14

Im Licht der Morgensonne wirkte die Stadt Ras al-Mai klein und unbedeutend. Seit ihrer Gründung hatte sie im Schatten des weniger als einen Tagesritt entfernten Damaskus gestanden, und daran hätte sich zweifellos auch nichts geändert, wenn nicht das scharfe Auge Saladins auf sie gefallen wäre. Wo andere karge, trockene Ebenen voller Steine und Staub sahen, sah der Sultan ausreichend Platz für  eine zwölftausend Mann starke Kavallerie, die dort ungestört ihre Übungskämpfe austragen konnte. Wo seine umara andere Städte mit den gleichen Möglichkeiten, aber mehr Komfort sahen, sah der Sultan Wasservorräte, mit denen sich eine Armee versorgen ließ, die, wie er wusste, allen düsteren Voraussagen seiner Berater zum Trotz die größte sein würde, die jemals gegen die Franken zusammengezogen worden war.

Noch bevor die Hälfte der Rekrutierungsbriefe verteilt worden war, begannen schon die ersten Freiwilligen einzutreffen. Zuerst kamen die muttawiyah, von religiösen Motiven getriebene Männer mit einer nur geringen oder gar keiner militärischen Ausbildung. Ihnen folgten schon bald die Angehörigen der Stadtmilizen und die Söldnerinfanterie. Dann kam die Elite, die aus ehemaligen Sklaven bestehende Mamlukenarmee, dann die nafathin-Feuertruppen, die Mineure, Steinmetze und Zimmerleute, die die Belagerungsgeräte bauen und in Stand halten sollten, und endlich die tawashiyah, die schwere Kavallerie, die sich vornehmlich aus Edelleuten zusammensetzte. Aus allen Ecken des Reichs des Sultans strömten sie herbei; Muslime, Christen und Juden, alle vereint durch den Traum, ihr Land von den Invasoren zu befreien und durch das gemeinsame Vertrauen in die Macht des Ayyubidensultans, der diesen Traum verwirklichen sollte.

Von Anfang an war Saladin entschlossen, dafür zu sorgen, dass dieser Dschihad alle vorangegangenen übertraf. Da er selbst von Natur aus fromm und gerecht war, verlangte er dasselbe von seinen Männern. Hunderte von Köchen trafen ein, um zu gewährleisten, dass jeder Mann dasselbe aß wie seine Kameraden und niemand bevorzugt wurde. Große Bäder wurden zum allgemeinen Gebrauch angelegt, und da es keinem Soldaten erlaubt war, seine Frau ins Lager mitzubringen, sorgte eine Schar von Prostituierten für diejenigen, die es sich leisten konnten, für Ausgleich. Saladin sah großmütig darüber hinweg.

Alle Männer hielten sich an denselben Tagesablauf. Bei Tagesanbruch erschollen Trompeten und Trommeln, gefolgt von der Stimme des Muezzins, der die Gläubigen zum Morgengebet Salatu-l-Fajr rief. Obwohl den Christen und Juden diese Gebete erlassen worden waren, erhoben sie sich zusammen mit ihren muslimischen Kameraden von ihren Lagern und warteten schweigend das Ende des Rituals ab. Nach dem Gebet gab es Frühstück, dann wurden die Latrinen aufgesucht: lange Gräben, die ein Stück außerhalb des Lagers ausgehoben worden waren. Der Tag war mit militärischem Training ausgefüllt - Schwertkämpfen, Übungen im Bogenschießen, Kavallerie- und Infanteriemanövern -, bis die Trommeln und Trompeten den Beginn der Abendmahlzeit verkündeten.

Das Streben des Sultans nach einem Zusammengehörigkeitsgefühl seiner Männer erwies sich als erfolgreich. Die Soldaten tauchten ihr Brot in gemeinschaftliche Eintopfschalen, hockten auf derselben stinkenden Latrine und teilten sich dieselben Huren. Die Grenzen zwischen amir und gewöhnlichen Fußsoldaten, zwischen Anhängern von Jesus und Mohammed begannen zu verblassen. Saladins Männer wuchsen zu einer Einheit zusammen und behandelten einander als absolut gleichberechtigt.

