2

Als Khalidah erwachte, blieb sie eine Weile still liegen, ohne die Augen aufzuschlagen, und betete, dass sie nicht träumte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal nicht völlig durchgefroren und hungrig aufgewacht war. Doch die stille Wärme verflog nicht, sondern schien sich im Gegenteil noch zu verstärken, bis sie endlich die Augen öffnete und in das ungefähr eine Armeslänge von ihr entfernte Gesicht eines Mädchens blickte.

Khalidah fuhr hoch und schlang die Decke um sich. Das Bett, auf dem sie lag, bestand lediglich aus ein paar übereinandergeschichteten Steppdecken auf dem Boden, ähnlich wie ihr Bett im maharama. Sie spähte an dem neben ihr knienden Mädchen vorbei zu einer Reihe ähnlicher Betten hinüber, die sich an den Wänden des Raumes entlangzogen. Unterhalb der Decke waren kleine Fenster eingelassen, und in einer Feuerstelle glühten Kohlen. Möbelstücke entdeckte sie keine.

»Wo bin ich?«, fragte sie endlich.

Das Mädchen lächelte und erwiderte etwas Unverständliches. Als Khalidah den Kopf schüttelte, verfiel es in ein stark akzentbehaftetes Arabisch. »Im Tal von Qaf.« Dabei bedachte sie Khalidah mit einem Blick, der deutlich besagte, dass diese Antwort auf der Hand lag.

»Wem gehört dieses Haus?«, bohrte Khalidah weiter. »Und in wessen Bett habe ich geschlafen?« Sie deutete auf die dicken Filzmatratzen und die Decken.

»Dies ist einer der Gemeinschaftsschlafräume der Mädchen«, klang es zurück. »Und das Bett gehört dir. Es wurde schon vor Monaten für dich hergerichtet und wartet seitdem auf dich, Bibi Khalidah - seit Tor Gul Khan uns gesagt hast, dass du kommen würdest.«

»Bibi?«

»›Lady‹. Schließlich bist du die Enkelin des Khans.«

Khalidah brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten, dann sagte sie: »Danke, äh …«

»Abi Gul«, stellte das Mädchen sich vor.

»Abi Gul«, wiederholte Khalidah. »Das ist ein schöner Name.«

Das Mädchen senkte verlegen den Kopf. Sie war ungefähr in Khalidahs Alter, war vielleicht ein oder zwei Jahre jünger, zierlich gebaut und hatte ein rundes Gesicht mit ausgeprägtem Kinn und große, grüne, goldgefleckte Augen. Ihre Haut war heller als die Khalidahs, ihr schwarzes Haar trug sie zu vier Zöpfen geflochten, wovon einer sich wie eine Krone um ihre Stirn wand und die anderen lose bis zur Taille hinunterfielen. Ihre Kleider ähnelten denen, die Brekhna in Khalidahs Träumen getragen hatte: ein langes cremefarbenes Wollgewand, das an Ärmeln und Ausschnitt mit aufwändiger Stickerei verziert war, und weite, von einer roten Schärpe gehaltene Hosen. In ihrer Nase steckte ein kleiner Goldstift, und verschlungene, rankenähnliche Muster zierten ihre Stirn und ihre Wangen.

»Wie lange bin ich schon hier?«, erkundigte sich Khalidah, nachdem sie all diese Einzelheiten in sich aufgenommen hatte.

»Zwei Nächte und einen Tag.«

»Und ich habe die ganze Zeit geschlafen?«, entfuhr es Khalidah entsetzt.

»Man hat dir einen Schlaftrunk gegeben«, erklärte Abi Gul. »Gleich in der ersten Nacht nach deinem Traum. Tor Gul Khan hielt es für das Beste. Du warst am Ende deiner Kräfte.«

Khalidah erschauerte, als sie an das blutige Schlachtfeld, den einzelnen, um sein Leben kämpfenden fränkischen Ritter und den hübschen muslimischen Jungen zurückdachte, der ihm den tödlichen Streich versetzt hatte. »Wo ist Sulayman?«, fragte sie dann.

