1 - WADI TAWIL, NAHE AYLA, FEBRUAR 1187 N.CHR.
»Khalidah!«, rief Zeyneb zum dritten Mal. »Wenn ich dich finde, Mädchen, gerbe ich dir das Fell!« Eine Hand in die Hüften gestemmt blickte sie sich um, mit der anderen schützte sie ihre Augen vor der Morgensonne. Dann ging sie vor sich hinmurmelnd in Richtung der Pferdeweiden davon.
Von der hoch oben im Hügel über dem Lager gelegenen Sandsteinhöhle aus sahen Khalidah und Bilal ihr nach. »Ich glaube, eine Tracht Prügel wäre mir immer noch lieber als das, was Numair und Abd al-Hadi mit mir vorhaben«, seufzte Khalidah.
»Woher willst du denn wissen, dass sie etwas mit dir vorhaben?« Bilal zeichnete mit einem Finger Kreise in den Staub.
»Stell dich doch nicht dümmer, als du bist, Bilal«, erwiderte sie, denn er hatte an diesem Morgen gemeinsam mit ihr beobachtet, wie der Zwillingsbruder ihres Vaters, mit dem er seit dem Tod ihres Großvaters um die Herrschaft über den Stamm rang, mit einem Gefolge bewaffneter Reiter und einer prachtvollen Stute eingetroffen war. Bei dieser Stute handelte es sich um das schönste Pferd, das Khalidah je gesehen hatte: einen Goldfuchs mit stolz erhobenem edlem Kopf und seidiger Mähne. Doch obgleich sie Pferde mehr liebte als irgendetwas sonst auf der Welt, hatte der Anblick des Tieres sie in tiefste Verzweiflung gestürzt. Die Beduinen betrachteten Pferde als Familienmitglieder, und eine gute, kampferprobte Stute war wertvoller als das Leben eines Mannes. Ein Pferd wie dieses war unbezahlbar. Es konnte nicht verkauft oder eingetauscht, sondern nur als Ehrengeschenk in andere Hände gegeben werden: als Brautpreis für die einzige Tochter eines Scheichs.
Bilal maß sie mit einem langen, harten Blick. »Die meisten Mädchen würden es als großes Glück betrachten, einen Mann wie Numair heiraten zu dürfen.«
Die Worte trafen Khalidah wie glühende Pfeile. »Du findest, ich sollte auch noch dankbar dafür sein, für ein Schlachtross verschachert zu werden?«, fragte sie kalt.
»Das hast du gesagt, nicht ich.«
»Dann sag doch endlich, was du meinst!«
»Gut«, versetzte der Junge trotzig. »Heirate nicht deinen Vetter, sondern mich.«
Diesen Vorschlag unterbreitete er ihr nicht zum ersten Mal, aber es war das erste Mal, dass Khalidah der Verdacht beschlich, er könne es ernst meinen. Sie musterte ihn forschender, als sie es seit langer Zeit getan hatte. Bilal war wie sie fast sechzehn Jahre alt; noch immer mehr Kind als Mann. Er trug ein schmuddeliges Gewand, das zu viel von seinen Knöcheln und Handgelenken frei gab. Aber er war gut gebaut, hatte ein offenes, anziehendes Gesicht, pergamentfarbene Haut und von schwarzen Wimpern gesäumte strahlend blaue Augen, die man bei keinem anderen Mann der Stämme fand und die er aus eben diesem Grund hasste. Er würde genau die Art von Ehemann abgeben, von dem die meisten Mädchen träumten. Doch selbst wenn er nicht der vaterlose Sohn der Dienerin ihres Vaters und somit kein standesgemäßer Bewerber um ihre Hand gewesen wäre, hätte Khalidah seinen Antrag nicht ernst genommen.
