30

In den folgenden Tagen war Bilal so glücklich wie nie zuvor. Der Sturm hielt mit unverminderter Heftigkeit an, und er betete zu Allah, dass er noch lange nicht nachlassen möge, wenn das bedeutete, dass er auch weiterhin seine Tage mit Salim und ihrem Schachbrett und ihrer banj-Pfeife in ihrem Zelt in dem staubigen Wadi zubringen konnte. Aber die einzige Sicherheit im Leben besteht darin, dass sich alles ändert, hatte seine Mutter immer gern gesagt, und so geschah schließlich das Unvermeidliche, und der Sturm ebbte ab. Einmal mehr brach die Armee des Sultans gen Süden auf.

Ein zweitägiger Ritt hätte sie nach Kerak gebracht, doch statt dessen schlug der Sultan einen Zickzackkurs ein und schickte einen Trupp nach dem anderen zwecks blitzartiger Überfälle über die Grenze in das fränkische Territorium. Diese Verzögerungen zerrten an Salims Nerven; er brannte nach seinem Sieg in Amman darauf, sich erneut im Kampf zu behaupten, und als die Tage verstrichen, begann sogar Bilal die Ankunft in Kerak herbeizusehnen, damit die Langeweile endlich ein Ende hatte, obwohl er Salims Lust am Blutvergießen nicht teilte. Doch Saladin begegnete dem Drängen seines Sohnes nur mit einem ruhigen, nachsichtigen Lächeln.

»Um Al-Quds zurückzugewinnen müssen wir die Franken in einen Kampf verstricken, und zu diesem Zweck müssen wir sie aus ihrer sicheren Festung herauslocken«, erwiderte er. »Und Amman hat dich ja gelehrt, dass die Franken ihre Festungen nicht gern verlassen, schon gar nicht, wenn es sich um die ihrer Heiligen Stadt handelt.« Er hielt inne. Sein Blick wanderte zum Horizont, wo der Sand auf den Himmel traf. »Aber mein bei weitem größtes Problem besteht darin, meiner eigenen Armee in der Zwischenzeit Beschäftigung zu verschaffen.«

»Du schickst sie auf Raubzüge, nur damit sie beschäftigt sind?«

»So ist es.«

Der Sultan hatte in der Ferne eine Staubwolke erspäht, nicht größer als der Rauch einer erlöschenden Lampe, aber er wusste, dass sie einen weiteren Sieg ankündigte. Endlich drehte er sich zu seinem Sohn um, der voller Eifer auf seine Befehle wartete, und zum ersten Mal fiel ihm auf, wie sehr Salim seiner Mutter ähnelte. Als einziges Kind eines persischen amir war sie für das Leben in einem Harem denkbar ungeeignet gewesen; sie war an Unabhängigkeit und Respekt gewöhnt und hatte sich in die Haremshierarchie nie einfügen können. Obwohl er sie eine kurze Zeit lang leidenschaftlich geliebt hatte, wünschte Saladin jetzt, er hätte sie nie angerührt. Er hätte wissen müssen, dass ein Sohn von ihr ihm das Herz brechen würde.

»Und wie jede gute Taktik dient auch diese mehr als nur einem Zweck«, fuhr er endlich fort. »Unsere Erfolge hier halten die Männer bei Laune und machen denen Mut, die in Ras al-Mai zurückgeblieben sind. Aber der wichtigste Grund dafür, dass wir nicht auf direktem Wege nach Kerak reiten, lautet, dass ich Nachricht von Al-Adil habe.«

Bei der Erwähnung des Bruders seines Vaters, des atabegs von Ägypten, hob Salim den Kopf. »Schließt er sich unserer Armee an?«

Der Sultan lächelte ihm anerkennend zu. »Sie sind bereits unterwegs und sollten in einer Woche in Ayla eintreffen. Mit seiner Hilfe und der Gnade Allahs könnten wir nicht nur eine Burg, sondern eine ganze Provinz erobern. Dafür lohnt es sich doch, sich ein paar Tage in Geduld zu fassen, findest du nicht auch?«

Salims Augen leuchteten vor freudiger Erregung auf, und der Sultan sah ihm mit besorgt gerunzelter Stirn nach, als er davoneilte - zweifellos, um dem Beduinenjungen alles zu erzählen. Diese plötzliche Vertrautheit der beiden behagte ihm gar nicht - nicht wegen der Natur ihrer Beziehung, sondern weil er sich noch nicht sicher war,  ob er dem Jungen trauen konnte. Doch dies war nicht die eigentliche Quelle seiner momentanen Sorgen. Er dachte über den anderen Grund für sein Zögern in Bezug auf Kerak nach, den wichtigsten und zugleich beschämendsten Grund: Zweifel am Gelingen seiner Mission. Denn Saladin hatte Kerak schon früher angegriffen, und so sehr seine Chronisten auch versuchten, die Dinge zu beschönigen … die schlichte Wahrheit lautete, dass er gescheitert war.