Abi Guls Augen funkelten; sie schien mühsam ein Lächeln zu unterdrücken. »Mach dir keine Sorgen - dein Mann ist in Sicherheit.«

»Mein Mann?«

»Wusstest du«, fuhr Abi Gul fort, dabei beugte sie sich verschwörerisch vor, obwohl niemand sonst in der Nähe war, »dass Zhalai gestern Abend ihre liebe Not mit ihm hatte?«

»Zhalai?«

»Unsere Hausmutter. Du hast die erste Nacht in Tor Gul Khans Haus verbracht, dann hat man dich hierhergebracht. Natürlich ist nur Frauen der Zutritt zu diesem Raum gestattet, aber Sulayman platzte trotzdem hier herein und sagte, er würde dir nicht von der Seite weichen, komme, was wolle.« Sie lachte glockenhell auf. »Du hättest ihn sehen sollen! Er und Zhalai standen sich in der Mitte des Raumes gegenüber wie Kampfhähne, und alle Mädchen quiekten und kreischten, weil ein Mann in unserem Schlafsaal war.« Khalidah dankte insgeheim ihrem Schöpfer dafür, dass sie die ganze Szene verschlafen hatte. »Am Ende warf Zhalai ihn fast gewaltsam hinaus, und seitdem sitzt er draußen vor der Tür, hat nicht einen Moment geschlafen … wirklich, ich habe noch nie einen Mann gesehen, der wegen  einer Frau einen solchen Aufstand macht - warte! Du kannst so nicht hinausgehen, du bist nicht angemessen angezogen!«

In der Tat stellte Khalidah, als sie aufstand, fest, dass sie außer einem Leinenhemd nichts am Leibe trug, doch in Bezug auf Sulayman hatte sie den größten Teil ihrer Schamgefühle ohnehin schon abgelegt. Sie stieß die Tür auf und sah ihn vor dem Hintergrund mächtiger Berge im Gras sitzen. Als er sie sah, sprang er auf. Sein Gesicht wirkte eingefallen, und unter seinen blutunterlaufenen Augen lagen dunkle Schatten.

»Khalidah!«, rief er, als sie sich in seine Arme warf, und dann klammerten sie sich aneinander, als wären sie Jahre und nicht nur wenige Tage getrennt gewesen. Nach einer Weile hielt er sie auf Armeslänge von sich ab. »Geht es dir gut? Nach deinem Alptraum hat Tor Gul Khan dir einen Trank eingeflößt; er meinte, er würde dir helfen, ruhig durchzuschlafen - aber doch nicht einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang! Wenn ich nicht so großes Vertrauen zu ihm hätte …«

»Also wirklich!«, schimpfte Abi Gul, die Khalidah nachgelaufen war. Sie stemmte die Hände in die Hüften wie eine aufgebrachte Kinderfrau, die sich anschickt, ihre ungezogenen Schützlinge auszuschelten. »Zhalai würde mir den Kopf abreißen, wenn sie wüsste, dass ich dich halb nackt ins Freie gelassen habe. Bitte komm ins Haus, Bibi Khalidah, und zieh dir etwas an, bevor dich jemand sieht.«

Khalidah sah Sulayman fragend an. »Keine Angst«, versicherte er ihr. »Ich rühre mich nicht von der Stelle.«

Abi Gul schüttelte den Kopf. »So etwas habe ich noch nicht erlebt«, murmelte sie, doch in ihre Augen war ein wehmütiger Ausdruck getreten. Dann nahm sie Khalidah am Arm und führte sie in den Schlafsaal zurück.

 Eine halbe Stunde später war Khalidah wie Abi Gul in ein weiches Gewand und Hosen gekleidet, hatte sich eine blaue Schärpe um die  Taille geschlungen und ihre alten, zerfetzten Sandalen durch neue ersetzt. Abi Gul kämmte ihr schmutziges, wirres Haar und beklagte bitterlich, dass ihr nicht genug Zeit blieb, um es zu waschen, dann flocht sie es und frisierte es so, wie sie ihr eigenes trug.

»So«, verkündete sie, als sie fertig war, und hielt Khalidah ein kleines Stück poliertes Metall hin. Als Khalidah ihr Spiegelbild betrachtete, erkannte sie sich kaum wieder. Ihre Wangen waren eingefallen, sodass ihr Gesicht länglicher wirkte, aber die Veränderung ging noch tiefer. Sie konnte es nicht beschreiben; sie erkannte nur erstmals Züge von Brekhna in ihren eigenen. Aber da Abi Gul auf ihr Urteil wartete, nickte sie anerkennend.

Abi Gul lächelte. »Dann lass uns gehen.« Sie führte Khaldiah wieder nach draußen, wo Sulayman schon ungeduldig auf sie wartete.

Er blinzelte überrascht, als er ihre neue Frisur bemerkte, dann verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. »Steht dir gut«, lobte er.

»Tor Gul Khan sagt, du kannst dich tagsüber in aller Ruhe hier umsehen«, teilte Abi Gul ihr mit. »Bei Sonnenuntergang beginnt dann das psarlay-Fest.«

»Psarlay?«, wiederholte Khalidah verwirrt.

