11
Saladin hatte ein Geständnis von Bilal al-Hassani erwartet und vermutet, dass er seinen Vetter Numair beschuldigen würde, aber trotz seiner jahrelangen Erfahrung darin, in den Herzen anderer Menschen zu lesen, hätte der Sultan nie gedacht, dass der junge Beduine ein so furchtbares Geheimnis hüten könnte. Es lag an den Augen, entschied er. Wasserklare blaue Augen waren seiner Meinung nach zu Falschheit und Verstellung nicht fähig - eigentlich lächerlich, dachte er jetzt, wenn man bedachte, dass Blau die vorherrschende Augenfarbe der Franken war.
Während er Bilals seltsamer Geschichte lauschte - de Rideforts altem Fehltritt, einer Ayyubidenprinzessin, die sich bei einem Beduinenstamm verbergen musste, ein Bastardkind und Täuschungen über Täuschungen -, erwog er die Möglichkeiten, die ihm jetzt offenstanden. Und als der Junge schließlich am ganzen Leibe zitternd verstummte, stellte er ihm eine Frage, mit der Bilal am allerwenigsten gerechnet hätte.
»Sag mir … liebst du deinen Vater?«
Bilals Lippen verzogen sich zu einem verzerrten Lächeln, dann lachte er bitter auf. »Ich sähe seinen Kopf am liebsten auf einer Lanze aufgespießt.«
Der Sultan hob die Brauen. »Eigenartige Worte aus dem Mund eines Jungen, den man durch eine bloße Drohung dazu bringen konnte, zum Verräter zu werden.«
»Seitdem habe ich mich sehr verändert«, verteidigte sich Bilal.
»Mein Sohn hat sich auch sehr verändert.« Jetzt schwang ein anklagender Unterton in seiner Stimme mit. »Wie lange weiß er schon, was du mir gerade gesagt hast?«
Bilal betrachtete angelegentlich den Wandbehang ihm gegenüber, dann erwiderte er: »Das ist nicht der Grund für die Veränderung, die mit ihm vorgegangen ist.«
»Das habe ich dich nicht gefragt«, gab der Sultan barsch zurück, verärgert darüber, dass der Junge seine wahre Absicht so rasch durchschaut hatte.
»Aber hast du nicht genau das gemeint, Herr?« Bilal sah Saladin direkt in die Augen. Der Sultan hielt seinem Blick unverwandt stand, sagte aber nichts. »Er weiß es seit Oultrejourdain - ich habe es ihm gebeichtet, als der Sandsturm uns in diesem Wadi festgehalten hat. Und danach habe ich mich von de Ridefort losgesagt«, fügte er rasch hinzu.
Saladin forderte ihn durch ein stummes Nicken zum Weitersprechen auf.
»Herr …« Bilal seufzte. »Dein Sohn leidet seelische Qualen. Ich bin nicht die Ursache dafür, wünschte aber, ich wäre es, denn dann könnte ich ihm vielleicht helfen …« Er schüttelte den Kopf, dachte einen Moment nach und fuhr dann fort: »Cresson hat diese Veränderung herbeigeführt.«
»Das ergibt keinen Sinn«, beharrte der Sultan. »Ich habe Salim in unzähligen Schlachten beobachtet. Er ist kein hirnloser Hasenfuß.«
»Nein, das ist er nicht«, bestätigte Bilal. »Aber bei Cresson verhielt es sich anders als sonst. Bis zu dieser Schlacht hatten wir immer gegen Männer gekämpft, die uns kaltblütig getötet hätten, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen hätten.«
»Und bei Cresson habt ihr gegen Tempelritter gekämpft.« Leiser Spott klang in Saladins Stimme mit. »Glaubst du, sie hätten euch verschont?«
»Nein«, erwiderte Bilal müde. »Natürlich nicht. Aber an diesem Tag lag eine nahezu greif bare Verzweiflung über ihnen … als wüssten sie, dass sie gar nicht dort sein sollten. Und dann sah sich Salim gezwungen, den Templermarschall zu töten …« Er schüttelte den Kopf. »Kanntest du Jacques de Mailly, Herr?« Ohne die Antwort des Sultans abzuwarten fuhr er fort: »Er hätte bei Cresson nicht sterben dürfen. Er hätte nie in diese Schlacht verstrickt werden dürfen. Ich glaube, das hat Salim erkannt, als er ihn tötete, und da hat er zum ersten Mal die Dunkelheit in sich selbst gesehen. In dieser Dunkelheit irrt er seither umher.«
»Berichtige mich, wenn ich mich irre«, entgegnete Saladin bedächtig. »Du willst mir zu verstehen geben, dass die Veränderung, die mein Sohn durchgemacht hat, durch den Tod eines fränkischen Ritters ausgelöst wurde?«
»Nun … das ist eine mögliche Sichtweise.«
»Würde es ihm helfen, wenn er wüsste, dass Gérard de Ridefort für de Maillys Tod verantwortlich war - genauer gesagt für den Tod all dieser Templer?«
»Er weiß bereits, dass der Angriff auf uns auf de Rideforts Befehl hin erfolgt ist«, erwiderte Bilal verdutzt.