Zu den Ratgebern, die behauptet hatten, so etwas sei unmöglich zu bewerkstelligen, sagte der Sultan nur: »In einem Dschihad sind alle Menschen vor dem Antlitz Allahs gleich, warum also nicht auch untereinander?« Und dann hatte er die Arme weit ausgebreitet, als wolle er seine gesamte Armee umfangen.

 Als Bilal und Numair im Lager des Sultans eintrafen, war dieses bereits so stark angewachsen, dass die Stadt im Vergleich dazu geradezu zwergenhaft wirkte. Banner in allen nur erdenklichen Farben hoben sich im Wind flatternd vom strahlend blauen Frühlingshimmel ab, darunter erstreckten sich Reihe um Reihe Zelte aller Art; von den  armseligen Kamelhautunterständen der rajjalah bis hin zu den prächtigen, mit Koranversen und klassischer Poesie verzierten Seidenpavillons der Edelleute.

Jeder, der Bilal ansah, hätte ihn gleichfalls für einen Edelmann gehalten, den jüngeren Bruder oder Vetter des Beduinenkavalleristen an seiner Seite. Wie Numair trug er einen Lamellenbrustpanzer, darüber ein Gewand aus feinstem Leinen und einen mit einem Seidenturban umwickelten spitzen Helm. In seiner Schärpe steckte ein blitzender neuer Säbel, und an Anjums Sattel waren ein langer Speer und ein Rundschild befestigt. Aber welchen Eindruck auch immer er auf andere machen mochte, Bilal selbst gab sich keinen Illusionen hin. In seinem Magen brannte kalte Furcht, und in seinem Kopf schien ein Bienenschwarm zu summen. Er lebte in ständiger Angst, einen Fehler zu machen, unabsichtlich seine wahre Identität zu verraten oder - schlimmer noch - irgendwie versehentlich durchblicken zu lassen, dass er ein doppeltes Spiel spielte. Er wünschte, Anjum würde sich erschrecken, auf der Hinterhand herumwirbeln und in vollem Galopp davonjagen, doch die Stute war hervorragend abgerichtet, sie trug ihn mit hoch erhobenem Schweif und vorgestreckten Ohren in das lärmerfüllte, chaotische Lager, als sei es eine ruhige grüne Oase.

Als sie bei dem Zelt ankamen, das die vorausgeschickten Diener errichtet hatten, sprang Numair von seinem Pferd, drückte einem Stallburschen die Zügel in die Hand und verschwand im Inneren, ohne sich noch einmal zu Bilal umzudrehen. Nach einem Moment stieg der Junge ebenfalls ab. »Sidi«, sprach ihn ein neben ihm stehender Diener mit einem ehrerbietigen Kopfnicken und, wie Bilal meinte, einem Anflug von Hohn an. Aber noch ehe er sich darüber Klarheit verschaffen konnte, führte der Mann Anjum schon fort.

Bilal betrat das Zelt. Auf einem bunten Läufer standen Platten mit geröstetem Fleisch, Fladenbroten und Früchten bereit. Numair hatte sich bereits darüber hergemacht und verschlang die Speisen gierig.  Bilal wunderte sich noch immer darüber, wie gelassen er auf Daqaqs gescheiterten Versuch, Khalidah wieder einzufangen, und den Verlust dreier Gefolgsleute reagiert hatte. Aber natürlich boten sich ihm jetzt weit bessere Aussichten als die wenigen farsakh Wüstenland, die ihm die Hochzeit mit Khalidah eingebracht hätten. Bald wird er der Herr von Kerak sein, dachte Bilal - und das hat er allein mir zu verdanken. Er lächelte noch immer bitter in sich hinein, als ein anderer Diener mit einem Wasserbecken und einem Tuch erschien. Rasch wusch er sich Gesicht und Hände, und der Diener zog sich zurück.