»Das wäre ein Fehler, Bilal«, gab sie zurück. »Was du genauso gut weißt wie ich.«
»Ich weiß, dass du dir das einredest. Du bist meine beste Freundin, Khalidah …«
»Und du bist mein bester Freund«, unterbrach sie ihn. »Genau da liegt ja das Problem. Wir zanken uns wie alte Weiber, und wir kennen uns zu gut. Ich denke, wenn eine Ehe harmonisch werden soll, ist es besser, nicht zu viel übereinander zu wissen.« Als Bilal die Stirn runzelte, fragte sich Khalidah, ob sie eigentlich selbst glaubte, was sie da sagte. »Ich meine«, fuhr sie etwas lauter fort, um ihre Zweifel zu übertönen, »wie kann ich mich dir denn wie eine gehorsame Ehefrau unterwerfen? Du bist doch der kleine Junge, der früher immer ins Bett gepinkelt hat.«
»Khalidah!« Bilal zuckte merklich zusammen.
»Dasselbe könntest du von mir sagen. Und außerdem … glaubst du wirklich, du brächtest es fertig, mich zu schlagen?«
»Du möchtest einen Mann, der dich schlägt?«, vergewisserte er sich ungläubig.
»Natürlich nicht.« Khalidah behagte die Wende nicht, die das Gespräch genommen hatte. Sie dachte einen Moment nach und beschloss dann, das Thema zu wechseln. »Zeyneb ist wirklich zu nachsichtig mit mir. Sie droht mir immer Prügel an, aber dabei bleibt es dann auch.«
»Ich wünschte, ich könnte das auch von mir behaupten.«
Khalidah betrachtete Bilal mit einer Mischung aus Mitleid und Neid. »Sie ist deine Mutter und meine Amme, darum schlägt sie dich und droht mir nur.«
»Ich würde gern mit dir tauschen.«
Da Khalidah eine patzige Antwort auf der Zunge lag, wandte sie sich ab und blickte zu den im Winterwind flatternden schwarzen Zelten hinüber. Hinter den Zelten grasten die Pferde, Kamele und Ziegen das Buschwerk ab, dahinter erstreckte sich die Wüste gleißend weiß bis zu den Bergen am Horizont. In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass irgendwo zwischen der Wüste und dieser Höhle die Männer ihrer Familie über ihr Schicksal entschieden. Bei der Vorstellung schnürte sich ihre Kehle zu.
»Komm, wir gehen zurück«, sagte sie und begann, den Hügel hinunterzulaufen, ohne Bilals Antwort abzuwarten.
Als sie das Lager erreichten, machte sich Bilal auf die Suche nach etwas zu essen, während sich Khalidah zum Zelt ihres Vaters begab. Im majlis war alles still, die ghata war hochgerollt und gab den Blick auf die verlassene Unterkunft der Männer frei. Leere Kaffeetassen standen auf dem Boden, das Feuer in der kleinen Grube war heruntergebrannt. Khalidahs Herz wurde noch schwerer. Die Entscheidung war bereits gefallen. Sie wollte sich gerade abwenden, als sich im Schatten des Zeltes etwas regte. Neugierig trat sie einen Schritt vor und sprang dann erschrocken zurück, als sie feststellte, dass das majlis doch nicht leer war. In der hintersten Ecke saß ein Mann und winkte sie zu sich. Er mochte so alt sein wie ihr Vetter Numair - zwanzig -, aber damit hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Sein Gesicht war freundlich und offen, wo Numairs mürrisch und verschlossen war. Er hatte schwarze Augen, eine gerade Nase und einen Mund, der aussah, als sei er jederzeit bereit, sich zu einem Lächeln zu verziehen. Sein Bart war sauber gestutzt, sein Haar unter dem bestickten Käppchen kurz geschoren, und er trug ein kurzes Gewand über Pluderhosen und darüber eine bestickte ärmellose wollene Jacke. Doch am meisten faszinierte sie die qanun, die er auf dem Schoß hielt - das schönste und am schwierigsten zu spielende traditionelle Instrument der Stämme.
