Prolog

DIE PILGERSTRASSE, NAHE KERAK, GRAFSCHAFT OULTREJOURDAIN, DEZEMBER 1186 N. CHR.

 

»Das ist die Burg Kerak.« Jasid deutete auf einen niedrigen Berg in der Ferne, auf dem eine mächtige Festung thronte. »Das Heim von Brins Arnat.«

Rahil umklammerte die Hand ihres Großvaters fester. Wie alle muslimischen Kinder in Outremer war auch sie mit den Geschichten von den Gräueltaten des fränkischen Prinzen aufgewachsen, aber sie hatte mehr Grund als die meisten, diesen Ort zu fürchten. Er hatte sie in ihren Träumen heimgesucht, seit sie denken konnte, denn in Kerak waren ihre Eltern umgekommen. Sie waren während ihrer Pilgerfahrt von Arnat überfallen und gefangen genommen worden, als Rahil fünf Jahre alt gewesen war. Und daher flößte die Festung ihr Grauen ein, denn die Gesichter ihrer Eltern erschienen ihr noch manchmal im Traum, obwohl sie bei Tag kaum noch an sie dachte.

Jetzt war Jasid der Einzige, der ihr von ihrer Familie noch geblieben war, doch obgleich sie ihn abgöttisch liebte, verübelte sie es ihm zutiefst, dass er darauf bestanden hatte, sie auf diese Reise mitzunehmen. Sie hatte ihn angefleht, während seiner Abwesenheit bei einer Nachbarsfamilie bleiben zu dürfen, doch ihr Großvater hatte es für unhöflich gehalten, sich so lange bei anderen einzuquartieren. Die Reise nach Mekka war lang; niemand konnte vorhersehen, was ihnen  unterwegs widerfahren würde, und außerdem, so hatte er gemeint, sei es das Beste für Rahil, ihre Hadsch jetzt anzutreten, wo sie noch jung war, statt sie wie er auf das Ende ihres Lebens zu verlegen.

Sie näherten sich der Hügelfestung. Ihre Mauern schienen eine greifbare Gefahr auszustrahlen; so greifbar wie der flirrende Hitzeschleier, der sich in der Mittagssonne über die Wüste legte. Rahil versuchte sich einzureden, dass sie nur Angst verspürte, keine Vorahnung drohenden Unheils. Sie versuchte, sich auf die Größe und Wehrhaftigkeit der Karawane zu konzentrieren; blickte zu dem amir hinüber, der auf einem prachtvollen Hengst an der Spitze der Gruppe ritt. Er war persönlich für die Sicherheit der Reisenden verantwortlich, das gebot ihm seine Ehre. Hinter ihm marschierten die von einer Offiziersphalanx angeführten Soldatentruppen, dahinter die Beamten: ein Richter, seine Notare und sein Sekretär; Verwalter, die sich um das Vieh kümmerten und die Verteilung des Proviants überwachten, ein Sattler, mehrere Köche und sogar ein Eichmeister. Dann kamen die Pilger, ihrer Herkunft nach in Gruppen aufgeteilt, deren Disziplin der der Soldaten in nichts nachstand.

Sicherlich würde es sich sogar Brins Arnat zweimal überlegen, eine so große Reisegruppe anzugreifen, dachte Rahil, und sicherlich würde er nur an den wohlhabenden Pilgern mit ihren prallen Geldbeuteln interessiert sein, für die er überdies ein gutes Lösegeld erzielen konnte. Bestimmt würde er einen alten Mann und ein zehnjähriges Mädchen in schlichten Kleidern verschonen, die nur genug Geld bei sich hatten, um in den Karawansereien am Weg übernachten zu können. Sicherlich … aber als die Burg drohend vor ihnen aufragte, meinte sie, an ihrem Entsetzen ersticken zu müssen.

 Während Rahil zu der Burg emporblickte, starrte Brins Arnat zu der Karawane hinunter. Sein Pulsschlag beschleunigte sich, was selten geschah, seit seine Frau nachts die Tür ihres Schlafgemachs vor ihm  verschloss - und aus purer Bosheit auch die zu den Unterkünften der Dienstmägde. Er bezeichnete sich in Gedanken natürlich nicht als Brins Arnat, sondern als Prinz von Oultrejourdain, obwohl er als niedriger Adeliger Renaud de Châtillon geboren worden war, und zwang seine Untergebenen, ihn als solchen zu titulieren und ihm den mit diesem Titel verbundenen Respekt zu bezeugen. Die anderen Edelleute sowie der König nannten ihn nach seiner Festung einfach Kerak. Zwar hätte er es vorgezogen, mit ›Prinz‹ angeredet zu werden, aber ›Kerak‹ war akzeptabel, zumindest besser als de Châtillon, denn dieser Name war das einzige dünne, ihm zutiefst verhasste Band, das ihn noch mit dem winzigen Landsitz in der Champagne verband, seiner Geburtsstätte, an die zurückzudenken er geflissentlich vermied.

