5

Im Schein des Vollmondes war die Wüste fast taghell erleuchtet, und lange Zeit ließen sie die Pferde galoppieren. Als die Tiere endlich zu ermatten begannen, stand der Mond schon fast am Ende des Horizonts, und Khalidah spürte die Wirkung des anstrengenden Tages und der schlaflosen Nacht. Sie lockterte ihren Griff um die Zügel und gab Zahirah den Kopf frei, dann sah sie zu Sulayman hinüber, der den Blick gen Osten gerichtet hielt.

»Rechnest du mit Verfolgern?«, fragte sie.

»Eigentlich nicht«, erwiderte er. »Aber ich will ganz sicher gehen.«

»Wohin reiten wir, Sulayman?«

»Südöstlich von hier gibt es eine Höhle und eine Quelle ganz in der Nähe. Wir müssten sie bei Tagesanbruch erreichen.«

Khalidah schüttelte verzweifelt den Kopf. »Und was dann? Sollen wir in dieser Höhle leben, bis mein Vater vergisst, dass er je eine Tochter hatte?«

»Alles zu seiner Zeit, Sayyida.«

Khalidah seufzte. Ein Teil von ihr wollte die Wahrheit aus ihm herausbringen, ein anderer konnte es nicht ertragen, davon zu hören. Also schwieg sie, während sie über die Sanddünen und an verwitterten steinernen Türmen vorbeiritten. Ihre Gedanken wanderten vom Geist ihrer Mutter zu Zeynebs Worten und Bilals reglosem Körper. Endlich gelangten sie zu dem Geräusch brechender Knochen und in Fleisch eindringenden Metalls. Es beunruhigte sie, wie wenig die Erinnerung sie berührte. Eigentlich hätte sie sich davon abgestoßen fühlen müssen, einen Mann kaltblütig getötet zu haben, stattdessen war sie nur erleichtert, dass er ihnen nicht folgen konnte. Auch als sie an all das dachte, was sie hinter sich gelassen hatte, verspürte sie  keine Trauer, keinen Kummer, nur das Gefühl wilder, berauschender Freiheit.

Endlich begann sich der Himmel vor ihnen zu verfärben, und dann fielen die ersten Sonnenstrahlen über den Sand. Asifa und Sulayman hatten die Führung übernommen, und Khalidah, die halb schlafend im Sattel hing, schrak zusammen, als Zahirah zu ihnen aufschloss und stehen blieb. Sie standen oben auf einem langen, sanft geschwungenen Hang, dem Rand eines flachen Wadis. Durch die Talsohle zog sich ein schmaler Strom, der noch die Reste des winterlichen Regens führte. Sulayman stieg ab und führte Asifa zum Wasser hinunter. Nachdem alle getrunken hatten, deutete er stromaufwärts.

»Die Höhle liegt dort.«

»Aber die hier ansässigen Stämme kennen den Fluss und die Höhle doch bestimmt auch«, gab Khalidah zu bedenken.

Sulayman erwiderte nichts darauf, sondern lächelte nur und führte sein erschöpftes Pferd auf ein paar Felsen zu. Seufzend folgte Khalidah ihm. Als sie die Felsen erreichten, erwartete sie, sie von Spalten und Ritzen durchzogen zu finden, wie es bei den Felsen in der Wüste der Fall war, wenn sich darin Höhlen verbargen. Aber stattdessen schritt sie an einer glatten Steinwand entlang, die fast doppelt so hoch war wie sie selbst. Khalidah konnte nirgendwo eine Öffnung entdecken. Mit sinkender Zuversicht erkannte sie, dass Sulayman sich geirrt haben musste. Was hast du denn erwartet?, fragte sie sich. Er war offensichtlich nicht bei Sinnen, und sie musste verrückt sein, weil sie sich ihm angeschlossen hatte.

Während sie den Stein genau inspizierte, lehnte sie sich an Zahirahs Hals und barg das Gesicht einen Moment lang in der kupferfarbenen Mähne der Stute. Statt zu scheuen oder den Kopf hochzuwerfen blieb Zahirah still stehen und blies Khalidah ihren warmen Atem in den Nacken. Khalidah empfand den vertrauten Geruch nach Pferd und die Wärme des Tieres als seltsam tröstlich. Wenigstens habe ich  sie, dachte sie. Sie gehört jetzt mir und nicht den Franken. Als sie wieder aufblickte, zwinkerte sie ungläubig. Sulayman war verschwunden. Mit vor Furcht hämmerndem Herzen zog sie Zahirah mit sich. Sie hatte gerade einen Hain abgestorbener Tamarisken fast passiert, als ein Pfiff ertönte. Als sie die Bäume eingehender betrachtete, sah ihr Sulaymans grinsendes Gesicht aus dem Schatten entgegen. Ärgerlich stapfte sie zwischen den Bäumen hindurch. Er stand in einer Felsspalte, die gerade breit genug für ein gesatteltes Pferd war. Dahinter erstreckte sich Dunkelheit.

»Das ist wirklich nicht der geeignete Zeitpunkt für solche Spielchen!«, fauchte sie aufgebracht.

