24

Sulayman stellte keine Fragen; nicht, nachdem er in der Höhle erwacht war und auch nicht in den darauffolgenden Tagen. Vielleicht kannte er die Antworten bereits, oder er war zu dankbar für seine wundersame Genesung, um sie in Frage zu stellen. Und Khalidah  hatte nicht die Absicht, von sich aus auf diese seltsame Nacht zu sprechen zu kommen.

Ghassan hatte ihnen das Pony überlassen, und sie kamen nun, da die Pferde weniger Gewicht zu tragen hatten, schneller vorwärts, folgten Pfaden, die sich durch Berge wanden, die Sulayman fast so gut zu kennen schien wie Ghassan. Endlich wurden die Hügel niedriger, die Luft wärmer, und sie gelangten zu einer gleißend hellen, weitläufigen weißen Wüste, die im Sonnenlicht glitzerte. Khalidah konnte es kaum erwarten, Zahirah endlich wieder galoppieren zu lassen, doch als sie dies Sulayman gegenüber erwähnte, schüttelte dieser nur grimmig den Kopf.

»Was du dort siehst, ist kein Sand, sondern Salz«, erklärte er. »Es ist eine kavir - eine Salzwüste. Dieser Teil Persiens ist von ihnen übersät. Einst waren es Marschen, und unter der Salzkruste verbirgt sich immer noch eine Schlickschicht, die dich verschlingen würde wie Treibsand, falls du einbrechen solltest. Es gibt aber sichere Wege, man muss sie nur zu finden wissen, und einer verläuft in der Nähe eines Berges namens Shir Kuh. Aber wir müssen diese Wüste ganz langsam durchqueren.«

»Und dann?«

»Dann reiten wir Richtung Südosten, an Yazd vorbei.«

»Wir sollten dort Halt machen. Unsere Vorräte gehen zur Neige.«

»Ja, und wir brauchen für Khorasan auch noch wärmere Kleider. Aber wir können in Yazd nicht anhalten, wir haben zu vielen Leuten diese Geschichte erzählt. Wenn wir uns die Vorräte gut einteilen, schaffen wir es bis Ravat.«

Khalidah hatte keine Ahnung, wie weit es bis Ravat war. Seufzend fand sie sich damit ab, auch während der nächsten Tage von muffigen Mandeln und getrockneter Kamelmilch leben zu müssen. Sie war zu froh über Sulaymans Genesung, um sich von derartigen Unannehmlichkeiten die Stimmung verderben zu lassen. An diesem Nachmittag ritten sie in ein sonnendurchflutetes felsiges Tal hinunter, hinter dem die eigentliche kavir begann. Ein heißer Wind fegte über die Salzebene hinweg. Sulayman folgte mit größter Vorsicht einem Pfad, den Khalidah nicht zu erkennen vermochte.

Die letzten Zweifel, die sie bezüglich seiner Kenntnisse dieser Gegend gehegt hatte, wurden ausgeräumt, als sie einen Moment lang nicht Acht gab, das Pony von dem unsichtbaren Pfad abkam und schrill wiehernd bis zu den Schultern im salzigen Sand versank. Zum Glück waren Khalidah die Zügel nicht entglitten. Sulayman nahm dem panikerfüllten Tier den Packsattel ab, und gemeinsam gelang es ihnen mit Hilfe der beiden anderen Pferde, das Pony auf festen Boden zurückzuziehen. Es dauerte lange, bis es sich so weit beruhigt hatte, dass sie ihm den Sattel wieder auflegen konnten, und noch länger, bis Khalidahs unkontrolliertes Zittern nachließ.

Nach einigen nervenzermürbenden Stunden stieg das Gelände wieder an, und endlich wich der trügerische Sand steinernem Untergrund. Sie gelangten in ein großes, zu beiden Seiten von schroffen Gipfeln gesäumtes Tal. Zahirah warf den Kopf zurück und fiel in einen leichten Trab, doch Khalidah, der der Schreck noch in den Knochen saß, zog die Zügel an und ließ sie im Schritt gehen. Als die Sonne unterging, tauchte ein Berg vor ihnen auf, dessen Gipfel alle anderen überragte.

»Shir Kuh.« Sulayman blinzelte in die Strahlen der sinkenden Sonne. »Der Löwenberg. Hier rasten wir.«

Sie schlugen ihr Lager in einer geräumigen Felshöhle im Schatten des mächtigen Berges auf. In der Nähe gab es einen kleinen, steinigen Teich, den Sulayman, der einen sechsten Sinn für Wasservorkommen zu entwickeln schien, entdeckte. Doch als Khalidah sich in ihre Decke wickelte, stellte sie fest, dass sie trotz des anstrengenden Ritts nicht schlafen konnte.

»Woran denkst du?«, fragte Sulayman aus dem Halbdunkel ihres heruntergebrannten Feuers heraus.