Demnach war er ein Fremder, noch dazu einer, der zweifellos zum Gefolge von Abd al-Hadi gehörte. Khalidah hatte nicht die Absicht, das Zelt ohne Begleitung zu betreten, solange er sich darin auf hielt. Der Mann schien dies zu ahnen, denn er legte seine qanun seufzend zur Seite, stand auf und kam auf sie zu. Khalidah wandte sich instinktiv ab, doch er packte sie am Arm und hielt sie fest. Sie wollte schreien - hätte schreien sollen -, aber irgendetwas hielt sie davon ab. Auch Jahre später konnte sie ihre Reaktion nur so erklären, dass sie eine plötzliche Erkenntnis getroffen hatte wie ein Schlag: die Erkenntnis, dass dieser Mann ihr Leben von Grund auf und unwiderruflich verändern würde.
Der Fremde brach das Schweigen. »Wir haben keine Zeit, Sayyida - sie werden gleich zurückkommen. Ich beschwöre dich, zu allem ja zu sagen, was sie von dir wollen.«
»Wie bitte?« Khalidah hatte sich so weit von ihrem Schreck erholt, dass sie sich unwillig von ihm losmachen konnte.
In seinem Seufzen schwang etwas Unabwendbares mit; seine Stimme klang leise und eindringlich. »Sayyida, die Zeit läuft uns davon. Versprich mir nur, in alles einzuwilligen, was sie von dir verlangen.«
»Wer bist du?«, erkundigte sich Khalidah erbost. »Ein Verrückter?«
Er lächelte, was sie an Sonnenstrahlen denken ließ, die durch eine Wolkendecke drangen. »Leider nein, das würde vieles einfacher machen. Dort … sie kommen zurück, und sie dürfen uns nicht zusammen sehen. Aber bitte, Sayyida … sag ja, und verschaffe mir etwas Zeit. Später werde ich dir alles erklären.«
Und dann war er wieder in der dunklen Ecke des Zeltes verschwunden wie eine Maus in ihrem Loch. Khalidah sah ihm einen Moment lang verdutzt nach, doch als sie die Stimme ihres Vaters und das dröhnende Lachen ihres Onkels hörte, fuhr sie herum und floh zum maharama. Sie hatte gehofft, noch Zeit zu finden, um ihre Fassung zurückzugewinnen, bevor sie Zeyneb gegenübertreten musste, aber ihre Amme saß vor dem Zelteingang und flickte ein Kleidungsstück.
»Sehr freundlich von dir, dass du mich mit deinem Besuch beehrst«, empfing sie Khalidah sarkastisch.
»Hast du mich gesucht?« Khalidah bemühte sich, ihrer Stimme einen möglichst unbefangenen Klang zu verleihen.
Zeyneb blickte auf und biss den Faden ab. Ein trockenes Lächeln spielte um ihre Lippen. »Was du und mein Taugenichts von Sohn ganz genau gewusst habt.« Aber der Tadel klang liebevoll. »Du erweist Älteren zu wenig Respekt, Khalidah. Nicht jeder ist so nachsichtig wie ich.«
Schuldgefühle keimten in Khalidah auf, als sie die sorgenvollen Furchen auf der Stirn ihrer Amme bemerkte. »Es tut mir leid, Zeyneb.«
»Hmm.« Zeyneb hob eine Braue. Offenbar beabsichtigte sie, ihre Strafpredigt fortzusetzen, doch nachdem sie Khalidah eingehender gemustert hatte, änderte sie ihre Meinung. »Geht es dir nicht gut? Du bist so blass.«
»Mir fehlt nichts.«
Zeyneb wirkte wenig überzeugt, doch da Khalidah sich schon an ihr vorbeigedrängt hatte, sagte sie nur: »Gut, denn die Männer wünschen, dass du das Mittagsmahl mit ihnen einnimmst. Also zieh dich um.«
»Zeyneb …«
»Ja, ich weiß. Du würdest dich lieber in Lumpen hüllen und dir bei Ausritten mit Bilal den Hals brechen. Nun mach schon. Hinein mit dir. Du siehst aus, als hättest du dich in einem Misthaufen gewälzt.«
Widerstrebend folgte Khalidah Zeyneb in das maharama. Es war sogar für das Zelt eines Scheichs ungewöhnlich groß und vor allem ungewöhnlich leer. Normalerweise beherbergte ein maharama einen ganzen Harem nebst den Töchtern der Frauen, doch das von Abd al-Aziz wurde nur von Khalidah und Zeyneb bewohnt. Obwohl Khalidah wusste, dass ihr Vater sich damit ein Armutszeugnis ausstellte, war sie froh, ihre Ruhe zu haben. Die Unterkünfte der anderen Mädchen waren heiß, stickig, mit zeternden Frauen und kreischenden Kindern überfüllt und von den Gerüchen der Küche neben dem Zelt und dem Gestank schmutziger Windeln erfüllt. Sie wusste, dass sie wegen ihres einsamen Daseins bedauert wurde, war aber jeden Tag für die Ruhe und Ordnung in ihrem Zelt dankbar.