»Natürlich nicht«, gab Sulayman zerknirscht zu. »Es tut mir leid,  Sayyida.«

Obwohl sie ihn verdächtigte, seine Reue nur vorzutäuschen, war sie zu müde, um mit ihm zu streiten. Zahirah am Zügel führend folgte sie ihm durch den steinernen Gang in eine Höhle, die gerade genug Platz für sie alle vier bot. Über ihren Köpfen wurde sie schmaler, aber sie verlief durch den gesamten Felsen. Hoch über sich konnte sie einen blauen Streifen erkennen.

»Wir müssen etwas essen und dann schlafen«, mahnte Sulayman. »Morgen reiten wir wieder die ganze Nacht durch.«

Khalidah nahm Zahirah Sattel und Zaumzeug ab und breitete die Satteldecke auf dem Sand aus, damit sie trocknen konnte. Dann gab sie beiden Pferden Gerste, Datteln und etwas getrocknete Kamelmilch und nahm etwas davon für sich selbst und Sulayman. Sie aßen schweigend und streckten sich dann, einander den Rücken zukehrend, auf den Decken aus.

»Es tut mir wirklich leid, wenn ich dich erschreckt habe«, sagte Sulayman noch einmal.

Seufzend zog Khalidah sich die Decke über den Kopf und fiel in einen tiefen, erschöpften Schlaf.

Sie schlug die Augen auf und erblickte einen an einen feinen Schleier erinnernden Nebel voller halb geformter Gesichter, die sich bewegten, sowie sie sie zu erkennen versuchte. Die Luft war kühl, feucht und dünn, der Boden unter ihren Füßen mit dichtem Gras bewachsen. In ihrer Nähe stand eine in ein langes, weißes, am Saum besticktes Gewand gehüllte Gestalt. Unter dem Gewand trug sie Hosen wie ein Mann, aber es war eine Frau, daran hegte Khalidah keinen Zweifel, genauso wenig wie an ihrer Identität. Als die Frau sich umdrehte, sah sie tiefgoldene Augen, dunkle Muster auf Stirn und Wangen und ein tränenfeuchtes Lächeln, und Khalidah begriff sofort, warum ihr alle Herzen zugeflogen waren, obwohl man sie nicht als Schönheit bezeichnen konnte.

»Ich dachte, ich hätte dich vergessen«, vertraute Khalidah ihr ihr dunkelstes Geheimnis an. »Ich konnte mich nicht an dein Gesicht erinnern, ich habe noch nicht einmal mehr von dir geträumt …« Aber das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn erst kürzlich war just dieses Gesicht zu leisen Musikklängen aus einem Wandbehang aufgetaucht. Weitere Bilder zogen vor ihrem geistigen Auge vorbei: Muster auf ihren Händen, Blut auf Pergament, das Knacken brechender Knochen, ein Lächeln im Sonnenschein. »Warst du dort? Bist du jetzt hier?«

Kleines Mädchen … Licht meiner Seele …

Die Worte streiften Khalidahs Bewusstsein so zart wie der Geisternebel. »Ummah, bitte«, flüsterte sie. Wieder lächelte Brekhna, aber ihr Bild begann zu verblassen, und Khalidah überkam jenes Gefühl von Dualität, das sich am Ende eines lebhaften Traumes einstellt, wenn die Traum- und die wirkliche Welt einen Moment lang parallel verlaufen. »Warte!«, rief sie. »Sag mir, wo ich dich finden kann!«

Wieder erschien das traurige Lächeln, und Worte strichen wie Phantomfinger über sie hinweg. »Erst musst du Qaffinden...«

Qaf. Fragmente der Lehren des Imans gingen ihr durch den Kopf:  das Ende der Welt, das Land der Dschinn, Smaragdberge, Wesen aus rauchlosem Feuer … und während sie sich all dies ins Gedächtnis zurückrief, verschwand ihre Mutter wie Sand, der durch gespreizte Finger rinnt.

Im nächsten Moment löste sich der Nebel auf. Khalidah stand jetzt auf einem Hügel über einem von Bergen gesäumten Tal, von denen die näher gelegenen mit Gras und Bäumen bewachsen waren und die weiter entfernten blauviolett schimmerten und Kappen aus Schnee trugen. In der Talsohle floss ein klarer Fluss über goldene Steine, an dessen Ufer eine Pferdeherde graste: wunderschöne Pferde, vielleicht noch edler als die, die die Stämme züchteten. Auf einem Hügel zu ihrer Rechten erstreckten sich Gebäudereihen, aus Holz und Stein errichtet und so angelegt, dass sie übereinander gelegene Terrassen bildeten. Am anderen Ende des Tals lag ein größeres Gebäude, von dem etwas aufragte, was wie ein Minarett aussah. Eine Galerie verlief entlang des oberen Stockwerks, in deren Schatten eine gleichfalls weiß gekleidete Gestalt saß. Sie blickte auf, schien Khalidah zu bemerken und eine Geste in ihre Richtung zu vollführen: Dann schloss sich der Nebel wieder, und der Traum endete.