»An daheim«, erwiderte sie, doch in ihrer Stimme schwang keine Wehmut mit. Nach einem Moment fuhr sie fort: »Ich frage mich, wie sich mein Stamm entschieden hat - ob die Männer sich der Armee des Sultans angeschlossen haben, wie mein Vater es gewünscht hat, oder ob sie feige zu meinem Onkel übergelaufen sind.«

»Ich glaube, die Antwort darauf ist sehr viel komplizierter als eine dieser beiden Möglichkeiten.«

Khalidah schwieg einige Zeit, dann meinte sie: »Ich muss immer an das denken, was Ghassan gesagt hat … dass die zeitliche Übereinstimmung so vieler Faktoren Allahs Werk ist. Besteht wirklich die Möglichkeit, dass es den Dschinn bestimmt ist, an Saladins Seite zu kämpfen? Dass darin der Sinn unserer Reise liegt?«

Sulayman seufzte. »Auch die Antwort hierauf dürfte wesentlich komplizierter sein.«

»Aber wenn sie sich tatsächlich entschließen sollten, sich an dem Dschihad zu beteiligen … können wir es überhaupt schaffen, rechtzeitig zurückzukehren?«, beharrte Khalidah.

»Saladin hält sich an die traditionellen Zeiten für eine Schlacht«, entgegnete Sulayman. »Vor dem Sommer wird er die Franken nicht angreifen. Wenn wir weiterhin so gut vorankommen wie bisher, erreichen wir Qaf rechtzeitig, um Mitte des Sommers wieder dort zu sein. Aber das heißt, dass wir dort nicht lange bleiben dürfen.«

Falls wir Qaf überhaupt finden, dachte Khalidah, behielt aber ihre Bedenken für sich. »Sulayman?«

»Ja?«

»Danke.«

»Wofür?«

Sie hatte ihm dafür danken wollen, dass er ihr bewiesen hatte, wie viele ungeahnte Fähigkeiten in ihm schlummerten und dass ihr  Vertrauen in ihn gerechtfertigt gewesen war, doch alles, woran sie denken konnte, war sein Fieberdelirium und ihre quälende Angst, er könne sterben. Sie vermochte nicht in Worte zu fassen, was sie bewegte, aber er schien es ihr vom Gesicht abzulesen, denn er streckte ihr stumm eine Hand hin. Khalidah legte die ihre hinein und umschloss sie so fest, wie sie es getan hatte, als sie fast sicher gewesen war, ihn zu verlieren.

Und er spreizte ihre Finger wie die Blütenblätter einer Lotosblume und küsste sacht ihre Handfläche.

 Kurz vor Tagesanbruch begann die Erde zu beben, zuerst so schwach, dass Khalidah davon nur halb erwachte. Dann begannen Gesteinsbrocken herabzuprasseln wie gefrorener Regen, und Sulayman zerrte sie hastig aus der Höhle. Überall ringsum riss die Erde kreischend und stöhnend auf; die gespenstischen Laute übertönten sogar das entsetzte Wiehern der Pferde. Es gelang ihnen nur, sie einzufangen, weil die Tiere zu verängstigt waren, um zu wissen, wo sie hinlaufen sollten. Khalidah schlang ihre Schärpe um Zahirahs Hals und hielt sie mit aller Kraft fest, als die Stute sich aufzubäumen und wie wild nach allen Seiten auszukeilen begann. Sie wusste nur zu gut, dass Sulayman und sie ohne die Pferde verloren waren.

Das Erdbeben schien kein Ende nehmen zu wollen, obgleich es in Wirklichkeit nur wenige Sekunden gedauert haben konnte. Als alles vorbei war, versuchte Khalidah, selbst am ganzen Leib zitternd, ihre Stute zu beruhigen und rief dabei verzweifelt nach Sulayman. »Hier!«, erscholl endlich die Antwort, und als Khalidah Zahirah in Richtung seiner Stimme führte, fand sie ihn ein Stück weiter unten im Tal, wo er mit einer Hand die Zügel des Ponys hielt und mit der anderen Asifa beruhigte.

»Ist dir etwas passiert?«, erkundigte er sich besorgt.

»Nein.« Khalidah schüttelte den Kopf. Einen Moment lang standen  sie beide reglos da und lauschten in die Stille. »Wird es zurückkommen?«, fragte Khalidah schließlich verzagt.

»In dieser Stärke nicht«, erwiderte Sulayman. »Aber manchmal kommt es noch Tage später zu leichten Nachbeben.«

»Was sollen wir denn jetzt tun?«

Er seufzte. »Die Nacht im Freien verbringen. In der Höhle sind wir nicht sicher, sie könnte so stark beschädigt worden sein, dass sie über unseren Köpfen einstürzt. Morgen sehen wir dann, was von unserem Gepäck übrig geblieben ist.«

Als sich die Pferde endlich halbwegs beruhigt hatten, legten sie ihnen Fußfesseln an und streckten sich neben einem Felsen aus, der ihnen einen notdürftigen Schutz vor dem Wind bot. Trotz der tröstlichen Nähe von Sulaymans Körper fand Khalidah in dieser Nacht keinen Schlaf, und als die Sonne aufging und sie sein Gesicht betrachtete, wusste sie, dass auch er kein Auge zugetan hatte. Er strich mit einer Hand über ihr struppiges Haar, dann standen sie auf, um nach den Pferden zu sehen.