Zeyneb ließ die ghata fallen. Khalidah zwang sich, die seltsame Unterredung mit dem Spielmann aus ihren Gedanken zu verdrängen und begann ihre Kleider abzustreifen. Einen Moment später brachte ihr eine Dienstmagd eine Schüssel mit heißem Wasser und ein Handtuch. Der von der Schüssel aufsteigende Dampf duftete nach Rosen.
»Wo kommt denn das Parfüm her?«, wunderte sie sich.
»Es ist ein Geschenk deines Onkels und deines Vetters«, erwiderte Zeyneb, ohne ihr in die Augen zu sehen.
»Seit wann bringen die beiden Geschenke?«, grollte Khalidah. »Normalerweise haben wir von ihnen nur Ärger zu erwarten.« Als Zeyneb nichts dazu bemerkte, wurde ihr klar, dass sie auf Widerspruch gehofft hatte. Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle.
»Dein Vater wird schon mit ihnen fertig«, sagte die Amme schließlich. »Aber ich werde nicht dulden, dass du ihm in Gegenwart seines Bruders Schande machst.«
Um Zeynebs tadelndem Blick zu entgehen, zog sich Khalidah das schmutzige Kleid über den Kopf und ließ es auf das Bett fallen. Während sie sich zu waschen begann, fragte sie betont obenhin: »Wer ist denn der Mann, den sie mitgebracht haben?«
»Sie haben ein ganzes Kriegergefolge mitgebracht - wie immer.«
»Ich halte ihn nicht für einen Krieger. Er sieht aus wie ein Musiker.«
»Ach, der«, versetzte Zeyneb. »Das ist Abd al-Hadis neuer Spielmann. Es heißt, der Scheich hätte großen Gefallen an ihm gefunden und nähme ihn überallhin mit.«
Khalidah nickte, als interessiere sie diese Auskunft nur am Rande, und fuhr schweigend fort, sich zu waschen. Als sie fertig war, reichte Zeyneb ihr ihr blaues Kleid. Es war ein thoub, das traditionelle doppellagige Gewand der Stämme, aus schwerer dunkelblauer Wolle gewoben und von Zeyneb reich bestickt.
»Es ist so heiß …«, begann Khalidah halbherzig.
»Es betont die Farbe deiner Augen«, erwiderte Zeyneb in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Das war ihre Standardantwort, wenn Khalidah sich über ihre Kleiderwahl beklagte, doch sie ergab für das Mädchen wenig Sinn. Ihre Augenfarbe - ein dunkles Kupfergold - wurde nicht zu ihren Vorzügen gerechnet. Sie erinnerte die Leute an ihre Mutter, und die meisten Hassani hätten am liebsten vergessen, dass Brekhna je existiert hatte.
Trotzdem ließ sie widerstandslos zu, dass Zeyneb ihr ihre Schärpe umband, sie mit Juwelen schmückte und einen roten Seidenschal um ihren Kopf drapierte. Mit ihrem Werk sichtlich zufrieden führte sie Khalidah ins Freie und hieß sie warten, während sie in einer kunstvoll verzierten Silberkanne Tee aus der Küche holte und Khalidah die Kanne reichte. Dann schob sie sie sanft in Richtung des majlis und zog sich in ihr eigenes Zelt zurück - worauf das Mädchen gehofft hatte.
