20
Obwohl Sulayman langsam, aber stetig wieder zu Kräften kam, bestand Ghassan darauf, sie in die Berge zu begleiten. »Seine Gesundheit ist noch immer schwer angeschlagen, auch wenn er uns das Gegenteil weismachen will«, informierte er Khalidah in einem Ton, der verriet, dass er ihr vieles verschwieg. »Ich möchte gerne noch ein paar Tage ein Auge auf ihn haben. Außerdem ist das Zagros-Gebirge das schroffste und unwirtlichste in ganz Persien. Ich kenne mich dort gut aus, ich werde euch führen.«
Khalidah überließ ihn den Kräutern, die er gerade sortierte, und ging in den Stall, um nach den Pferden zu sehen. Dort fand sie Sulayman vor; er kauerte zusammengesunken an der Wand und hatte den Kopf auf die Knie gelegt.
»Dir geht es also schon viel besser?« Sie blickte tadelnd auf ihn hinunter.
Er hob den Kopf und sah sie aus trüben Augen an. »Fang gar nicht erst an«, stieß er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Khalidah sagte nichts mehr, sondern hielt ihm nur eine Hand hin, um ihm beim Aufstehen behilflich zu sein.
Asifa blickte von ihrem Futtertrog auf und wieherte grüßend, als sie ihren Herrn sah. Sie stand zwischen Zahirah und einem Wasserbüffel, der sie giftig anstierte, als sie ihrer angestauten Energie in einem freudigen Tänzeln Luft machte. Doch trotz zweiwöchiger Ruhe und reichlich Futter hatten sich die Pferde von den hinter ihnen liegenden Strapazen noch nicht vollständig erholt. Als Khalidah Zahirah sattelte, bemühte sie sich, darüber hinwegzusehen, wie stark sich die Rippen unter dem Fell abzeichneten - und wie oft Sulayman beim Aufzäumen von Asifa Pausen einlegen musste.
Nachdem sie die Satteltaschen festgeschnallt hatte, blickte Khalidah auf und sah Ghassan auf einem großen kastanienbraunen Wallach durch die Marschen auf sie zukommen. Er führte ein graues Pony mit einem Packsattel auf dem Rücken am Zügel. Der Wallach war im Stockmaß noch eine gute Handbreit höher als Zahirah, hatte eine lange, schlanke Nase und einen sehnigen Körper, der ihm Ähnlichkeit mit einem Jagdhund verlieh.
»Ein Akhal-Teke«, stellte Khalidah bewundernd fest. »Wem gehört er denn?«
»Mir«, erwiderte Ghassan mit einem stolzen Lächeln. »Er steht in Radwans Stall, meiner ist zu klein für ihn. Ein turkmenischer Edelmann schenkte ihn mir zum Dank dafür, dass ich ihn von einer … nun ja, einer peinlichen Krankheit geheilt habe. Er hörte von mir und kam her, um dem Klatsch und Tratsch zu entgehen, der in Basra unweigerlich die Runde gemacht hätte. Und ich denke, ich habe mit Wasim ein gutes Geschäft gemacht. Wie er allerdings darüber denkt, weiß ich nicht.«
Er stieg ab und reichte Khalidah Wasims Zügel, dann lud er den Rest ihrer Ausrüstung auf das Packpony. Der große Wallach scharrte mit den Hufen, schlug mit dem Schweif und blickte immer wieder verspielt zu seinem Herrn hinüber. In seinen Augen schien ein Lächeln aufzublitzen, und da wusste Khalidah genau, was Wasim dachte.
Das Wetter war gut, als sie aufbrachen; nach tagelangem Regen so klar, dass sie den Fuß des Zagros am Horizont erkennen konnten. Ghassan kannte die besten Wege durch die Marschen, sodass das Wasser selten höher reichte als bis zu Zahirahs Knien. Trotzdem waren sie gezwungen, in einem gleichmäßigen Schritttempo zu reiten, wofür Sulayman dankbar zu sein schien. Als die Sonne höher stieg, wurden die Marschen seichter und die grasbewachsenen Landflächen größer, bis das Wasser feuchten Wiesen wich, die mit gut gepflegten Obstbaum- und Dattelpalmengärten durchsetzt waren. Gegen Mittag machten sie Rast, und Ghassan bereitete frische Medizin für Sulayman zu. Sulayman leerte die Schale gehorsam und knabberte dann an einem Stück Fladenbrot, während Ghassan und Khalidah eine gehaltvollere Mahlzeit zu sich nahmen und die Pferde sich an dem langen Gras gütlich taten.
