28

Der Sandsturm fegte zwei Tage lang über das verfallene Dorf hinweg, und manchmal fürchtete Khalidah, die Hütte würde über ihnen zusammenbrechen. Doch endlich ließ er nach und ebbte nach einem kurzen, aber heftigen Regenguss ganz ab. Sie und Sulayman füllten ihre Wasserschläuche, bevor die Pfützen in der Sonne verdunsteten, und setzten dann ihre Reise fort.

Die Salzwüste war zwar eintönig, aber nicht sehr groß - jedenfalls nicht im Vergleich zu den schier endlosen Wüsten Arabiens -, und nach ein paar Tagen sahen sie erneut Berge am Horizont aufragen. »Verabschiede dich von dem Sand«, sagte Sulayman zu ihr, dabei deutete er auf die Gebirgskette. »Bis wir Qaf erreichen, werden wir nicht viel anderes als diese dort zu Gesicht bekommen.«

Von der Wüste gelangten sie in die Provinz Sistan, die Sulayman zufolge einst als Paradies auf Erden bekannt gewesen war; ein weitläufiger Garten von einem Land, in dem kultivierte und friedliche Menschen lebten. Aber da friedliche Völker in einer Welt, die sich dem Krieg verschrieben hatte, dem Untergang geweiht waren, war Sistan nach jahrelanger Unterdrückung und Ausbeutung durch Invasorenarmeen zu einer Art Niemandsland zwischen Persien und Khorasan geworden. Doch zwischen den Bergen lagen noch immer zahlreiche fruchtbare Täler, in denen Weizen, Melonen und Sesam im Überfluss wuchsen.

Die Bauern, die diese Talfelder bearbeiteten, gehörten zu einem Stamm namens Baluchi, der in Hütten aus Flechtwerk mit Dächern aus Tuch hauste und eine Sprache sprach, die selbst Sulayman nicht entschlüsseln konnte. Die Männer ritten eigenartige Pferde mit edel geformten Köpfen auf langen Hälsen, Leibern, die etwas massiger waren als die der Araberpferde und mit langen, gebogenen Ohren, deren Spitzen sich berührten. Trotz der Sprachbarriere verstanden die Baluchi zu handeln, sodass Sulayman und Khalidah ihre Vorräte aufstocken und die Pferde ausgiebig grasen lassen konnten.

Nach dem Land der Baluchi durchquerten sie trockene, von abbröckelnden Ruinen durchsetzte Steppen und einmal sogar eine ganze verlassene Stadt, deren zerborstene Säulen wie die Rippen eines vor Urzeiten zur Strecke gebrachten riesigen Tieres gen Himmel ragten. Sie erklommen Hügel und fanden auf der anderen Seite eine vom Fluss Hirmand in zwei Hälften geteilte Sumpflandschaft vor. Das Wasser des Hirmand war klar und eiskalt, eine willkommene Abwechslung, nachdem sie tagelang lauwarme, nach den Häuten der Wasserschläuche schmeckende Flüssigkeit hinuntergewürgt hatten.

An ihrem laut Sulayman letzten Tag in Persien machten sie in einer kleinen Stadt namens Zabol Halt; einer Ansammlung niedriger Lehmhäuser, die die stumpfe Farbe der Berge hinter ihnen angenommen hatte. Doch es gab auch Grün: Hinter den Mauern lagen von dem großen Fluss gespeiste üppige Gärten. Seit Domat al-Jandal waren sie in keiner Stadt dieser Größe mehr gewesen, und es widerstrebte Khalidah, sie zu betreten.

»Müssen wir hier unbedingt anhalten?«, beschwerte sie sich.

»Ja, wenn du in den Bergen nicht erfrieren willst«, erwiderte Sulayman. »Wir müssen uns mit einigen Dingen eindecken, bevor wir weiterreiten können.«

Seufzend trieb Khalidah Zahirah weiter. Doch sowie sie sich innerhalb der Stadtmauern befanden, schwanden ihre Bedenken. Viele  Einwohner sprachen Persisch, vor allem im suq, wo Sulayman für sie beide Männerkleider erstand.

»Die Berge wimmeln von Räubern«, erklärte er, als Khalidah sich weigerte, die Verkleidung noch länger aufrechtzuerhalten. »Glaub mir, es ist besser, wenn sie dich für einen Mann halten.«

Er reichte ihr einen hellen Wollhut, den er pakol nannte und den man je nach Wetter tief über den Kopf ziehen oder an den Seiten aufrollen konnte. Dazu erwarb er lange Wollmäntel in gedeckten Farben und riesige wollene Schals; einen roten für sich und einen blauen für Khalidah. Außerdem stellte er einen Vorrat an Lebensmitteln zusammen und bezahlte für alles mit dem letzten Silberschmuck vom Zaumzeug ihrer Pferde.