Obwohl er von seinem Volk ›Al-Adil‹, ›der Gerechte‹, genannt wurde, war Scheich Abd al-Aziz für seine Exzentrizität genauso bekannt wie für seinen Ruf, gerechte Urteile zu fällen. Khalidahs unkonventionelle Erziehung galt als bestes Beispiel dafür, zusammen mit dem Umstand, dass er nur ein Mal geheiratet hatte, obwohl diese Frau früh gestorben war und ihm nur eine einzige wertlose Tochter hinterlassen hatte. Seine Leidenschaft für Pferde stieß schon eher auf Verständnis. Aber obwohl viele seiner Stammesbrüder ihre Pferde gleichfalls nachts in ihren Zelten unterbrachten, ging keiner so weit, ihnen einen eigenen üppig mit gewebten Wandbehängen und filigranen Lampen ausgestatteten Raum zuzuweisen.
Dieser Stall lag zwischen dem majlis und dem maharama. Tagsüber war er leer und diente Khalidah schon lange als Fluchtweg, wenn sie endlosen langweiligen Besprechungen entkommen wollte und als Möglichkeit, die interessanten zu belauschen, zu denen sie nicht dazugebeten wurde. Sie sah sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand sie beobachtete, und schlüpfte dann hinein. Aus Gewohnheit raffte sie ihre Röcke, obwohl der Boden sauber gekehrt war, stellte die Teekanne neben einer kupfernen Tränke ab und legte das Ohr an die Zeltwand.
Ein Mann mit einer ebenso klangvollen, aber etwas weicheren Stimme als der ihres Vaters sagte gerade: »Ich weiß, dass es für dich überraschend kommt, aber die Franken halten seit einiger Zeit die Waffenruhe nicht mehr ein, und uns bleibt vielleicht keine Zeit für langwierige Verhandlungen.« Das musste Abd al-Hadi sein.
»Ein Franke«, gab ihr Vater kühl zurück. »Brins Arnat.«
»Ja, und Arnat kann sich gut und gerne als gefährlicher erweisen als alle anderen zusammen, denn ihr jämmerlicher König scheint seine Marionette zu sein und die Templer seine Schoßhunde. Arnat hat die Waffenruhe gebrochen, als er damals diese Karawane überfallen hat, und soweit ich gehört habe, hat keiner seiner Leute irgendetwas dagegen unternommen - am allerwenigsten König Guy.«
»Es heißt, Saladin verhandelt bereits über die Freilassung der Gefangenen.«
»Arnat verhandelt nicht«, erwiderte Abd al-Hadi erregt. »Höchstens mit der Spitze seines Schwertes.«
»Auch unsere Schwerter haben Spitzen«, konterte Abd al-Aziz.