»Und jetzt ruhst du dich eine Weile aus«, befahl Ghassan, nachdem der jüngere Mann sein Brot verzehrt hatte.
»Ich bin nicht müde«, protestierte der jüngere Mann.
»Oh doch«, beharrte der Heiler in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Du wirst all deine Kraft brauchen, um die Berge zu überqueren, und im Moment hast du nicht allzu viel davon. Also ruh dich aus.«
Seufzend entrollte Sulayman seine Decke, legte sich unter einen Baum und fiel augenblicklich in einen tiefen Schlaf. Als Khalidah ihn betrachtete, fragte sie sich, wie es ihm gelungen war, ihnen einzureden, dass er wieder vollständig genesen sei. Seine Wangen waren eingefallen, seine Haut glich brüchigem Pergament, und die Finger, die neben seinem Gesicht auf der Decke ruhten, schienen nur noch aus Knochen zu bestehen, so viel Gewicht hatte er während seiner Krankheit verloren.
»Er ist noch lange nicht gesund«, stellte sie fest.
»Kluges Kind«, bemerkte Ghassan trocken.
Khalidah funkelte ihn finster an, doch sein verwittertes Gesicht blieb unbewegt. »Was sollen wir denn jetzt tun?«, fragte sie.
»Wir reiten weiter. Zum Zagros.«
»Natürlich - für einen Invaliden ist das ja ein Spazierritt. Oder verfolgst du irgendeinen Plan, von dem ich nichts weiß?«
»Falls dem so wäre«, gab er mit einem Lächeln zurück, das ihren Zorn noch schürte, »sähe ich keinen Grund, warum ich dich darin einweihen sollte.«
Khalidah musterte ihn forschend. »Was missfällt dir eigentlich so an mir?«
Ghassan schüttelte den Kopf. »Oh, diese Arroganz der Jugend! Mein Schweigen hat mit dir überhaupt nichts zu tun. Aber wenn ich mir so ein zweitägiges Schmollen einer jungen Frau ersparen kann, werde ich dir sagen, was du wissen willst. Ich habe von jemandem in den Bergen gehört, der ihm vielleicht helfen kann … und dir auch.«
»Mir?«, wiederholte Khalidah verdutzt. »Ich wüsste nicht, dass ich Hilfe bräuchte.«
»So? Dann sag mir doch, was du in der Wildnis von Khorasan zu finden hoffst.«
Als Khalidah daraufhin nur die Lippen zu einem schmalen, trotzigen Strich zusammenpresste, zuckte ein Lächeln um Ghassans Mundwinkel. »Wie du willst. Dann bewahre du deine Geheimnisse, und ich bewahre die meinen.« Mit diesen Worten lehnte er sich gegen Wasims Sattel, zog sich das Ende seines Turbans über das Gesicht und gab einen vorgetäuschten Schnarchlaut von sich. Seufzend streckte sich Khalidah unter einer Palme aus und schloss gleichfalls die Augen.
Es war bereits später Nachmittag, als sie weiterritten. Nach seinem Mittagsschlaf schien Ghassan ihre kleine Auseinandersetzung vergessen zu haben. »Sag mir, Khalidah … beabsichtigen die Stämme, sich dem Sultan anzuschließen, wenn er nach Al-Quds marschiert?«
»Ich kann nur für mein eigenes Volk sprechen«, entgegnete Khalidah. »Und selbst das ist keine konkrete Antwort, denn die Hassani sind in zwei Lager gespalten. Die eine Hälfte des Stammes folgt meinem Vater, die andere meinem Onkel. Mein Vater steht auf der Seite des Sultans, aber mein Onkel …« Sie warf Sulayman einen Hilfe suchenden Blick zu.
Sulaymans Lippen kräuselten sich spöttisch. »Abd al-Hadis Wünsche im Leben gehen über gutes Essen, Dutzende von Sklavenmädchen in seinem Bett und einen friedlichen Tod im Schatten einer Palme nicht hinaus … diesen Eindruck erweckt er zumindest. Ob eine Absicht dahinterliegt, ist schwer zu sagen.«
»Gedenkst du denn, am Dschihad teilzunehmen?«, erkundigte sich Ghassan.
»Wenn wir nicht in den Bergen umkommen, vielleicht«, wich Sulayman aus. »Und wenn wir rechtzeitig von Qaf zurückkehren.«
Ghassans kluge Augen ruhten nachdenklich auf seinem Gesicht. »Irgendwie glaube ich nicht, dass das ein Problem darstellen wird.«
»Wie meinst du das?«, wollte Khalidah wissen.