»Und jetzt sind wir für alles gerüstet«, sagte er zu Khalidah, als sie die Vorräte und die neuen Kleider auf das Packpony luden. Dann verließen sie den suq, ließen das Gewimmel in den Straßen hinter sich und gelangten in ein ruhigeres Viertel, wo die gepflegten Häuser und die von Mauern umgebenen Gärten von einem gewissen Maß an Wohlstand zeugten.

»Das ist aber nicht der Weg in die Berge«, stellte Khalidah fest.

»Nein«, bestätigte Sulayman. Nach kurzem Zögern fuhr er fort: »Wir haben zwar den letzten Teil unserer Reise vor uns, aber er wird zugleich auch der bei weitem schwierigste. Heute Abend gibt es eine warme Mahlzeit, und wir schlafen in einem richtigen Bett.«

»Wir haben kein Geld, um uns in einem Gasthaus einzumieten.«

»Das brauchen wir auch nicht. Ich habe hier eine gute Freundin.«

»Du scheinst überall Freunde zu haben.«

»Bist du böse?«

»Nein. Aber warum hast du mir das nicht schon eher gesagt?«

»Ich wusste nicht, ob unser Weg uns wirklich hierherführen würde, und ich wollte dir keine falschen Hoffnungen machen.«

Das war für ihn eine seltsame Bemerkung. Als Nomadentochter  legte Khalidah wenig Wert auf eine weiche Matratze, und obwohl sie gegen eine warme Mahlzeit nichts einzuwenden hatte, hätte sie auch problemlos darauf verzichten können. Sie wollte gerade weiter in ihn dringen, als er Asifa vor dem größten Haus in der Straße zum Stehen brachte; einem von der üblichen Mauer und Dattelpalmen umgebenen zweistöckigen Gebäude. Irgenwo hinter der Mauer hörte sie Kinderlachen und das leise Plätschern eines Springbrunnens. Die Geräusche weckten eine unbestimmbare Sehnsucht in ihr.

»Wie willst du deiner Freundin meine Anwesenheit erklären?«, fragte sie, als sie vor der Tür von den Pferden stiegen.

»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Sulayman. »Sandara kennt die Wahrheit bereits - sie weiß wahrscheinlich mehr als wir.«

»Wie meinst du das?« Khalidahs Stimme klang scharf.

»Dies ist nicht der Ort, um darüber zu sprechen.« Sulayman klopfte an die Tür. Sie wurde von einem ungefähr sechsjährigen Jungen geöffnet, einem mageren Bürschchen in teuren Kleidern, die am Morgen zweifellos noch sauber gewesen waren. Bis auf seine großen, von schwarzen Wimpern gesäumten Augen von der Farbe von Palmwedeln wirkte er eher unauffällig. Als er Sulayman sah, strahlte er über das ganze Gesicht und warf sich ihm in die Arme.

»Du bist zurückgekommen!«, rief er.

»Wie ich es versprochen habe.« Sulayman küsste ihn auf beide Wangen und stellte ihn wieder auf die Füße. »Daoud ibn Aslam al-Tamur, ich möchte dir Khalidah bint Abd al-Aziz al Hassani vorstellen.«

Das Kind grüßte höflich, dann platzte es heraus: »Ich dachte, du wärst ein Junge!«

Khalidah lächelte. »Das solltest du auch denken.«

»Ist deine Mutter da?«, fragte Sulayman.

»Ich hole sie gleich«, sagte Daoud. »Kommt herein, und lasst eure Pferde trinken.«

Er deutete auf einen im Mittelpunkt von vier zusammenlaufenden, mit Kies bestreuten Pfaden gelegenen Springbrunnen, der von Aprikosenbäumen umgeben war. Zwei kleine Mädchen, ein oder zwei Jahre jünger als Daoud, lehnten sich über den steinernen Rand des Beckens und warfen Kiesel in das Wasser. Als Khalidah und Sulayman ihre Pferde zum Brunnen führten, blickten sie auf. Ihre Augen schimmerten so rauchgrün wie die ihres Bruders, und ihre hübschen Gesichter ähnelten sich so sehr, dass Khalidah sie nicht hätte unterscheiden können, hätten sie nicht verschiedenfarbige Kopftücher getragen.