»Ich wundere mich, dass du in Petra nicht verhungert bist«, nuschelte Numair mit vollem Mund, was Bilal dazu veranlasste, nervös über seine Schulter zu spähen. »Oh, keine Angst, die Männer werden dafür bezahlt, nichts zu hören, und sie sind zu dumm, um den Sinn zu verstehen, wenn sie doch einmal etwas mitbekommen.« Bilal, der an die verschlagene Ironie des Stallburschen denken musste, fragte sich, ob sich Numair in diesem Punkt nicht irrte, so wie er sich selbst bezüglich de Rideforts Bereitschaft, ein Versprechen zu halten, geirrt hatte, aber er schwieg. In den letzten Wochen hatte er - abgesehen von der Zeit mit de Mailly - eine Lektion besonders gründlich gelernt: wann es angesagt war, den Mund zu halten.

»Wie diese Narren es mit dieser Verpflegung im Magen geschafft haben, irgenjemanden zu unterwerfen, und noch dazu ein ihnen so überlegenes Volk wie das unsere, weiß Allah allein«, fuhr Numair fort. Er musterte Bilals ängstliches Gesicht und runzelte die Stirn. »Hör auf zu grübeln, und iss etwas Vernünftiges, solange du noch kannst. Bald müssen wir von den Armeerationen leben, und die sind nicht viel besser als der fränkische Fraß.«

Seufzend ließ sich Bilal auf dem Teppich nieder. Er kaute gerade lustlos an einem zähen Fleischstück, als der Diener, der Anjum fortgeführt hatte, zurückkam. »Draußen wartet ein Bote für dich, Sidi.«

»Von wem?«, fragte Numair gereizt.

»Vom Sultan.« Bilal fuhr zusammen, als wäre er mit einem glühenden Feuerhaken berührt worden. Der Diener maß ihn mit einem verächtlichen Blick, dann wandte er sich wieder an Numair. »Soll ich ihn hereinbringen?«

Numair grunzte nur. Der Mann wertete das als Zustimmung, verschwand und kehrte einen Moment später mit einem in das tiefe Gelb des Sultans gekleideten, bildschönen Jungen zurück. Er musste ungefähr in Bilals Alter sein, hatte zarte, ebenmäßige Züge, dunkle, schimmernde Augen, lockiges Haar, das er im Ayyubidenstil lang trug, und eine geschmeidige Anmut, die an einen Beduinenwindhund erinnerte. Der Junge musterte Numair, schien ihn mit einem Blick abzuschätzen, und sah dann Bilal an. Einen Moment lang überkam Bilal das absurde Gefühl, der andere Junge könne bis auf den Grund seiner Seele blicken - und sein Doppelspiel durchschauen. Dann trat plötzlich das bezauberndste Lächeln, das Bilal je gesehen hatte, auf sein Gesicht - warm, offen und eindeutig dazu bestimmt, sein Gegenüber zu beruhigen. Es traf ihn wie ein Faustschlag.

»As-Salaamu’aleikum.« Der Junge neigte den Kopf.

Statt ihm nun seinerseits Frieden zu wünschen, beäugte Numair ihn argwöhnisch und fragte: »Wer bist du?«

»Ich bin Maslamah Abd al-Rahman Salim ibn Yusuf al-Ayyubidi«, erwiderte der Junge mild, aber mit einem Anflug von Verachtung in den Augen. »Der Sohn des Sultans.«

Numair hätte sich nun entschuldigen und eine respektvolle Geste vollführen müssen, doch stattdessen bohrte er weiter: »Wieso habe ich noch nie von dir gehört?«

Bilal wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken, doch der Prinz schien sich nicht gekränkt zu fühlen. Er erwiderte mit dem Abglanz seines wundervollen Lächelns: »Wahrscheinlich, weil ich weder der Älteste Al-Afdhal noch sein Lieblingssohn Al-Zahir noch Al-Aziz bin, dem es zwar gänzlich an Witz und Verstand mangelt,  der aber dafür einen Schwertkampf wie einen Tanz aussehen lassen kann. Dennoch bin ich der Bote meines Vaters und als solcher hier, um euch einzuladen, ihm morgen früh eure Aufwartung zu machen.«

»Aus welchem Grund?«, erkundigte sich Numair mit deutlich mehr Interesse.