»Kommt diese zeitliche Übereinstimmung eigentlich keinem von euch beiden seltsam vor?« Als Khalidah und Sulayman verwirrt die Stirn runzelten, setzte er zu einer Erklärung an. »Die Erbin des größten Kriegerstammes des Orients wird gerade zu der Zeit zu dem momentanen Stammesführer gerufen, wo der Islam vor einem der größten Kriege seiner Geschichte steht. Ich glaube, es ist euch bestimmt, einen gemeinsamen Kampf zu führen.«
»Deine Theorie hat einen Haken«, gab Sulayman zu bedenken. »Die Dschinn sind keine Muslime.«
»Das schließt einen Kampf für eine gemeinsame Sache nicht aus.«
»Vielleicht nicht. Aber Tor Gul Khan hält nicht viel von Saladin.«
»Kennt er ihn denn?«, erkundigte sich Ghassan interessiert.
»Nein, aber er hat einiges über ihn gehört. Ich glaube, er nannte ihn immer ›diesen eingebildeten, sich selbst überschätzenden Sohn eines Ziegenhirten‹.«
Ghassan kicherte. »Das überrascht mich nicht - Herrscher haben selten eine hohe Meinung voneinander. Aber trotz allem bin ich davon überzeugt, dass es den Dschinn bestimmt ist, an Saladins Dschihad teilzunehmen.« Er hielt inne, dachte kurz nach und wandte sich dann an Khalidah. »Was wirst du tun, Kind, nachdem du die deinen besucht hast und Sulayman in den Kampf gezogen ist?«
»Ich werde mit ihm reiten«, erwiderte sie.
»Um Sulaymans oder um des Sultans willen?«
Khalidah sah ihn freimütig an. »Warum nicht um meinetwillen?«
»Ich dachte, dein Stamm wäre noch unschlüssig, was den Krieg gegen die Franken betrifft.«
»Ich habe meinen Stamm verlassen. Aber ich bin immer noch eine Muslimin, und meiner Meinung nach sollte jeder Gläubige diejenigen bekämpfen, die uns unsere heilige Stadt genommen haben. Deswegen werde ich mein Schwert in den Dienst eines jeden militärischen Befehlshabers stellen, der Verwendung dafür hat.«
»Du bist so sicher, das Richtige zu tun«, meinte Ghassan bedächtig. »Aber du darfst nicht vergessen, dass auch die Franken von der Rechtmäßigkeit ihres Kampfes überzeugt sind, sonst wären sie nicht mehr hier. Sie halten sich ebenso wie unsere Mudschahedin für Gotteskrieger, und dafür verdienen sie unseren Respekt.«
»Die Franken haben muslimische Kinder abgeschlachtet und gegessen, als sie Jerusalem zum ersten Mal eingenommen haben. Solche Gräueltaten nötigen mir ganz bestimmt keinen Respekt ab.«
»Glaubst du, die Anhänger des Islams hätten keine derartigen Grausamkeiten begangen?«, gab Ghassan zurück.
»Du bist also der Ansicht, wir sollten den Franken unser Land kampflos überlassen?«
»Ganz und gar nicht. Von Komplizenschaft war keine Rede. Ich sagte lediglich, sie verdienen Respekt - den Respekt, der einem ebenbürtigen Gegner zukommt. Es muss doch einen Weg geben, zu einer Übereinkunft zu gelangen, sodass wir alle in Frieden miteinander leben können.« Ghassan schien sie jetzt nicht mehr direkt anzusprechen, sondern laut seinen Gedanken nachzuhängen. Nach einem Moment nahm er sich zusammen. »Ich sehe, dass ihr beide an meinen Worten zweifelt.« Sein Blick wanderte zwischen Khalidah und Sulayman hin und her. »Dann nehmt doch einmal Al-Quds als Beispiel. Ist unser Anspruch auf die Stadt berechtigter als der der Franken?« Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort: »Wisst ihr, wer die Stadt gegründet hat?«
»König David«, antwortete Khalidah ohne Zögern. »Tausend Jahre vor der Geburt des Propheten Jesu.«
»Du hattest gute Lehrer.« Ghassan lächelte. »Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Die Stadt Al-Quds war bereits zweitausend Jahre alt, als König David sie ›gründete‹. Er eroberte sie von den Jesubitern, die sie zweifellos einem anderen Volk entrissen hatten. Und danach fiel sie in die Hände der Assyrer, der Babylonier, Alexanders von Makedonien, Ptolemäus, der Seleukiden, der Makkabäer, der Römer, der Byzantiner und dann - erst dann - in die der Muslime. Wir sind nicht mehr als ein Kratzer auf der Fassade dieser großen Stadt; ein weder längerer noch tieferer Kratzer als die Franken, wenn man dieser Überlegung Allahs Gesetze zugrunde legt. Denn Allah hat nicht nur uns geschaffen, sondern auch sie.«
»Was sollen wir denn dann deiner Meinung nach gegen die Franken unternehmen?«, fragte Khalidah bissig.