»Sulayman!«, riefen sie wie aus einem Mund, ehe sie auf ihn zurannten. Er fing jede mit einem Arm auf und küsste sie.

»Wie hast du es nur geschafft, diese Kinder so zu bezaubern?« Khalidah nahm den Pferden das Zaumzeug ab.

»Sie haben mich bezaubert.« Sulayman ließ sich mit einem kleinen Mädchen auf jedem Knie auf dem Rand des Brunnens nieder. »Das sind Daouds Schwestern Madiha und Maliya.« Zu den Zwillingen sagte er: »Das ist Khalidah.«

Khalidah nickte den beiden zu, dann schöpfte sie mit den Händen Wasser aus dem Brunnen und trank ebenso gierig wie die durstigen Pferde. Plötzlich fiel ein Schatten über sie. Sie drehte sich um und sah eine Frau zwischen sich und Sulayman stehen. Sie war groß und schlank und von Kopf bis Fuß in schwarze Gewänder gekleidet. Ein schwarzer Schleier verbarg ihr Gesicht so vollständig, dass ihre Züge nicht zu erkennen waren. Sie beugte sich vor und nahm Sulayman die zappelnden Mädchen ab, dann musterte sie ihn schweigend. Zumindest hatte es den Anschein: Der Schleier machte es unmöglich, genau zu sagen, worauf sie den Blick richtete.

Mit einer leisen, süßen Stimme sagte sie: »Ich freue mich so, dass du zurückgekommen bist, Sulayman.« Beim Sprechen flatterte der Schleier wie ein Blatt im Wind. »Und du, Kind …« Sie wandte sich  an Khalidah. Jetzt schien ihre Stimme zwischen ungläubiger Verwunderung und erstickten Tränen zu schwanken. »Ist es möglich, dass du Brekhnas Tochter bist?«

Khalidah spürte plötzlich eine überwältigende majestätische Würde, die diese verschleierte Frau ausstrahlte; dasselbe Gefühl, das sie überkommen hatte, als sie Sulayman zum ersten Mal begegnet war. Brauche ich so dringend eine Leitfigur, dass ich jedem Fremden gleich unterstelle, von königlichem Blut zu sein?, fragte sie sich ärgerlich, aber ein Teil von ihr wusste es besser; ahnte vielleicht schon die Wahrheit.

»Ja, die bin ich«, antwortete sie.

Ein Nicken, und hinter dem Schleier blitzte ein grünes Auge auf. Sandara setzte die Zwillinge ab, und zu Khalidahs Schock und abgrundtiefer Verlegenheit kniete sie anmutig vor ihr nieder. »Ya hala, Khalidah bint Brekhna bint Tor Gul Khan, as-salaamu’aleikum. Du bist im Haus deiner ergebenen Dienerin Sandara bint Arzou al-Dschinn immer willkommen.«

 Während der üppigen Mahlzeit, die Sandara für ihre Gäste und ihre Kinder unter den Aprikosenbäumen aufgetragen hatte, erzählte sie Khalidah von ihrer Kindheit in Qaf, das sie zum ersten und einzigen Mal mit einem Kriegerbatallion unter dem Kommando eines persischen amir verlassen hatte, um einen Disput um Ländergrenzen zu schlichten.

»Damals wusste ich es noch nicht, aber ich sollte meine Heimat nie wiedersehen.« Ihre Stimme glich sanft fallendem Regen. »Wie deine Mutter heiratete ich einen Stammesfremden und wurde ausgestoßen.«

»Wo ist dein Mann jetzt?«, fragte Khalidah.

»Tot.« Sandaras Ton verhärtete sich unmerklich, nur einen Moment lang, doch als sie weitersprach, meinte Khalidah noch den  Nachhall dieser Härte zu hören. Sandara erzählte von dem Tuchhandel, der ihr und ihrer Familie ein gutes Auskommen bescherte; von den Gärten, die sie selbst pflegte und auf die sie sehr stolz war; von den Kindern, ihrer größten Freude. Doch unter ihrer Lebensgeschichte verbarg sich etwas, was Khalidah so schwarz vorkam wie ihre Witwengewänder. Sie brannte darauf, den Grund dafür zu erfahren, wagte aber nicht zu fragen.

Nach dem Essen brachte Sandara die Kinder zu Bett. Sowie sie außer Hörweite war, wandte sich Khalidah an Sulayman. »Was für ein Geheimnis verbirgt sie?«

»Das muss sie dir sagen, nicht ich.« Sulayman begann seine qanun  zu stimmen.

