm so wichtig: Seine vorrangigste Aufgabe besteht darin, den Frieden zu bewahren. Aus diesem Grund muss er ungeachtet seiner persönlichen Überzeugungen immer neutral bleiben, und Glück und Weisheit haben dies bislang auch immer möglich gemacht.«

»Bislang?«, wiederholte Khalidah argwöhnisch.

»Bis jetzt«, stimmte er zu. »Denn jetzt sind die Franken gekommen - vom Westen, über das Meer, und sie haben Städte in Blut ertränkt und die einheimischen Stämme unterjocht - und der kurdische Prinz zieht eine Armee gegen sie zusammen.«

»Die Dschinn halten die Franken für die zurückgekehrten bösen Geister«, folgerte Khalidah langsam, »und Saladin für den Messias.« Sie musterte Tor Gul Khan eindringlich. »Aber du bist anderer Meinung.«

»In jeder Generation gibt es eine Personifizierung des Bösen und einen Gegner, der es bekämpft.« Tor Gul Khan schien seine Worte mit äußerster Sorgfalt zu wählen. »Manchmal bleibt es bei kleineren Kämpfen, deren Schurken und Helden bald wieder vergessen sind. Aber ab und an steckt ein Mann andere mit seinen leidenschaftlichen Überzeugungen an, so wie Moses, als er sein Volk aus der ägyptischen Sklaverei befreite oder Jesus, der sich gegen die Mächtigen von Rom stellte. Als Mann, der sich dem Kampf gegen das Böse verschrieben hat, ehre ich die Ideale solcher Menschen und die Opfer, die andere dafür bringen. Aber als Stammesführer muss ich immer und zuerst zum Wohle meines Volkes handeln, und mein Volk ist gerade jetzt so verwundbar wie nie zuvor. Die Dschinn wissen, dass ich alt werde und keinen Erben habe, der einst meinen Platz einnehmen kann, und sie wissen auch, warum.«

Jetzt endlich fügten sich die Teile des Puzzles zu einem Gesamtbild zusammen. »Brekhna glaubte daran«, gab Khalidah bedächtig zurück. »Meine Mutter verließ Qaf, um gegen die Franken zu kämpfen, weil sie an den Mythos von dem zurückgekehrten Mobarak Khan glaubte.«

Tor Gul Khan erstarrte, und sie begriff, dass sie seinen wundesten Punkt getroffen hatte. Aber als er antwortete, klang seine Stimme nicht ärgerlich, sondern nur müde und unendlich traurig. »Sie ist ihm  begegnet, musst du wissen - sie hat Saladin getroffen. Vor langer Zeit, als er noch kein Sultan war, sondern wenig mehr als der Lakai seines Bruders Shirkuh. Sie kämpften gemeinsam gegen ein paar kleinere aufständische Stämme, und sie fanden Gefallen aneinander, so unwahrscheinlich das auch klingt. Er infizierte sie mit seinen Träumen von einer vollständigen Vernichtung der Franken - und mit der Furcht vor dem, was geschehen könnte, wenn ihm dies nicht gelingen würde. Er bat sie, ihm ihre Dschinn-Krieger zur Verfügung zu stellen, wenn er ihrer bedürfen würde. Brekhna kam nach Qaf zurück und flehte mich an, sie ihre Anhänger gen Westen führen zu lassen.«

»Und du hast dich geweigert«, vermutete Khalidah.

»Was hätte ich denn sonst tun sollen?« Tiefe Verzweiflung schwang in Tor Gul Khans Stimme mit. »Du bist jung, Khalidah, so wie es Brekhna war, als sie die Franken zum ersten Mal sah. Ich weiß, dass sie dir als Verkörperung des Bösen erscheinen müssen, und sie haben in der Tat großes Leid über unser Land gebracht. Aber sind sie wirklich eine Armee böser Geister, die unseren Kontinent bedrohen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe das Böse in vieler Form bekämpft, und ich sage dir, dass die Franken zwar grausam vorgehen, aber auch nicht grausamer als andere von Machtgier beherrschte Menschen. Und was noch wichtiger ist - sie sind nicht stark genug, um sich immer weiter im Osten auszubreiten, und sie haben auch gar nicht die Absicht, dies zu tun, denke ich.«

»Aber sie könnten ihre Meinung ändern«, gab Khalidah zu bedenken. »Wenn sie glauben, ihr Gott würde es von ihnen verlangen, würden sie ebenso erbarmungslos von Al-Quds aus nach Qaf marschieren, wie sie vor hundert Jahren von ihrer Heimat nach Al-Quds marschiert sind.«

»So hat auch Brekhna argumentiert«, erwiderte ihr Großvater. »Und ich fürchte, dadurch hat sie unseren Untergang besiegelt.«

»Wie das?«

»Weil zwar einige Dschinn Brekhna dafür verurteilen, dass sie uns verlassen hat, aber weit mehr sie bis heute verehren.«

»Weswegen?«, fragte Khalidah bitter. »Weil sie fortgelaufen ist und einen Außenseiter geheiratet hat? Und dann ihr einziges Kind im Stich gelassen hat?«