»Sei nicht so töricht, Junge!«, tadelte Saladin ihn scharf. »Ich meine, dass er seine eigenen Männer ins Verderben geführt hat. Bei unserem letzten Treffen sagte ich ihm, ich wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben. Ich habe ihm noch nie getraut, und in der letzten Zeit hat er sich nicht mehr an unsere … nun ja, unsere Abmachungen gehalten.« Er sah Bilal eindringlich an. »Er versprach, seine Loyalität unter Beweis zu stellen, um so eine neue Verhandlungsbasis zu schaffen. Ich sagte, er würde es meiner Meinung nach nie über sich bringen, sich gegen den Orden zu stellen, in dem er es zu einem so hohen Rang gebracht hat; er würde letztendlich jedes Versprechen mir gegenüber brechen. Wie es aussieht«, schloss er trocken, »habe ich ihn unterschätzt. Oder zumindest seine Gier.«
Bilal blinzelte. Er brauchte einen Moment, um diese Information zu verarbeiten. Dann sagte er: »Verzeih mir, Herr, aber ich denke, du solltest dafür sorgen, dass Salim nichts von alldem erfährt.«
Der Sultan hob überrascht die Brauen. »Warum nicht? Meinst du nicht, dass er dann aufhört, die Schuld bei sich selbst zu suchen und sich mit Selbstvorwürfen zu quälen?«
»O doch«, entgegnete Bilal. »Aber er wird stattdessen dir die Schuld geben.«
Das Gesicht des Sultans rötete sich vor Zorn. Einen Moment lang dachte Bilal, der Sultan würde ihn schlagen. Doch dann veränderte sich seine Miene erneut; er wirkte erst verwirrt, dann resigniert. »Ich fürchte, du hast Recht, al-Hassani. Du bist ein weiserer Mann als ich.«
Bilal lächelte traurig. »Wohl kaum, Herr. Ich kenne nur Salim sehr gut.«
Der Sultan seufzte. »Wir sind jedenfalls vom eigentlichen Thema abgekommen, scheint mir. Also: Ich gebe zu, dass vieles, was du mir erzählt hast, für mich überraschend kommt. Doch was Gérard de Ridefort betrifft, so hast du mir nur bestätigt, was mir schon lange klar war - er ist ein Mann, der nur danach trachtet, seinen persönlichen Ehrgeiz zu befriedigen. Ich weiß, dass er für jedes Versprechen, das er mir gegeben hat, anderswo zwei andere gemacht hat. Ich sehe, dass du dich fragst, warum ich mich dann überhaupt mit ihm abgegeben habe. Nun, selbst ein skrupelloser, verräterischer Egoist kann gelegentlich recht nützlich sein.«
Er verstummte, hing seinen Gedanken nach und schien Bilal völlig vergessen zu haben. Nach einem Moment ergriff er jedoch erneut das Wort. »Ich meinte es ernst, als ich sagte, du könntest mir die ganze Wahrheit anvertrauen, ohne etwas von mir zu befürchten zu haben. Aber wessen Hand auch immer hinter all dem steckt, er hat dich in den Zwist eines mächtigen Mannes mit der Welt hineingezogen. Und mit jedem Schritt, den du tust, wächst die Gefahr für dich.« Ein weicher Ausdruck trat in die Augen des Sultans, und er atmete tief durch, bevor er weitersprach.
»Hör mir gut zu, Bilal al-Hassani, denn ich spreche jetzt nicht als König zu seinem Untertanen zu dir, sondern als Vater zu seinem Sohn. Du musst in der nächsten Zeit so sehr auf der Hut sein wie nie zuvor in deinem Leben. Du warst für Gérard de Ridefort schon immer eine Gefahr, und jetzt hast du dich gegen ihn gewandt und ihn noch dazu gedemütigt. Er wird alles daransetzen, dich loszuwerden, und angesichts dessen, was ich dir über Cresson erzählt habe, kannst du dir denken, dass sein Gewissen dadurch nicht im Geringsten belastet wird. Und was deinen so genannten Vetter angeht … ich weiß nicht, was er gerade ausheckt, aber mir scheint, er wird deine Abkehr von seiner Sache auch nicht freundlicher aufnehmen als de Ridefort.«
»Ich habe keine Angst vor ihnen«, gab Bilal beherzt zurück.