»Ich mag keineAusflüchte«, murrte sie, wohl wissend, dass ihr eigentlich die Ehrfurcht missfiel, mit der Sulayman die ältere Frau behandelte.

»Die Wahrheit wird dir noch viel weniger gefallen«, gab Sulayman zurück.

Khalidah nippte an ihrem Tee, sah zu, wie die Sterne hinter den Bäumen aufgingen und grübelte über seine Antwort nach, bis Sandara mit einer Laterne und einer Kaffeekanne zurückkehrte. »Du tust ihnen gut, Sulayman«, sagte sie, als sie die Laterne neben seinem Knie abstellte und sich niederkniete, um Kaffee einzuschenken. »Sie kommen selten mit Männern in Kontakt, eigentlich mit kaum einem Menschen außer mir. Es ist ein trauriges Leben für sie. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht besser nach Qaf zurückkehren sollte … mein Vater würde zwar mich nicht wieder aufnehmen, aber seine Enkelkinder bestimmt.« Sie seufzte. »Ich sollte es tun, zu ihrem Besten. Aber ich ertrage die Vorstellung nicht, von ihnen getrennt zu sein.« Ihr Lachen glich eher einem Schluchzen. »Was für eine schlechte Mutter ich bin. Schwach und eigensüchtig …«

Khalidah schämte sich plötzlich für ihre Eifersucht, so gequält  klang die Stimme der Frau. Sie tastete im Dunkeln nach Sandaras Hand, die diese ergriff und geradezu verzweifelt umklammerte. »Spiel etwas, Sulayman«, bat sie. »Spiel etwas, ehe wir alle in meinem Selbstmitleid ertrinken.«

»Gerne«, willigte er ein. »Und ich hoffe, Khalidah wird singen.« Khalidah nickte nur stumm.

Sie trugen Chauras’ Klage vor, und vielleicht lag es an Sandaras Kummer oder der friedlichen Nacht oder schlichtweg an der Aussicht auf ein baldiges Ende der Reise, aber Khalidahs Stimme klang seelenvoller und süßer, Sulaymans Spiel zu Herzen gehender als je zuvor. Als sie zum Ende kamen, war die Nacht hereingebrochen, der Garten ein Meer von Schatten, die um die Öllampe herumtanzten.

»Ich danke euch beiden«, brach Sandara das Schweigen. »Ich weiß, dass ihr einen Teil von euch gegeben habt, um meinen Schmerz zu lindern, und im Gegenzug, Khalidah, werde ich dir erzählen, was du wissen möchtest, obwohl ich glaube, dass es dich verletzen wird.« Sie hielt inne, dann fuhr sie fort: »Ich habe dir den größten Teil meiner Geschichte anvertraut, dir aber etwas bislang verschwiegen. Als junges Mädchen war ich nicht nur eine viel versprechende ghazi, sondern auch sehr schön. Zumindest sagte man das von mir, obwohl es mich damals wenig interessierte … oder ich redete mir das zumindest ein. Aber vielleicht habe ich doch unbewusst in meiner Schönheit geschwelgt, statt sie als das Geschenk zu betrachten, das sie war.« Sie schüttelte den Kopf.

»Es war meine Schönheit, die Aslam zu mir hinzog. Ich wusste das, aber ich war zu jung und naiv, um zu begreifen, dass sie für ihn zugleich auch meinen einzigen Wert ausmachte. Er war der einzige Sohn einer reichen Familie; gewöhnt, schöne Dinge zu besitzen, und genau darin bestand das Problem. So pflichtbewusst und gehorsam eine Frau auch sein mag, sie ist dennoch ein eigenständiger Mensch mit einem eigenen Willen, und ich war nicht nur eine Frau, sondern  auch eine Dschinn - und die Dschinn haben andere Auffassungen von Pflicht. Aber obwohl ich das wusste und auch all die anderen Gründe kannte, warum Dschinn nur untereinander heiraten sollten, war ich jung, und die Liebe ist taub für die Stimme der Vernunft.