»Mein Vater pflegt mich selten ins Vertrauen zu ziehen«, wich der Prinz höflich aus. Und selbst wenn er das täte, würdest du vertrauliche Informationen nicht an Leute wie uns weitergeben, dachte Bilal. »Aber er hat mich gebeten, euch in der Zwischenzeit mit den Gegebenheiten des Lagers vertraut zu machen.«

Numair spie einen Mund voll Knorpel aus. »Ein Armeelager sieht aus wie das andere. Kennt man eines, kennt man sie alle.«

Bilals Wangen brannten wie Feuer. In dem Bestreben, zu retten, was zu retten war, warf er ein: »Ich verstehe von diesen Dingen weniger als mein Vetter, und deshalb wäre ich für eine Führung sehr dankbar, Hoheit.«

Numair warf ihm einen finsteren Blick zu, aber der Prinz lächelte erneut, und in seinen Augen glomm ein verschwörerischer Funke auf, den Bilal unwiderstehlich fand. Er konnte nicht anders, als das Lächeln zu erwidern.

»Sehr gern, Sayyid …«

»Bilal, Hoheit.«

»Bilal. Und nenn mich bitte Salim. Ich bin nicht mein Vater.« Wieder neigte er den Kopf, dann wandte er sich zum Zelteingang. »Ich komme zurück, wenn du deine Mahlzeit beendet hast.«

»Ich bin fertig«, entgegnete Bilal.

»Dann lass uns gehen.« An Numair gewandt sagte er: »Ma’as salaama.« Numair funkelte ihn nur an.

Draußen jedoch verflog Bilals neu gewonnenes Selbstvertrauen schlagartig. Er fragte sich plötzlich, was der Sultan wohl von ihnen  wollen konnte. Tatsächlich wunderte er sich, dass Saladin überhaupt von ihrer Anwesenheit im Lager wusste. Numair unterschied sich in kaum einer Weise von all den anderen unwichtigen Lords, die ihre Schwerter dem Kampf des Sultans verschrieben hatten, es sei denn … eine Welle kalter Panik schlug über ihm zusammen. Er versuchte sich einzureden, sie arbeiteten für den Sultan, aber angesichts de Rideforts Anweisungen, die Augen offen zu halten und ihn über Saladins Truppenbewegungen auf dem Laufenden zu halten, wusste er, dass er sich selbst etwas vormachte. Und falls der Sultan den Verdacht hegte, sie seien nicht nur hier, um ihm Informationen zu liefern, sondern auch, um welche weiterzuleiten …

Hör auf damit, ermahnte er sich und wandte sich an seinen Gefährten. »Ich muss mich für das ungebührliche Benehmen meines Vetters entschuldigen. Wir haben in kurzer Zeit eine lange Reise zurückgelegt, und wenn er erschöpft ist, kann es vorkommen, dass er seine Manieren vergisst.«

Zu seiner Überraschung brach Salim in Gelächter aus; ein Laut wie ein Morgen in der Wüste, wenn alle Vögel zugleich erwachten. »Lass mich dir sagen, was ich als unbedeutender sechster Sohn eines großen Königs gelernt habe«, sagte er. »Entschuldige dich bei niemandem außer Allah - nicht für deine eigenen Taten und schon gar nicht für die anderer. Daraus erwachsen nur Schuldgefühle, die zumeist niemandem von Nutzen sind.«

Bilal fragte sich, wie sich jemand mit einem solchen Lächeln und einer solchen Redegewandtheit für unbedeutend halten konnte. »Danke«, stieß er schließlich hervor, dabei warf er Salim einen schüchternen Blick zu.