Jetzt stand er in seinem einundsechzigsten Lebensjahr und konnte sich an Europa kaum noch erinnern - worauf er bewusst hingearbeitet hatte, denn Kerak war der zweitgeborene Sohn seines Vaters gewesen und hatte außer seinem Namen keinerlei Geburtsrechte geerbt und auch keine Möglichkeiten gesehen, seinen brennenden Ehrgeiz in seiner Heimat zu stillen. Als junger Mann hatte er gegen diese Ungerechtigkeit auf begehrt, ohne damals ahnen zu können, dass sich in den Unruhegebieten von Outremer schon bald sein Schicksal erfüllen würde. Seine Chance kam in Gestalt eines syrischen Emporkömmlings; eines atabeg namens Imad ad-Din Zengi. Zengi war ein kämpferischer Krieger mit einem tiefen Bewusstsein für das Unrecht, das die fränkischen Invasoren seinem Volk zugefügt hatten. Er war von dem glühenden Wunsch beseelt, die Heilige Stadt zurückzuerobern, die sie ein halbes Jahrhundert zuvor eingenommen hatten. Da er kein Mann war, der Zeit verlor, begann er seinen Feldzug damit, dass er den schwächsten Punkt der Franken angriff, die nördliche Grafschaft Edessa, die wie eine reife Frucht in die Hände seiner Mudschahedin fiel.

Der vor Wut schäumende Papst Eugen III. beantwortete dies mit  dem Aufruf zu einem zweiten heiligen Krieg. De Châtillon und all die anderen zweitgeborenen Söhne erkannten sogleich die Möglichkeiten, die sich ihnen hier boten. 1146 nahm er das Kreuz und marschierte unter dem Banner von König Louis VII. von Frankreich gen Süden; vorgeblich, um Edessa zu rächen, aber insgeheim von dem Ehrgeiz erfüllt, in Outremer zu Macht und Wohlstand zu gelangen. Obwohl der heilige Krieg mit einer Niederlage endete, hatte er sich im Kampf bewährt und so die Hand einer reichen Witwe gewonnen.

Trotzdem hatte es sich als schwierig erwiesen, seine Position zu halten. Etliche Leute waren der Ansicht, er habe alle seine Probleme selbst herbeigeführt. Dass er dazu beigetragen hatte, Zypern dem Erdboden gleichzumachen, trug ihm sechzehn Jahre Haft in den Verliesen von Aleppo ein; eine Zeit, während der er seinen Hass auf alles Arabische sorgsam nährte. Drei Jahre nach seiner Einkerkerung starb seine Frau, und nach seiner Freilassung heiratete de Châtillon eine weitere, sogar noch wohlhabendere Witwe. Und von allem, was Stephanie de Milly mit in die Ehe brachte, reizte ihn nichts so sehr wie das staubige Stück Land in Oultrejourdain ganz im Süden des fränkischen Königreichs.

In den Jahren seiner Ehe mit Stephanie hatte de Châtillon - jetzt als Kerak bekannt - sich das wilde Land untertan gemacht. Franken wie Sarazenen zitterten in seinem eisernen Griff, und sogar der König wagte nicht, sich ihm zu widersetzen. Im ganzen Reich gab es in der Tat nur einen Mann, der sich Keraks Willen nicht beugte. Der Möchtegernprinz war entschlossen, diesen Mann zu brechen, und dort, direkt unterhalb der Mauern seiner Burg, sah er die Gelegenheit dazu.