Dieser frühere Feldzug hatte im Großen und Ganzen fast so begonnen wie der jetztige. Arnat hatte eine Pilgerkarawane zu viel überfallen, und der Sultan hatte die Geduld verloren und war mit seiner Armee gen Süden gezogen, um dem unverschämten Prinzen eine Lektion zu erteilen. Als er die Burg erreichte, stellte er fest, dass sie von fränkischen Edelleuten wimmelte, die sich eingefunden hatten, um an der Hochzeit von Arnats Stiefsohn, dem sechzehnjährigen Humphrey IV. von Toron mit der elfjährigen Prinzessin Isabella von Jerusalem teilzunehmen. Trotzdem belagerte Saladin die Burg, aber da einzig und allein Arnat das Ziel seiner Rache war, hielt er seine Artillerie von den Gemächern der Kindbraut fern. Alles lief relativ zivilisiert ab - Keraks Burgherrin Stephanie de Milly schickte sogar Portionen des Hochzeitsmahls zu seinen Männern hinaus - doch am Ende griffen die lateinischen Staaten, für die die Burg sehr wichtig war, ein, und der Leprakönig kam Kerak mit seiner Armee zu Hilfe. Da Saladin bezweifelte, dass seine Truppen dieser Übermacht gewachsen waren, zog er sich gen Norden zurück.

Es war eine Entscheidung, die er bitter bereuen sollte, als eine zweite Belagerung ein Jahr später ebenfalls fehlschlug, Arnat immer dreister und der Widerstand gegen ihn immer schwächer wurde. Jetzt ritt der Sultan bewusst langsam Richtung Süden, um sich Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. Doch als die Burg wie eine Warze auf der Linie des Horizonts in Sicht kam, wusste er immer noch nicht, auf welchem Weg sie sich am besten einnehmen lassen würde.

»Die Franken haben während der hundert Jahre, die sie in unserem Land leben,viel dazugelernt«, meinte der Sultan an diesem Abend in seinem Zelt zu seinen umara. »Sie verlassen ihre Festungen nicht ohne triftigen Grund und schon gar nicht, wenn die Umstände ungünstig sind. Durch unsere Überfälle haben wir ihnen nun einen Grund geliefert, jetzt gilt es, sie davon zu überzeugen, dass die Umstände zu ihren Gunsten sprechen. Deshalb werde ich sie selbst zum Kampf herausfordern und nur meine Leibwache und die meines Sohnes mitnehmen.«

Er gebot den Einwänden der umara mit erhobener Hand Einhalt und fuhr fort: »Der Rest der Division wartet, bis die Franken aus ihrer Deckung kommen, und dann werdet ihr so blitzschnell und erbarmungslos zuschlagen, wie ihr es bei euren anderen Überfällen getan habt.«

Und so geschah es. Saladin brach beim ersten Tageslicht auf, flankiert von seiner eigenen und Salims Leibgarde. Bilal ritt mit an der Spitze der Abteilung und betrachtete die Burg mit einer Art unbeteiligter Wachsamkeit, als sie vor ihm auftauchte. Da waren der Turm und die Mauer, die er so gut kannte, dort das große Tor, durch das er einst als Verbündeter der Franken geritten war. Doch jetzt war das Fallgitter hochgezogen, und im hellen Licht glichen die Schießscharten gefletschten Fängen und die zinnenbewehrte Brustwehr einem lückenhaften Gebiss. Die Soldaten strömten mit ihren Frauen und ihren Huren auf die Mauer, um den armseligen Trupp, der sich da eingefunden hatte, herauszufordern und mit Hohnrufen zu überschütten.

Der Garnisonshauptmann, ein korpulenter Mann mit einem Gesicht wie ein bleicher, stoppeliger Pudding, ritt ihnen mit einer Hand voll Kavalleristen entgegen. Auf das salaam des Sultans erwiderte er durch einen Dolmetscher: »Was wollt ihr?«, und zwar in einem Ton, der durchblicken ließ, dass er lieber wieder im Turm sitzen und den Wein seines abwesenden Herrn trinken würde.

»Das fragst du noch?«, gab Saladin verächtlich zurück. »Siehst du den Rauch eurer brennenden Dörfer nicht? Haben deren Bewohner nicht bei dir Zuflucht gesucht?«

»Beides trifft zu.« Diesmal klang die Stimme des Hauptmanns merklich kühler.

»Also dann: Ich bin gekommen, um mit euch zu verhandeln.«

Der Franke schnaubte geringschätzig. »Wer will denn hier verhandeln?«

Der Sultan sah ihn mit seinen goldbraunen Augen so lange an, bis der Ritter den Blick senkte. Dann sagte er in ruhigem Konversationston: »Die Nachrichten von den Gräueltaten deines Herrn reisen weiter, als dir vielleicht bewusst ist - bis nach Kairo, um genau zu sein. Mein Bruder befehligt die dortige Armee. Du hast sicher schon von ihm gehört; man nennt ihn Al-Adil, ›den Gerechten‹, und das nicht ohne Grund. Er wartet in Ayla, um Arnat zur Rechenschaft zu ziehen, falls er sich nicht freiwillig stellt.«

»Arnat ist nicht hier«, höhnte der Franke.