»Wie heißt das in eurer Sprache doch gleich … ach ja, ›Frühling‹. Wir feiern zu Ehren einer jeden Jahreszeit ein Fest, aber psarlay ist das bei weitem fröhlichste. Sulayman kann dir davon erzählen.«

Khalidah erstarrte angesichts des vertraulichen Tones und warf Sulayman einen argwöhnischen Blick zu.

»Mein letzter Besuch hier fiel zufällig mit dem psarlay-Fest zusammen«, erklärte er.

Abi Gul nickte. »Jetzt muss ich euch leider allein lassen. Wenn du irgendetwas brauchst, Khalidah, kannst du dich an jeden wenden, der dir begegnet - sie werden sich alle freuen, dir behilflich zu sein.«

Khalidah fragte sich, ob dem tatsächlich so war oder ob Abi Gul nur höflich sein wollte - die Leute hier standen Brekhnas Tochter vermutlich mit gemischten Gefühlen gegenüber. Aber sie dankte dem Mädchen, woraufhin Abi Gul lächelte, ihr noch einmal zunickte und dann zum Schlafsaal zurücktrottete.

»Du bist müde, Sulayman«, stellte Khalidah fest, sowie sie außer Hörweite war. »Und ich finde mich auch allein zurecht.«

Er berührte lächelnd ihre Hand. »Ich möchte dich aber begleiten.«

»Gut.«

»Aber wenn du lieber allein sein möchtest …«

»Ich habe nur versucht, Rücksicht zu nehmen. Hast du immer noch nicht begriffen, dass ich nicht anderen Leuten zuliebe lüge?«

Er lachte. »Anscheinend nicht, obwohl du mir genug Gelegenheiten dazu gegeben hast. Wo möchtest du denn jetzt zuerst hin?«

»Ich möchte nach Zahirah sehen.«

Sulayman seufzte. »Warum habe ich überhaupt gefragt?«

Als sie zum Fluss hinunterschlenderten, nahm Khalidah ihre Umgebung zum ersten Mal bewusst wahr. Alles sah genauso aus wie in ihrem Traum: Schimmernde schneebedeckte Gipfel ragten in der Ferne auf, die näher gelegenen Hügel, die das Tal umschlossen, waren mit Bäumen und Gras bewachsen. Die Talsohle war mit frisch gepflügten Feldern überzogen, und auch an einigen Hügelhängen hatte man terrassenförmige Getreidefelder angelegt, auf denen hier und da Menschen arbeiteten. Auf der anderen Seite des Flusses standen ordentliche Reihen von Obst- und Nussbäumen, auf ihrer Seite graste eine kleine Pferdeherde zwischen Ziegen und dickschwänzigen Schafen.

Sowie sie sie sah, löste sich Zahirah aus der Gruppe und galoppierte mit so freudigen Sprüngen auf ihre Herrin zu, als hätte sie bereits vergessen, welche Entfernungen sie hatte überwinden müssen, um in dieses Pferdeparadies zu gelangen. Khalidah küsste ihre grasfleckige Nase und fuhr mit einer Hand über ihre Flanke zu ihrem verbundenen Bein hinunter. Irgendjemand hatte die Stute ausgezeichnet versorgt: Ihr Fell glänzte wie eine Kupfermünze, der Verband war frisch und sauber, das Bein weder heiß noch angeschwollen.

»Mach dir um sie keine Sorgen«, meinte Sulayman, während er Asifa und Ghassans graues Pony streichelte, das seinen Freundinnen hinterhergetrottet war. »Die Dschinn lieben ihre Pferde mindestens ebenso sehr wie die Hassani die ihren.«

»Stehen sie auf dieser Weide, seit wir hier sind?«, erkundigte sich Khalidah erschrocken, ohne auf seine letzte Bemerkung einzugehen. »Sie werden Hufrehe bekommen … oder Koliken, wenn sie weiter so viel fressen.«

»Keine Sorge«, wiederholte Sulayman. »Sie lassen die Pferde nur morgens ein paar Stunden hier weiden und bringen sie dann höher in die Hügel hinauf, wo das Gras nicht so üppig wächst.«

Zufrieden, dass wenigstens ihr Pferd gut versorgt wurde, begann Khalidah die anderen zu inspizieren. Sie waren wie die Pferde ihres Stammes größtenteils einfarbig und wiesen nur am Kopf und an den Beinen gelegentlich weiße Flecken auf. Ihr Fell befand sich in gutem Zustand, war aber bei vielen Tieren mit Kampfnarben übersät. Sie hatten breite Brüste, kräftige Beine, ausgeprägte Widerriste und schlanke Körper mit eckigen, muskulösen Rücken, die es ermöglichten, sie auch ohne Sattel zu reiten. Ihre Köpfe und Hälse waren schwerer als die der Beduinenpferde, aber sie hatten ähnlich große, sanfte Augen und scheinbar auch ein ähnlich freundliches Naturell, denn als Khalidah zwischen ihnen umherging, stupsten sie sie an, schnaubten leise und ließen sich widerstandslos die Beine abtasten. Sie waren nicht beschlagen; ihre Hufe sogar noch härter als die der Wüstenpferde, was Khalidah angesichts des weichen, grasigen Talbodens nicht wenig wunderte.