»Sie sehen die Dinge nicht so wie du und ich«, versetzte Tor Gul Khan ruhig. Khalidah las in seinen Augen den Wunsch, Trost zu spenden und Trost zu empfangen, wusste aber nicht, wie sie damit umgehen sollte. »Alle Legenden gleichen sich in gewisser Hinsicht - sie sind auf einigen wenigen Tatsachen und viel Wunschdenken und Hoffnungen aufgebaut. Die Dschinn - diejenigen von ihnen, die Mobarak Khan für ein übernatürliches Wesen halten - sind fest davon überzeugt, dass er Brekhna zu sich gerufen hat und sie diesem Ruf gefolgt ist.«

»Dann werde ich ihnen sagen, dass das nicht zutrifft … dass sie einen ganz gewöhnlichen Mann geheiratet und ein ganz gewöhnliches Leben geführt hat.«

»Das wird nichts an ihrer Meinung ändern, genauso wenig wie das Verschwinden von Mobarak Khans Leichnam etwas an der Meinung derer geändert hat, die ihn für unsterblich halten wollten. Eher wird es sie in ihren Ansichten und dem Entschluss bestärken, in Brekhnas Fußstapfen treten zu wollen.«

»Was ja schön und gut ist, abgesehen davon, dass niemand weiß, wo sie ist … es sei denn, du weißt es.«

Tor Gul Khan maß sie mit einem schwer zu deutenden Blick.

»Und? Weißt du es?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe eine Vermutung, die aber nur auf der Intuition eines Vaters beruht und uns bei der Lösung unseres momentanen Problems nicht hilft.«

»Aber …«

»Khalidah«, sagte er so scharf, dass sie überrascht verstummte. Dann fuhr er etwas weicher fort: »Bitte - wenn ich Recht habe, ist  deine Mutter für uns unerreichbar und kann uns ganz sicher nicht helfen. Wir haben mit genug Schwierigkeiten zu kämpfen, wir müssen uns nicht noch weitere aufladen.«

Khalidah wäre gerne weiter in ihn gedrungen, doch das kurze Aufflammen von Zorn verriet ihr, dass sie nicht mehr aus ihm herausbekommen würde. Seufzend fragte sie: »Also gut - wo komme ich ins Spiel?«

»Du bist die Antwort auf die Gebete all derer, die an Pamirs Prophezeiung glauben. Als Brekhnas Tochter bist du dazu prädestiniert, sie zu ihrem Messias Saladin zu führen, unter dessen Befehl sie die Franken auslöschen wollen. Ich fürchte nur, es wird ihr Ende sein, wenn sie sich ihm anschließen, denn auch ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten werden sie in dem Kampf, den Saladin kämpft, nicht retten.«

»Warum in Allahs Namen hast du dann Sulayman ausgeschickt, um mich hierherzubringen?«

Tor Gul Khan gab keine Antwort, sondern sah sie nur an. Seine Augen waren nicht mehr die eines stolzen Stammesführers, sondern eines hilflosen alten Mannes. Khalidah las eine Antwort darin, die sie zwischen Mitgefühl und Zorn schwanken ließ.

»Du hast gehofft, ich würde sie davon überzeugen, dass Saladin nicht so ist, wie sie glauben. Du wolltest mich dazu benutzen, sie dazu zu bewegen, hierzubleiben.«

»Ich würde dich nie benutzen oder dich zu Lügen verleiten«, widersprach er mit Nachdruck. »Wenn du meinst, der Platz der Dschinn wäre an Saladins Seite, werde ich dich nicht davon abhalten, diese Meinung öffentlich zu äußern.«

»Ich pflege anderen Menschen nicht vorzuschreiben, was sie zu tun haben.«

Tor Gul Khan sah sie nachdenklich an. »Wie beurteilst du denn Saladin und seinen Dschihad?«

»Ich glaube an Saladin und an das, wofür er kämpft.«

»Und du hast die Absicht, ihm dein Schwert zur Verfügung zu stellen?«

»Wenn es Allahs Wille ist, ja. Es ist allerdings allgemein bekannt, dass Saladin noch nie Frauen in seine Armee aufgenommen hat. Und selbst wenn ich beschließe, zu ihm zu reiten, heißt das noch lange nicht, dass deine Dschinn mir folgen.«

»Ein guter Anführer inspiriert andere durch seine - oder ihre - Taten.«

»Ich bin aber nicht die Anführerin der Dschinn und werde es auch nie sein.«

»Das hast nicht du zu entscheiden, sondern sie«, erwiderte Tor Gul Khan mit aufreizender Ruhe. »Deswegen musst du sicher sein, dass du den richtigen Weg eingeschlagen hast, bevor du handelst.«

»Und wie soll ich das herausfinden?«, fauchte sie.

»Lebe ein paar Wochen mit uns, und lerne die Menschen zu verstehen, die dir vielleicht in den Kampf folgen werden. Entscheide, ob der Dschihad wirklich die Antwort ist, die du suchst.«

Khalidah dachte über diesen Vorschlag nach. Sie verspürte wenig Lust, Tor Gul Khan diesen Gefallen zu tun, aber sie musste an die Freundschaft denken, die Abi Gul ihr vom ersten Moment an entgegengebracht hatte, und an die herzliche Art, mit der sie von den Dschinn aufgenommen worden war. Endlich seufzte sie resigniert. »Drei Wochen. Und nicht einen Tag länger.«

 

Wuestentochter
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