»Weißt du«, meinte der Prinz plötzlich, »dass du die ungewöhnlichsten Augen hast, die ich je gesehen habe?« Bilal blickte verlegen zu Boden. »Es tut mir leid«, fügte Salim rasch hinzu. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«

»Das bist du auch nicht«, gab Bilal zurück. »Es ist nur …« Er hob hilflos eine Hand, weil er nicht die richtigen Worte fand.

»Ja, ich weiß«, erwiderte Salim, und Bilal hatte auf einmal das Gefühl, dass der junge Prinz ihn tatsächlich verstand. Dann legte Salim mit einem weiteren glockenhellen Lachen einen Arm um Bilals Schultern. »Komm. Ich zeige dir diesen stinkenden Dreckhaufen, den mein Vater hier zum Ruhme Allahs errichtet hat.«

Schockiert und erfreut zugleich folgte Bilal ihm, und für eine Weile vergaß er im Chaos des Lagers und dank Salims bissigen Kommentaren seine Ängste und Bedenken. »Das ist das Zelt unseres besten Bogenschützen«, erklärte Salim ihm. »Ich weiß wirklich nicht, warum er zugelassen hat, dass es in der Nähe dieser Horde rajjalah aufgestellt wird - sie stinken schlimmer als Schweine … Dies sind die Rennkamele meines Vaters, sie hausen besser als meine Mutter daheim, und ich frage mich, was sie wohl für ihn tun, was Mutter nicht tun kann? … Hier haben wir das Zelt eines reichen amir aus Jassirah - purpurrote Seide, hält er sich vielleicht für den Kalifen höchstpersönlich?«

Aber während sie zwischen den Zelten entlangschlenderten, kehrte Bilals Furcht allmählich zurück. Gegen seinen Willen zog seine letzte Begegnung mit de Ridefort vor drei Tagen in einem flachen, namenlosen Wadi in der Nähe von Kerak noch einmal an ihm vorbei. Bilal hatte dort in der Woche gelagert, bevor Numair gekommen war, um ihn nach Ras al-Mai zu bringen. Nachmittags hatte ihn der Templergroßmeister in die Feinheiten seiner Pflichten eingeweiht und ihn auch im Umgang mit dem Schwert unterwiesen. Darauf hatte er trotz Bilals Geschick im Kampf mit einem Speer mit der Begründung bestanden, keiner seiner Söhne würde in eine Schlacht ziehen, ohne mit allen Möglichkeiten zum Überleben gerüstet zu sein. Bilal wunderte sich über diese Bemerkung, denn sein Tod würde für de Ridefort eine Reihe von Problemen lösen. Aber da er nichts Besseres  zu tun hatte, übte er, bis er mit der Waffe einigermaßen umgehen konnte.

In der Nacht, in der Numair endlich von seiner Reise zurückgekehrt war, hatte de Ridefort sie in dem Wadi getroffen und ihnen Rüstungen, Geld, Kleider und einen Krug Wein ausgehändigt, den Numair sofort für sich beansprucht hatte, obwohl er bereits sichtlich angetrunken gewesen war.

»Auf den Sieg!«, grölte er, hob den Krug, nahm einen Schluck und wischte sich mit der Hand den Mund ab, bevor er ihn an Bilal weitergab. Bilal nippte nur daran und hielt den Krug dann de Ridefort hin, der überhaupt nicht davon trank, sondern Numair nur mit den kalten Augen eines Jagdfalken betrachtete.