»Die Dschinn züchten sie extra so«, erklärte Sulayman, als sie ihn darauf ansprach. »Sie kreuzen sie mit den hiesigen Bergponys, und  die haben die härtesten Hufe, die ich je gesehen habe - denn sowie sie das Tal verlassen, brauchen sie sie.«

»Dahinter steckt mehr als nur das Kreuzen mit Bergponys.« Khalidah bewunderte eine ausnehmend schöne honigfarbene Stute. Sie blies dem Tier sacht in die Nüstern, woraufhin die Stute die Ohren aufstellte, neugierig schnupperte und dann anmutig davongaloppierte. Die anderen Pferde folgten ihr fröhlich wiehernd.

»Ich habe dir ja einmal gesagt, dass viele der Bergvölker hier glauben, von Alexander dem Großen abzustammen«, sagte Sulayman. »Nun, die Dschinn rümpfen angesichts der Vorstellung, einen blutrünstigen Makedonen zum Vorfahr zu haben, nur die Nase, aber sie bestehen darauf, dass ihre Pferde Abkömmlinge seines berühmten Schlachtrosses Bukephalos sind.«

»Vielleicht haben sie damit ja Recht«, erwiderte Khalidah. »Pferde wie diese habe ich noch nie gesehen.«

Sie setzten ihren Rundgang durch das Tal fort, wobei Khalidah den Eindruck gewann, dass die Dschinn ein glückliches Leben als Bauern und Hirten führten - was ihr in zunehmendem Maße missfiel. Nachdem eine Gruppe von Frauen ihnen ihre Webarbeiten - feine Seide, die unerklärlicherweise zu Unterwäsche verarbeitet wurde, wie sie sagten - gezeigt und sie sich von ihnen verabschiedet hatten, bemerkte Khalidah: »Diese Leute kommen mir nicht gerade wie Furcht erregende ghuzat vor.«

»Das liegt wohl daran, dass sie das die meiste Zeit auch nicht sind«, entgegnete er. »Aber gib einer von ihnen einen Bogen oder einen Speer«, er nickte zu den angeregt miteinander schwatzenden Frauen hinüber, »und lass sie auf einen Feind treffen … sie würde ihn innerhalb weniger Sekunden niederstrecken.« Als Khalidah die Seidenweberinnen skeptisch musterte, fügte er hinzu: »Komm, ich will dir etwas zeigen.«

Er führte sie durch das Tal, fort von Klause und Tempel, vorbei  an den Herden, den frisch beackerten Feldern und den sich an den Hängen der Hügel entlangziehenden Holz- und Steingebäuden und endlich einen grasbewachsenen Erdwall empor. Von dort aus blickte Khalidah in eine vielleicht einen farsakh lange und ebenso breite natürliche Arena hinunter, in der etwa vierzig oder fünfzig Reiter Kavalleriemanöver einübten. Das nahm sie zumindest an, da die Reiter bewaffnet waren, aber gesehen hatte sie derartige Praktiken noch nie.

Die Gruppe war in fünf Schwadronen unterteilt. Sie führten einen Angriff gegen eine Armee aus Strohpuppen, der damit begann, dass sich die Schwadronen auf dem Feld verteilten. Zwei bildeten die Vorderfront, die anderen drei hielten sich dahinter. Auf irgendein für Khalidah nicht zu erkennendes Zeichen hin trieben die drei hinteren Reihen ihre Pferde an, die aus dem Stand heraus in einen fliegenden Galopp fielen, dabei die Beine aber so koordinierten, dass sie statt vier nur zwei Hufschläge vollführten. Die Gleichmäßigkeit dieser Gangart erlaubte es den Reitern, ihre Bogen mit äußerster Präzision zu handhaben. Sie hoben sie, als sie durch die lockeren Reihen der beiden Schwadronen vor ihnen brachen und einen Pfeilhagel auf die Strohpuppen niederprasseln ließen. Dabei verfuhren sie so, dass immer ein Reiter schoss, während sein Nachbar einen neuen Pfeil an die Sehne legte, sodass der Beschuss ohne Unterbrechung erfolgte. Einige Meter vor der Stroharmee teilten sie sich, schwenkten ab und ritten seitlich zur Feindlinie, ohne den Pfeilregen auf die Feinde einzustellen. Als sie die Ränder der Reihe erreichten, wendeten sie ihre Pferde erneut, um den Gegner von hinten einzukreisen, während zugleich die beiden vordersten Reihen zum Angriff ansetzten, die Bogen gegen Schwerter tauschten, auf die Strohsoldaten einhieben und sich dann wieder formierten, um das Manöver zu wiederholen.