»In Euren Augen liegt ein merkwürdiger Ausdruck, Messire«, erklang eine Stimme neben Kerak. »Woran denkt Ihr?«

Kerak wandte sich von der Karawane ab und sah Gérard de Ridefort an. Der Großmeister der Tempelritter hielt seinem Blick gelassen  stand. Seine weiße Tunika flatterte in der Morgenbrise, sein Gesicht verriet wie üblich nicht, was in ihm vorging, doch in seinen blauen Augen glomm ein Hauch von Verachtung auf, der eine heiße Welle der Wut durch Keraks Adern jagte. Obwohl sie notgedrungen ein Bündnis miteinander eingegangen waren, hegten Kerak und de Ridefort keine große Liebe füreinander, was vielleicht daran lag, dass sie sich so ähnlich waren: Auch de Ridefort hatte die Karriereleiter von ganz unten erklimmen müssen. Als jüngerer Sohn eines unbedeutenden flämischen Lords hatte er wie Kerak alle Voraussetzungen dafür mitgebracht, sich im Heiligen Land einen Namen zu machen: eine dehnbare Moral, Geschick im Umgang mit dem Schwert, das Talent, Höhergestellten nach dem Mund zu reden, und ein anziehendes Gesicht.

Aber während Kerak sich den Weg nach oben mit dem Schwert erkämpft hatte, hatte sich de Ridefort dazu politischer Schachzüge bedient. Beide hatten einen hohen Preis dafür bezahlt, was man de Ridefort allerdings nicht ansah. Alter und Verbitterung hatten Kerak zu einem aufgeschwemmten rothaarigen Teufel mit dem rötlichen Gesicht eines Trunkenboldes gemacht, das überdies noch von einem milchig weißen blinden Auge entstellt wurde - dem Andenken an eine sarazenische Klinge, die ihn während der Schlacht auf Zypern getroffen hatte. De Ridefort, von derselben Bitterkeit zerfressen, hatte sein gutes Aussehen nicht eingebüßt. Mit seinem blonden Haar stellte er für die meisten Damen der Gesellschaft noch immer die Verkörperung des idealen Ritters dar; ein Umstand, der sich in seinem Ringen um seine momentane Position als äußerst vorteilhaft erwiesen hatte. Dafür hasste Kerak ihn wie niemanden sonst auf der Welt.

»Was wollt Ihr?«, schnarrte er.

De Ridefort verneigte sich leicht. Die Sonne fiel auf sein langes, von grauen Strähnen durchsetztes goldenes Haar. »Messire wünschte mich zu sehen?«

Kerak machte Anstalten, empört Einwände zu erheben, doch dann fiel ihm ein, dass dies der Wahrheit entsprach. Er hatte nach de Ridefort geschickt, sowie er die Karawane entdeckt hatte, sich dann aber von den Möglichkeiten, die sich ihm hier eröffneten, ablenken lassen. »Ja«, erwiderte er, dann mit etwas mehr Überzeugung: »Ja. Seht Ihr die Karawane, die dort unten vorbeizieht? Sie ist bewaffnet, und das sollte sie nicht sein. Nehmt die Garnison, und erteilt ihr eine Lektion.«

De Ridefort musterte Kerak wie ein ungezogenes Kind, das einen dummen Streich plant. »Verzeiht mir, Messire, aber haltet Ihr das für eine weise Entscheidung? Uns sind im Moment durch einen Waffenstillstand mit Sultan Saladin die Hände gebunden …«

»Diesen Waffenstillstand habe ich nicht ausgehandelt!«, brüllte Kerak außer sich vor Wut darüber, dass sein Untergebener ihm zu widersprechen wagte.

»Aber wenn Ihr ihn brecht, werdet Ihr einen Krieg auslösen«, gab de Ridefort vorsichtig zu bedenken.

»Ja … und die lateinischen Staaten werden es mir danken, weil ihr König zu rückgratlos dazu ist.«

»Seid auf der Hut, Kerak«, mahnte der Großmeister. Ein Anflug von Hohn schwang in seiner Stimme mit. »Vergesst nicht, wer Euch den Rücken stärkt.«

Kerak betrachtete die Karawane, die jetzt von den Zinnen und Mauerzacken der Brustwehr in mehrere Abschnitte unterteilt wurde. Ein paar Minuten noch, und dann würde es zu spät sein, also zügelte er sein Temperament, obwohl er de Ridefort zu gern wegen seiner Überheblichkeit zurechtgewiesen hätte. »Tötet die Wächter«, befahl er kalt. »Und werft die Pilger in den Kerker. Wenn die Frauen sich wehren, schändet sie. Versuchen die Männer sich zur Wehr zu setzen, tötet Ihr sie.«

De Rideforts fein gemeißelte Züge verzerrten sich vor Abscheu,  aber er hatte sich sofort wieder in der Gewalt. Kerak, dem dies nicht entging, trat lächelnd auf ihn zu, bis sie einander so nah waren, dass sie sich hätten küssen können. Einen Moment lang fragte sich der Templergroßmeister, ob Kerak verrückt genug war, um genau das zu tun.