»Ich habe keinVerlangen danach, gegen die Franken zu kämpfen«, meinte sein Bruder. »Sieh mich nicht so an, als wäre ich ein Feigling, der deine Verachtung verdient. Ich spreche nicht feige, sondern weise. Wenn dieser hitzköpfige Kurde Arnat herausfordert, ist das der einzige Vorwand, den die Ungläubigen brauchen, um einen neuen Krieg zu beginnen. Und da es mir äußerst unwahrscheinlich erscheint, dass Arnat doch noch auf seinen König hört oder den Sultan beschwichtigt, ziehe ich es vor, mich so weit wie möglich von beiden zu entfernen, und das so schnell wie möglich.«
»Warum unterbreitest du mir dann diesen Vorschlag?« Abd al-Aziz’ Stimme klang neutral. »Was versprichst du dir von einem Bündnis mit mir? Meine Weidegründe sind mit Festungen der Franken übersät.«
»Du wirst mein Werk weiterführen, wenn ich von einem fränkischen Schwert durchbohrt werde.«
»Dann wird Allah dich als gefallenen Glaubenskrieger reich entlohnen.«
Eine angespannte, bittere Stille trat ein. Dann sagte Abd al-Hadi: »Die Franken sind unbesonnen und ungeduldig. Eines Tages werden sie sich übernehmen, und dieses Land wird wieder uns gehören. Wenn ich lange genug lebe, um diesen Tag mitzuerleben, werde ich frohen Herzens vor Allah treten.« Nachdem ein weiteres Mal langes Schweigen geherrscht hatte, fuhr er fort: »Aber wir sind von unserem eigentlichen Gesprächsthema abgekommen.«
»In der Tat«, erwiderte Abd al-Aziz bedächtig, und Khalidah konnte fast sein Gesicht vor sich sehen: schmal und intelligent, mit einem Leuchten in den schwarzen Augen, das von Gedanken zeugte, die er nicht laut aussprach. »Ich sehe die Weisheit, die in deinem Vorschlag liegt, aber Khalidah ist auf eine Ehe noch nicht vorbereitet.«
Und da war es - das Wort, von dem sie gewusst hatte, dass es fallen würde. Sie hätte gerne geglaubt, ihr Vater würde aus Liebe zu ihr zu Ausflüchten greifen, aber sie war zur Selbsttäuschung nicht fähig.
»Sie ist fast sechzehn«, hielt Abd al-Hadi ihm entgegen. »In diesem Alter sind die meisten Mädchen bereits verheiratet.«
»Khalidah ist nicht wie andere Mädchen. Sie ist ohne Mutter aufgewachsen, vergiss das nicht.«
»Hat ihre Amme sie nicht in diesen Dingen unterwiesen?«, wollte ihr Onkel wissen.
Abd al-Aziz seufzte. »Zeyneb hat selbst kaum Erfahrungen mit der Ehe, die sie an Khalidah hätte weitergeben können.«
»Warum behältst du sie dann in deinen Diensten?«
Abd al-Aziz erwiderte nichts darauf.
»Deinem Zögern entnehme ich, dass es andere Bewerber um ihre Hand gegeben hat.«
Abd al-Aziz schwieg immer noch.
»Blut wiegt schwerer als Gold, akhah. Du kannst mir nicht weismachen, dass es dir lieber wäre, Khalidah würde ausserhalb der Hassani heiraten - zumal du keinen Erben hast, der die Blutslinie fortführen kann.«
Khalidah wandte sich angewidert ab. Es hatte in der Tat andere Bewerber gegeben - nicht viele, das hatte sie ihrer unverblümten Art und den mysteriösen Vorfahren ihrer Mutter zu verdanken, aber sie war immerhin die Tochter eines Stammesführers. Sie hatte die Gespräche zwischen ihrem Vater und diesen Bewerbern von ihrem Versteck aus belauscht, und jedes Mal waren die Verhandlungen nur auf eines hinausgelaufen: den für sie zu entrichtenden Preis.
Bislang waren sämtliche Angebote ausgeschlagen worden. Khalidahs Vater hätte sich auch dann nicht leicht kaufen lassen, wenn er nicht schon reich gewesen wäre. Aber Abd al-Aziz war auch nur ein Mensch und hatte einen großen geheimen Wunsch. Während es andere Männer nach Gold gelüstete, sehnte er sich nach Einigkeit. Das Einzige, was ihn noch mehr bekümmerte als der Verlust seiner Frau, war die Aufspaltung der Hassani in zwei Lager. Seit Khalidah denken konnte, hatte ihr Vater nach einem Weg gesucht, sich mit seinem Bruder zu versöhnen, doch Abd al-Hadi war nicht bereit, sich mit etwas anderem als der vollständigen Abdankung seines Bruders zufriedenzugeben. Niemals - bis jetzt nicht. Khalidah dachte an die Stute - an die Farben von Hoffnung und Sehnsucht - und wusste, dass Abd al-Hadi endlich den wunden Punkt ihres Vaters gefunden hatte. In der Hoffnung, es möge noch nicht zu spät sein, griff sie nach der Teekanne.