»Sie sind wirklich sehr gut«, lobte Khalidah. »Vor allem mit dem Bogen.«

Sulayman nickte. »Da liegt ihre größte Stärke. Sie benutzen zwei  Arten von Bogen und drei Arten von Pfeilen: leichte für große Entfernungen, schwere, um Rüstungen zu durchbohren und scherenköpfige, um … nun ja …«

Khalidah erschauerte, als sie sich ausmalte, was passieren würde, wenn ein solches Projektil tief in einen Schwertarm, ein nicht von Schienen geschütztes Bein oder einen bloßen Nacken eindrang. Und noch etwas fiel ihr auf: Auf dem Feld herrschte Stille. Ein Beduinenangriff wurde stets von Kriegsrufen, Gejohle und Lobpreisungen Allahs begleitet, doch abgesehen vom Trommeln der Hufe und dem Schwirren der Pfeile verursachten die Dschinn-Reiter keine Geräusche, und Khalidah hatte auch nicht gesehen, dass sie sich per sichtbaren Zeichen verständigten.

»Wie können sie nur mit einer solchen Sicherheit agieren, ohne dass Befehle fallen?«, fragte sie.

»Dank ständigem Training, strikter Disziplin, Vertrauen zueinander und das Wissen um die Fähigkeiten eines j eden ihrer Kameraden. Vielleicht lässt es sich mit dem isolierten Leben erklären, das sie führen, oder mit ihrem Gemeinschaftsgeist … was auch immer es ist, es macht sie unbesiegbar, weil sie denken und handeln wie ein Wesen.«

»Das ist ja alles schön und gut, wenn man gegen Strohpuppen kämpft oder vielleicht auch noch gegen eine gleiche Anzahl realer Gegner«, gab Khalidah zu bedenken. »Aber nicht, wenn sie dem Feind zahlenmäßig unterlegen sind.«

»Das stimmt, und deswegen haben sie für diesen Fall eine besondere Taktik ausgearbeitet.«

»Was für eine Taktik?«

»Ihre Angriffe sind schon brillant, ihre Rückzüge jedoch spektakulär. Sie setzen sie als Offensivmanöver ein - wenn der Feind in der Übermacht ist oder sie in die Enge getrieben hat, täuschen sie einen Rückzug vor und verleiten die Gegner dazu, sie zu verfolgen. Und hier kommen ihre Pferde ins Spiel, die nie müde werden. Sowie die  Feinde erschöpft und von jeglicher Hilfe abgeschnitten sind, kehren sie um und kreisen sie ein. Sie halten sich an die Kampfphilosophie des Fernen Ostens: Zieh dich zurück, wenn der Gegner stark ist, und schlag zu, wenn er Schwächen zeigt.«

»Saladins Armee verfährt auch nach diesem Muster, habe ich gehört«, versetzte Khalidah.

»Aber Saladins Armee verfügt weder über Dschinn-Pferde noch über die Fähigkeit, sich wort- und zeichenlos zu verständigen.«

Khalidah beobachtete, wie eine kleine Gestalt auf einem stahlgrauen Hengst eine Reihe von Pfeilen auf die Strohpuppen abfeuerte und dann so anmutig wie ein Vogel im Flug davonjagte. Sie musste an ihren Alptraum denken und fragte sich laut, wie wohl ein Templertrupp reagieren würde, wenn er es mit solchen Kriegern zu tun bekam.

»Vermutlich würde ihnen vor Schreck das Herz stehen bleiben«, entgegnete Sulayman.

Sie starrte ihn so verdutzt an, dass er lachen musste.

»Das sind keine Krieger, Khalidah. Sie befinden sich noch in der Ausbildung. Keiner ist älter als sechzehn, und es handelt sich ausschließlich um Frauen.«

Wie zur Bestätigung nahm die Reiterin auf dem grauen Hengst ihren Helm ab. Abi Gul grinste Khalidah und Sulayman an und winkte ihnen fröhlich zu.

 

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