 Zuerst wusste Khalidah nicht, wo sie war. Über ihr schimmerte ein gezackter Streifen blaugrünen Zwielichts, hinter sich spürte sie die Wärme eines schlafenden Pferdes. Sie setzte sich auf. Zahirah schnaubte leise und knabberte an den Spitzen ihrer Haare, und da kam alles zurück. Sie spähte zu Sulayman hinüber, der noch immer fest schlief. Asifa stand in der Nähe des Ganges, den Kopf in Richtung Freiheit gestreckt.

»Also gut, gehen wir.« Khalidah griff nach ihren Satteltaschen und führte die Pferde ins Freie, um sie zu tränken.

Während die Tiere gierig tranken, wusch sie sich das Gesicht und trocknete es an der Innenseite ihres Kleides ab, die noch immer relativ sauber war. Dann kniete sie nieder und sprach ihr Morgengebet, wobei sie sich fragte, ob Allah einer Frau, die so viel Schlechtes getan hatte, überhaupt noch zuhörte. Sie betrachtete im letzten Zwielicht ihr verzerrtes Spiegelbild und versuchte zu ergründen, ob ihre Taten sie verändert hatten, forschte aber dann stattdessen in ihren Zügen nach Ähnlichkeiten mit ihrer Mutter. Abgesehen von den goldenen Augen konnte sie keine feststellen. Ihre Haut war dunkler als die von Brekhna, ihr Haar pechschwarz, ihr Gesicht weicher und herzförmig, mit den offenen Zügen ihres Vaters.

Plötzlich erschien ein anderes Gesicht neben dem ihren. Sie schrak zusammen und fuhr erbost zu Sulayman herum. »Lass das!«

Er lächelte freundlich, kniete sich neben sie und schöpfte Wasser in die hohle Hand, ehe er antwortete: »Es tut mir leid, wenn ich dich schon wieder erschreckt habe.«

»Nein, das tut es nicht«, widersprach Khalidah. »Du hast es ja schon einmal getan.«

»Aber nicht mit Absicht. Es ist nur die Macht der Gewohnheit.«

»Was für eine Gewohnheit erfordert es denn, sich so lautlos anzuschleichen?«

Er betrachtete ihr Spiegelbild im Wasser, statt sie anzusehen. »Das ist eine Geschichte für sich. Aber wir müssen jetzt weiter. Hier, zieh das an.«

Er legte ein Stoff bündel neben sie. Sie hob es auf und schüttelte es aus. Es war ein kurzes Männergewand nebst weiten Hosen, wie sie auch Sulayman trug. Eine rote Schärpe und eine Keffieh flatterten zu Boden. Erst jetzt bemerkte sie, dass er seine bestickte Kappe gegen eine ähnliche Kopfbedeckung ausgetauscht hatte, nur war seine blau.

»Wo gehen wir denn hin, dass ich mich wie ein Mann kleiden muss?«, fragte Khalidah argwöhnisch.

»Es geht nicht um das Reiseziel, sondern um die Reise selbst. Wir  reiten so lange durch die Wüste, wie es geht, aber früher oder später werden wir anderen Menschen begegnen. Und dann ist es besser, wenn sie dich für einen Jungen halten, glaub mir.«

Er zog sich taktvoll stromabwärts zu den Pferden zurück, während sie ihr Gewand abstreifte und in die Männerkleidung schlüpfte. Sie flocht ihr Haar und schob es in das Gewand, dann band sie sich die Keffieh um. Mit ihrem Kleid und ihrem Hemd unter dem Arm ging sie zu Sulayman hinunter, der Zahirah bereits aufgezäumt hatte und sich nun mit Asifa beschäftigte. Khalidah fand, dass die graue Stute längst nicht mehr so nervös war wie vorige Nacht. Zwar schnaubte sie und scheute zurück, als Sulayman ihr ihr Halfter anlegte, aber er sprach die ganze Zeit beruhigend auf sie ein, bis sie ihren Widerstand aufgab.

»Du kannst gut mit Pferden umgehen«, stellte Khalidah fest.

»Und du gibst einen sehr überzeugenden Jungen ab.« Als sie ihn daraufhin finster anfunkelte, fügte er rasch hinzu: »Wenn auch einen ungewöhnlich hübschen. Ich kann nur hoffen, dass wir nicht auf eine Horde einsamer Soldaten stoßen. Du gibst besser vor, dich in der Ausbildung zum Derwisch zu befinden.«

Ihre Miene verfinsterte sich noch mehr. »Wird das einen Vergewaltiger von seinem Vorhaben abhalten?«

»Nein. Aber es wird ihn lange genug ablenken, dass du dein Messer zücken kannst.« Sulayman lachte, als er ihr Gesicht sah. »Keine Angst,  Sayyida. Ich lasse nicht zu, dass dich jemand anrührt.«

Sie ließ sich von ihm in den Sattel helfen, konnte aber ein befriedigtes Lächeln nicht unterdrücken, als sie Zahirah die Fersen in die Flanken stieß, woraufhin die goldene Stute davonschoss und die graue weit hinter sich ließ.

 

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