Doch dieser fixierte de Ridefort stattdessen mit einem eisigen Blick. »Ihr zögert, Messire, was den Schluss nahelegt, dass die Gerüchte, die über Euch im Umlauf sind, vielleicht doch der Wahrheit entsprechen und Ihr einen … lasst es mich so ausdrücken … einen besonderen ›Freund‹ unter den Stämmen der Sarazenen habt.«

De Ridefort schloss die Augen, um das grausame Glitzern in denen von Renaud nicht sehen zu müssen, aber er konnte weder die Worte ausblenden noch das auf sie folgende Schuldbewusstsein unterdrücken.

»Der König mag ein Narr sein, Messire«, fuhr Kerak fort, »aber er ist nach wie vor der König. Ein Wort von mir, und das Getuschel bezüglich Eurer Person könnte noch lauter werden.«

»Ihr bildet Euch ein, er würde einem Verrückten mehr Glauben schenken als dem Großmeister der Tempelritter?«, fauchte de Ridefort, der nun doch die Beherrschung verlor.

Kerak zuckte die Achseln und widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Karawane. »Verrückte sprechen für gewöhnlich die Wahrheit, während Politiker berufsmäßig lügen.«

De Ridefort musterte Kerak lange, dabei fragte er sich, warum von allen Edelleuten Outremers ausgerechnet dieser den Grundpfeiler seines Plans bilden musste. Aber natürlich blieb ihm, wie sie beide wussten, nichts anderes übrig, als sich dem Mann zu fügen. Also deutete er eine kaum merkliche Verbeugung an, verabschiedete sich mit einem knappen »Messire« und wandte sich ab, um seiner Garnison den Befehl zum Angriff auf die Karawane zu erteilen, ehe ein triumphierendes Grinsen auf Keraks Gesicht treten konnte.

 

Wuestentochter
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
Wuestentochter_split_000.html
Wuestentochter_split_001.html
Wuestentochter_split_002.html
Wuestentochter_split_003.html
Wuestentochter_split_004.html
Wuestentochter_split_005.html
Wuestentochter_split_006.html
Wuestentochter_split_007.html
Wuestentochter_split_008.html
Wuestentochter_split_009.html
Wuestentochter_split_010.html
Wuestentochter_split_011.html
Wuestentochter_split_012.html
Wuestentochter_split_013.html
Wuestentochter_split_014.html
Wuestentochter_split_015.html
Wuestentochter_split_016.html
Wuestentochter_split_017.html
Wuestentochter_split_018.html
Wuestentochter_split_019.html
Wuestentochter_split_020.html
Wuestentochter_split_021.html
Wuestentochter_split_022.html
Wuestentochter_split_023.html
Wuestentochter_split_024.html
Wuestentochter_split_025.html
Wuestentochter_split_026.html
Wuestentochter_split_027.html
Wuestentochter_split_028.html
Wuestentochter_split_029.html
Wuestentochter_split_030.html
Wuestentochter_split_031.html
Wuestentochter_split_032.html
Wuestentochter_split_033.html
Wuestentochter_split_034.html
Wuestentochter_split_035.html
Wuestentochter_split_036.html
Wuestentochter_split_037.html
Wuestentochter_split_038.html
Wuestentochter_split_039.html
Wuestentochter_split_040.html
Wuestentochter_split_041.html
Wuestentochter_split_042.html
Wuestentochter_split_043.html
Wuestentochter_split_044.html
Wuestentochter_split_045.html
Wuestentochter_split_046.html
Wuestentochter_split_047.html
Wuestentochter_split_048.html
Wuestentochter_split_049.html
Wuestentochter_split_050.html
Wuestentochter_split_051.html
Wuestentochter_split_052.html
Wuestentochter_split_053.html
Wuestentochter_split_054.html
Wuestentochter_split_055.html
Wuestentochter_split_056.html
Wuestentochter_split_057.html
Wuestentochter_split_058.html
Wuestentochter_split_059.html
Wuestentochter_split_060.html
Wuestentochter_split_061.html
Wuestentochter_split_062.html
Wuestentochter_split_063.html
Wuestentochter_split_064.html
Wuestentochter_split_065.html
Wuestentochter_split_066.html
Wuestentochter_split_067.html
Wuestentochter_split_068.html
Wuestentochter_split_069.html
Wuestentochter_split_070.html