Wir waren noch nicht lange verheiratet, als mir dämmerte, was für einen verhängnisvollen Fehler ich begangen hatte. Aslam gefiel es nicht, wie andere Männer mich ansahen. Erst verbot er mir, auszugehen. Dann bestand er darauf, dass ich mich auch im Haus verschleierte. Später war es mir sogar nicht mehr gestattet, mich Besuchern zu zeigen, selbst wenn sie zur Familie gehörten - verschleiert oder nicht. Aber selbst das war noch nicht genug. Aslam war überzeugt, mich früher oder später an einen anderen Mann zu verlieren. Ich sah zu, wie die Eifersucht ihn zerfraß, und doch hätte ich nie gedacht, dass sie letztendlich vollständig von ihm Besitz ergreifen würde.«

Sie verstummte, dann schlug sie langsam den Schleier zurück und legte ein so exquisites Profil frei, dass Khalidah der Atem stockte: milchweiße Haut, ein großes grüngoldenes Auge, eine fein geschnittene Nase und eine schwarze, an eine Vogelschwinge gemahnende Braue. Doch irgendetwas stimmte nicht: Sulayman, der zu ihrer anderen Seite saß, betrachte sie mit einem Ausdruck gequälten Mitleids. Einen Moment lang begriff Khalidah nicht, was das zu bedeuten hatte, dann wandte Sandara den Kopf, und die furchtbare Wahrheit traf sie wie ein Schlag. Die andere Hälfte ihres Gesichts war zu einer Grauen erregenden Fratze verzerrt; bestand nur aus einer Masse wulstiger roter Narben. Das Lid verschmolz mit der Haut ringsum und gab das milchig trübe blinde Auge frei, die Lippen waren zu einem immerwährenden starren Fletschen gebleckt.

»Er betrank sich, und dann schüttete er mir brennendes Öl ins Gesicht, als ich schlief.« Jetzt konnte sie die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht mehr verbergen. »Siehst du, er hatte sich selbst davon überzeugt, es sei besser, meine Schönheit auszulöschen, als mit dem Wissen zu leben, sie nie ganz alleine besitzen zu können.« Sie lächelte wehmütig, dann ließ sie den Schleier mit nahezu greifbarer Endgültigkeit wieder fallen. »Es gelang ihm, und doch war er am Ende der Verlierer, denn als er erfuhr, dass ich am Leben bleiben würde, stürzte er sich in sein eigenes Schwert. Und seither bin ich Witwe, reich zwar, doch mein Reichtum nützt mir nichts, denn kein Mann wird mich je wieder begehren, und wenn die Kinder nicht wären, wäre ich Aslam schon längst auf seinem Weg gefolgt.«

Sie verstummte, und als sie weitersprach, galten ihre Worte allein Khalidah, die sich nur allmählich von ihrem Schock erholte. »Ich kenne all die bösen Gerüchte, die über deine Mutter im Umlauf sind«, sagte sie weich. »Während meiner gesamten Jugend hat man sie mir als mahnendes Vorbild vorgehalten - ›Siehst du, was denen widerfährt, die unseren Stamm verleugnen?‹, drohte man mir. ›Selbst unserer Prinzessin blieben Demütigungen und Exil nicht erspart.‹ Aber ich kann und werde sie für ihre Handlungsweise nicht verurteilen, und das solltest du auch nicht tun, egal was die Dschinn dir einreden wollen, denn wir, die wir Qaf den Rücken gekehrt haben, büßen danach jeden einzelnen Tag unseres Lebens dafür, jeder auf seine eigene Weise.«

Sie hielt inne, dann seufzte sie leise. »Es ist sinnlos, mir zu wünschen, dass ich Qaf nie verlassen hätte, denn ich glaube nicht, dass ich die Kraft aufgebracht hätte, Aslam und dem, was ich für Liebe hielt, zu widerstehen. Aber das hier …«, sie deutete auf ihre zerstörte Gesichtshälfte, »habe ich mir selbst zuzuschreiben. Aslam begann mich und meine Persönlichkeit von dem Moment an auszulöschen, in dem ich mich in seine Hände gab, und aus Stolz - völlig irregeleitetem Stolz heraus ließ ich ihn gewähren; versuchte noch nicht einmal, mich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Keine Dschinn sollte zulassen, dass ein Mann sie so behandelt, aber mir erschien es einfacher, das zu vergessen, denn sonst hätte ich zugeben müssen, dass ich einen großen Fehler gemacht hatte. So kam alles, wie es kommen musste.

Geh nach Qaf, Khalidah. Suche deinen Großvater auf und höre, was er dir zu sagen hat. Lerne, was es heißt, eine Dschinn zu sein; überlege, ob du dir dort ein Leben auf bauen kannst. Aber vergiss niemals, wer du bist.« Sandara erhob sich abrupt und zog sich zurück. Der Nachhall ihrer Worte verklang langsam im leisen Plätschern des Wassers.

 

Wuestentochter
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