»Erst einmal gründlich über sie nachdenken.« Ghassan ignorierte den finsteren Blick, den Khalidah und Sulayman wechselten. »Sie sind ein Teil von Allahs Plan, wie ich euch eben schon klarzumachen versucht habe. Vielleicht sind sie hier, um uns etwas über uns selbst zu lehren.«
»Was könnten wir schon von ihnen lernen?«, gab Sulayman zurück und kam so einer neuerlichen giftigen Antwort Khalidahs zuvor.
Ghassan zuckte die Achseln. »Ich bin Arzt, kein Philosoph. Aber mir scheint, wir sollten nicht denselben Fehler machen wie sie. Ihr Dschihad hat Hass gesät und Elend nach sich gezogen, und zwar nicht nur für ihre Feinde, sondern auch für sie selbst. In ihrem Ringen um Macht haben sie die Worte ihres Christus vergessen. Wenn wir in Allahs Namen Krieg führen, sollte dies nicht mit dem Ziel geschehen, den Gegner blutig zu unterwerfen, sondern um Seine Lehren zu verbreiten. In Zeiten des Friedens, der Erleuchtung und der Erfüllung bleibt kein Platz für Gier und Neid.«
Sulayman schüttelte den Kopf. »Du sprichst wie der Sultan - ein Allah und seinem Volk ergebener Mann, an dessen Großzügigkeit und Barmherzigkeit wir uns alle ein Beispiel nehmen sollten. Ist es nicht besser, einem solchen Mann in die Schlacht zu folgen als vor Invasoren im Staub zu kriechen, die fest entschlossen sind, uns unter ihr Joch zu zwingen?«
Ghassans Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. »Glaubst du, dass alle Gerüchte, die sich um den Sultan ranken, wirklich der Wahrheit entsprechen? Er mag ja von edler Gesinnung sein, Sulayman, aber er ist auch nur ein Mensch mit menschlichen Schwächen und Fehlern, und was noch schwerer wiegt - seine Armee besteht aus Männern. Sie werden gegen seinen Befehl plündern und Frauen schänden und behaupten, es sei Allahs Wille, und dann werden weder Glaube noch Barmherzigkeit noch unser Gott noch der der Franken dieses Land vor der Verdammnis des Krieges retten.«
»Ein Krieg mag vielleicht unausweichlich sein.« Khalidah hielt den Blick auf den sich verdunkelnden Himmel gerichtet. »Aber er muss nicht zwingenderweise direkt ins Verderben führen. Du bist Arzt, und als solcher weißt du, dass eine Rettung manchmal nur gewaltsam möglich ist. Ein brandiges Bein muss amputiert werden, um den Rest des Körpers vor einer Infektion zu bewahren, ein lebendes Kind muss aus dem Leib seiner sterbenden Mutter geschnitten werden, damit wenigstens ein Leben gerettet wird. Als Arzt tust du diese Dinge, weil du an die Heiligkeit des Lebens glaubst.« Endlich sah sie ihn an. Zu seiner Überraschung war ihr Zorn verflogen, und ein weicher Ausdruck lag in ihren Augen. »Trifft das nicht auch auf einen möglichen Krieg zu? Könnte ein Schwert nicht unsere Rettung sein, wenn derjenige, der es führt, nicht allein an seine Stärke und seine Fechtkunst glaubt, sondern vor allem an einen Gott, der unsere Geschicke lenkt und letztendlich alles zum Besten wendet?«
Ghassans Gesicht verhärtete sich; seine Züge verrieten plötzlich sein Alter. »Möglich«, gab er zu, dann bedachte er sie mit einem Lächeln, das zwischen Regenwolken aufblitzenden Sonnenstrahlen glich. »Dann führe dein Schwert im Namen des Glaubens, Khalidah bint Brekhna al-Dschinn, und ich bete, dass du am Ende Recht behältst.«
Ein Anflug von Schmerz huschte über sein Gesicht, dann wandte er sich ab. Schweigend ritten sie im ersterbenden Licht auf die Berge zu, die wie die Verkörperung eines unbekannten Schicksals vor ihnen aufragten.