Asifa und dem Pony war nichts geschehen, obwohl die graue Stute in ihre frühere Nervosität zurückverfallen war und nicht zuließ, dass Sulayman ihren Kopf berührte. Zahirah hatte eine lange Schnittwunde am rechten Hinterbein davongetragen. Sie fühlte sich zum Glück kühl an, war aber ziemlich tief.

»Zuhause wüsste ich, wie eine solche Wunde zu versorgen ist«, meinte Khalidah resigniert. »Aber hier …«

»Können wir nichts anderes tun als ihr Bein zu verbinden und weiterzureiten«, beendete Sulayman den Satz für sie. »Komm, lass uns nachsehen, ob wir irgendetwas finden, was sich als Verbandsmaterial benutzen lässt.«

Vorsichtig stiegen sie über Steine und Geröll hinweg, bis sie eine Ecke von Sulaymans Satteldecke aus einem Sandhaufen herausragen sahen. Nach und nach förderten sie auch den Rest ihrer Habseligkeiten zu Tage. Zwei ihrer drei Wasserschläuche waren geplatzt, Sulaymans qanun aber wie durch ein Wunder unversehrt geblieben. Khalidah hob sie auf und zupfte an einer Saite.

»Über dich scheint ein Engel zu wachen, Sulayman«, stellte sie fest.

Er lächelte, doch seine Augen blickten ernst. »Sag das erst, wenn wir es geschafft haben, mit nur einem Wasserschlauch die nächste Quelle zu erreichen.«

Als sie ihm das Instrument reichte, brachte sie endlich auch den Mut auf, ihm die Frage zu stellen, die ihr schon lange auf der Zunge lag. »Bringst du mir bei, sie zu spielen?«

Die Frage schien ihn nicht zu überraschen. »Wenn ich Ruhe und Muße dazu finde«, erwiderte er ohne Zögern.

Für den Fall, dass sie immer noch verfolgt wurden, vergruben sie alles, was nicht mehr zu gebrauchen war, dann verbanden sie Zahirahs Bein und setzten ihren Weg fort. Doch sie waren noch nicht weit gekommen, als ihnen zwei mächtige Felsbrocken den Weg versperrten. Als Khalidah Zahirah um sie herum auf den Hang führte, von dem sie sich gelöst hatten, meinte sie, den Spuren eines Ungeheuers zu folgen: Fünf Fußabdrücke hatten sich in den Stein eingeprägt; Abdrücke eines Geschöpfes mit drei Zehen, von denen jede so lang wie ihr Unterarm war.

»Bekommen wir es jetzt auch noch mit Drachen zu tun?«, fragte sie Sulayman.

Er betrachtete die Abdrücke einen Moment nachdenklich, dann sagte er: »Ich habe einmal in diesen Bergen einen Stein in zwei Hälften zerbrochen, als ich versuchte, Feuer zu machen. Und zwischen diesen beiden Hälften entdeckte ich den Abdruck von Fischgräten. Ich nahm den Stein nach Yazd mit, um ihn dort zu verkaufen, weil ich dachte, er müsse ein Vermögen wert sein, aber ich wurde prompt zu einem Markthändler geschickt, dessen Stand voll von solchen Steinen war. Er gab mir ein paar Münzen für meinen und erzählte mir, in den Bergen Persiens gäbe es unzählige solcher Wunder, und noch weit beeindruckendere als die, die ich vor mir sähe. Er sagte, diese Berge seien die Grabstätte von Kreaturen, die lange vor den Menschen auf der Erde gelebt hätten - riesige Eidechsen und Vögel ohne Federn und Fische mit langen Zähnen - und die Zeit hätte ihre Knochen in Stein verwandelt. Vielleicht verhält es sich mit diesen Fußabdrücken ebenso.«

»Im Koran werden weder Rieseneidechsen noch federlose Vögel erwähnt«, wandte Khalidah zweifelnd ein.

»Und der Koran behauptet, die Dschinn bestünden aus Feuer.«

Khalidah seufzte. »Eine von Ungeheuern beherrschte Welt«, stöhnte sie, dabei stieg ein grausiges Bild vor ihr auf: dass sie auf der anderen Seite dieser Berge nicht die Städte Yazd und Ravat vorfinden würden, sondern eine trostlose Einöde, auf der riesige schuppige Geschöpfe ihr Unwesen trieben. »Ich habe genug von Persien«, entfuhr es ihr.

Sulayman lachte. »Du kennst Persien ja gar nicht. Hoffentlich kann ich es dir irgendwann einmal zeigen. Es gibt kein schöneres Land auf dieser Welt.«

»Noch nicht einmal Qaf?«, fragte Khalidah weich.

»Qaf …«, entgegnete Sulayman nach einer Pause. »Manchmal denke ich, Qaf ist eine Welt für sich selbst.« Er erhob sich und führte Asifa weiter, und Khalidah ließ die unheimlichen Fußspuren dankbar hinter sich.

 

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