»Bilal, kleiner Vetter«, fuhr Numair dann fort. »Du musst mit mir auf unser künftiges Königreich trinken. Generationen später wird man uns besingen - als …«

»Genug«, unterbrach de Ridefort mit eisiger Autoriät, woraufhin Numair ihn mit einer Verblüffung ansah, die rasch in Zorn umgeschlagen wäre, wäre er nicht so betrunken gewesen. Obwohl Bilal eher das Gegenteil vermutet hätte, machte Wein ihn umgänglicher. »Es bringt Unglück, von einem Sieg zu sprechen, den wir noch gar nicht errungen haben, und dein junger Vetter hier muss seine Fähigkeiten erst noch unter Beweis stellen, ehe er in Liedern besungen wird.«

Numair zündete sich eine banj-Pfeife an. »Oh, keine Sorge, das wird er schon.«

Bilal gefielen weder die Schlussfolgerungen, zu denen diese Worte unweigerlich führten, noch die Art der beiden Männer, über ihn zu sprechen, als sei er gar nicht da. Er zog sich in sein Zelt zurück, fand aber keinen Schlaf, und so lag er ruhelos da, während Numair und de Ridefort Pläne schmiedeten, und bemühte sich erfolglos, nicht an Khalidah zu denken. Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit  suchten ihn heim, und besonders das letzte Bild von ihr hatte sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt: wie sie sich gegen Abd al-Hadis Gefolgsmann zur Wehr gesetzt hatte, bevor dieser ihn niedergeschlagen hatte. Wieder hörte er den in der schwarzen Stille der Wüste verklingenden Hufschlag und verspürte die hilflose Wut, die ihre Flucht in ihm ausgelöst hatte.

Im Morgengrauen erwachte er, überrascht, dass er überhaupt geschlafen hatte. De Ridefort war verschwunden, das Feuer heruntergebrannt, und Numair lag trunken schnarchend neben der kalten Asche. In diesem Augenblick hatte sich Bilal so einsam und verlassen gefühlt, dass er flüchtig erwogen hatte, sein Pferd zu nehmen und zu fliehen. Doch dann war ihm die geflüsterte Drohung wieder eingefallen, die Numair nach jenem ersten verhängnisvollen Treffen mit de Ridefort in der Burg von Kerak ausgestoßen hatte: »Er mag ja dein Vater sein, Bilal, aber vergiss nie, dass ich dein Herr bin. Du wirst tun, was ich sage, oder ich sorge dafür, dass die Geschichte deiner Mutter im ganzen Land bekannt wird, und diesmal entgeht sie der Steinigung nicht …«

»Pass auf!«

Bilal zwinkerte. Salim hatte ihn am Arm gepackt und zurückgerissen, bevor er in den Graben vor ihnen stürzen konnte. Als er aufblickte, bemerkte er, dass sie den Rand des Lagers erreicht hatten. Vor ihnen erstreckten sich Reihen von Gräben, über denen Fliegenschwärme surrten.

»Und hier haben wir die Latrinen.« Salims Mundwinkel zuckten verdächtig. Seine Augen funkelten bereits vor unterdrücktem Lachen. »Mit denen du beinahe intime Bekanntschaft geschlossen hättest. Bist du einVerräter?«

»Bitte?« Bilal spürte, wie ihm das Blut aus den Wangen wich.

Aber Salim lachte, und Bilal erkannte erleichtert, dass er nur einen Scherz gemacht hatte. »Die Scheiße der Gläubigen aus den Latrinen zu schaufeln ist eine gängige Strafe für Gefangene und Männer, die sich des minderschweren Verrates schuldig gemacht haben.« Ein nachdenklicher Ausdruck huschte über sein Gesicht und ließ es noch anziehender wirken. »Aber vielleicht sollte sie uns allen auferlegt werden.«

»Wie meinst du das?« In Bilals Kopf drehte sich noch immer alles.

Salim hob die Brauen. »Frag mich das noch einmal, wenn wir uns besser kennen.« Und trotz des rätselhaften Untertons dieser Bemerkung durchströmte Bilal eine tiefe Freude. Salim wollte ihn besser kennen lernen …

 

Wuestentochter
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