»Glaubst du wirklich, das wüsste ich nicht?«, fragte Saladin mit leiser, erbarmungsloser Stimme. »Glaub mir, ich weiß alles über eure momentane Situation und noch einiges mehr, was ihr nicht wisst. Wirst du dir jetzt meine Bedingungen anhören?«

»Es wird keine Verhandlungen geben!«, brüllte der Offizier mit wutrotem Gesicht. Der verdutzte Dolmetscher zögerte einen Moment, dann übersetzte er die Worte.

»Wie du willst.« Saladin hielt den Hauptmann in seinem hypnotischen Blick gefangen, sodass der Mann gar nicht bemerkte, wie er sein Schwert zog. Erst als die Klinge vor ihm auf blitzte, begriff der fränkische Ritter, dass Verhandlungen nie in der Absicht des Sultans gelegen hatten.

Danach lief alles reibungslos. Der über den Boden rollende Kopf des käsegesichtigen Offiziers lockte einen Kavallerietrupp aus dem Burghof, über den die Mamlukenbogenschützen und die Hilfsreiterei augenblicklich herfielen. Mitten in dem Getümmel kämpfte Bilal mit eiserner Entschlossenheit, und wenn sich die Gesichter der Männer, die er niederstreckte, zu tief in sein Gedächtnis einzubrennen drohten, sah er zu Salim hinüber, dessen Augen vor Kampfeslust glühten. Innerhalb weniger Minuten verwandelte sich das Schlachtfeld in einen Morast aus blutigem Schlamm und den zerfetzten Leibern gefallener Franken, die unter den Hufen der panikerfüllten reiterlosen Pferde zu Brei zermalmt wurden.

Danach wandten sich die Männer des Sultans zum Tor, hämmerten gegen ihre Schilde und forderten den Rest der Garnison zum Kampf, doch niemand nahm die Herausforderung an. In der Burg regte sich nichts, die Brustwehr blieb leer. Die restlichen Soldaten schienen sich im Bergfried verschanzt zu haben. Es war nicht ganz der Sieg, den Saladin sich erhofft hatte, aber er reichte für seine Zwecke durchaus aus. Der Sultan schob sein Schwert in die Scheide zurück, teilte seine Armee in zwei Truppen auf und wies den Kommandanten einer davon an, einen Ring um die Burg zu bilden.

»Bewacht die Garnison«, befahl er, dann winkte er seinen Sohn zu sich, wendete sein Pferd und galoppierte in westlicher Richtung davon.

»Wo reiten wir denn hin?«, fragte Salim.

»Zu meinem Bruder«, erwiderte Saladin. »Wir werden Arnat eine Lektion erteilen, die er so schnell nicht vergisst.«

 Eine Woche lang machten Saladin und die ägyptische Armee große Teile der Provinz Oultrejourdain dem Erdboden gleich. Ihre früheren Überfälle verblassten angesichts der Verwüstungen, die sie in Arnats Herrschaftsgebiet anrichteten. Sie steckten die Felder in Brand, auf denen das junge Korn heranreifte, schlachteten das Vieh und töteten jeden, der die Hand gegen sie zu erheben wagte. Anfangs stand Bilal dieser Zerstörungswut mit gemischten Gefühlen gegenüber; er fand, eine solche Willkür ließ sich nicht mit dem Töten aus Selbstschutz rechtfertigen. Doch ein menschliches Herz kann nur ein bestimmtes Maß an Grausamkeit ertragen, ohne sich zu verhärten, und so schwang er bald sein Schwert mit demselben Blutdurst wie seine Gefährten und pries dabei lauthals Allah und den Sultan, das Werkzeug Seines Willens.

Doch nachts, wenn er in Salims Armen lag, wurde ihm immer wieder von neuem bewusst, wie hohl und leer sein Kampfgeschrei war. Er kämpfte nicht für den Sultan oder Allah, sondern ausschließlich für den einen Menschen, den er liebte. Als die anhaltenden Siege in ihnen eine Leidenschaft entfachten, die über alles hinausging, was sie in jener ersten Nacht in Busra erlebt hatten, erkannte er aber auch, dass er außer Salim niemanden auf der Welt hatte und außer ihm auch niemanden wollte oder brauchte. Er wusste, dass der Krieg eines Tages enden und das Leben ihnen beiden trotz Salims Träumen von einem unbeschwerten, freien gemeinsamen Dasein Dinge abverlangen würde, die ihre Liebe auf Dauer unmöglich machten. Doch im Moment zog er es vor, nicht darüber nachzugrübeln, sondern sich auf das zu konzentrieren, was Salim ihm damals in dem windumtosten Tal gesagt hatte: den nächsten Tag zu überleben und sich dann Gedanken um das zu machen, was danach kam.

 

Wuestentochter
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