Der Sultan lächelte. »Das höre ich gern. Aber wenn du dir schon keine Sorgen um deine eigene Sicherheit machst, dann denke wenigstens an die von Salim.«
Bilal erstarrte, dann stammelte er: »Diesen Punkt habe ich gar nicht bedacht, Herr … wenn es ihn in Gefahr bringen könnte, mit mir zusammen zu sein, dann werde ich …«
»Du wirst gar nichts tun, schon gar nicht das, was du gerade vorschlagen wolltest«, unterbrach ihn der Sultan scharf. Dann zupfte er seufzend an seinem Bart. »Ich könnte mir niemanden vorstellen, der besser als du dazu geeignet ist, ihm jetzt zu helfen. Er ist zwar nicht mein Erbe und Nachfolger, und ich weiß, dass ich ihm nie gezeigt habe, dass mir etwas an ihm liegt, aber das tut es - mehr, als er denkt. Also sei bitte um seinetwillen vorsichtig.«
Mit diesen Worten widmete sich der Sultan wieder seinen Papieren. Bilal erhob sich, um das Zelt zu verlassen, doch als er nach der Klappe griff, hielt Saladin ihn zurück. »Noch etwas: Du brauchst um deine Mutter keine Angst zu haben. In diesem Teil der Geschichte liegt für mich die makaberste Ironie. Es stimmt, ihr Mann war ein grausamer Rohling - ja, war. Ein paar Monate nach der Flucht deiner Mutter wurde er von einem Geldverleiher, den er betrogen hatte, buchstäblich in Stücke gehackt. Numair hat dich also auch belogen - von wem auch immer er das alles weiß, er hat es nicht von ihrem Mann erfahren. Und selbst wenn dieser noch am Leben wäre, hätte ich nie zugelassen, dass er auch nur einen einzigen Stein auf deine Mutter wirft. Kein Mann wird Zeyneb bint Ibrahim al-Ayyubi auch nur ein Haar krümmen, und genauso wenig würde ich dulden, dass ihrem Sohn ein Leid geschieht. Bilal ibn Zeyneb al-Ayyubi … das klingt doch gar nicht schlecht, nicht wahr?«
Wieder spielte ein Lächeln um seine Lippen. Bilal nickte, dann stolperte er ins Freie hinaus. Eine benommene Euphorie hatte von ihm Besitz ergriffen, denn während all der Monate, in denen er seinen Hass auf seinen Vater genährt hatte, war es ihm nie in den Sinn gekommen, dass Numair ihm unwissentlich noch eine andere Familie beschert hatte.
Die Frankenburg von Saffuriyya verdiente diese Bezeichnung kaum. Nach Ansicht Numairs, der mit den mächtigen Festungen Kerak und Shawbak als Vorbildern aufgewachsen war, sah dieser kleine Steinwürfel aus, als habe eine riesige Hand ihn ausgequetscht und dann auf einen niedrigen Hügel gesetzt, damit er dort verdorrte. Doch die Umgebung entschädigte ihn für die Armseligkeit der Burg, und er hatte die Wochen zwischen seiner Desertion von den Tiberias-Truppen und de Rideforts Rückkehr nicht ungern in einem kleinen Wäldchen ausgeharrt, und war in der Morgen- und Abenddämmerung, wo für ihn die geringste Gefahr bestand, gesehen zu werden, auf die Jagd gegangen. Oft hatte er im Schatten der Teehäuser und Schänken Posten bezogen und gelauscht, wenn Nachrichten von dem Massaker von Cresson, Tripolis’ Kapitulation, des fränkischen Heerbanns und schließlich von der sich in der Stadt zu versammeln beginnenden Armee die Runde machten.
Als er auf diese Weise auch erfuhr, dass de Ridefort sich wieder in der Burg aufhielt, machte er sich auf den Weg dorthin. Jetzt saß er in der so genannten großen Halle an einem Fenster, nippte an einem Glas süßen Wein und betrachtete die sanft geschwungenen, fruchtbaren Hügel Galiläas. Er hätte gern in Ruhe den Frieden genossen, den diese Landschaft ausstrahlte, aber de Ridefort war nicht in der Stimmung dafür.
»Was soll das heißen, du gehst nicht zurück?«, fuhr er auf, als Numair ihm seinen Entschluss mitteilte, und stellte den Becher so unsanft auf den Tisch zurück, dass etwas Wein über seine Hand schwappte, was seinen Zorn noch schürte.
»Genau das, was ich gesagt habe«, gab Numair mit lässiger Arroganz zurück. »Ich habe genug von dem Armeeleben, und ich habe während meiner Zeit im Lager des Sultans nichts in Erfahrung bringen können, was für Euch von Nutzen sein könnte. Außerdem scheint mir Euer Sohn als Spion weit geeigneter zu sein. Bezieht Eure Informationen doch in Zukunft von ihm.«
Numair hatte den Großmeister mit diesem Zusatz beschwichtigen wollen, doch statt dessen steigerte sich de Rideforts Wut noch. »Erwähne diese kleine Ratte ja nie wieder!«, donnerte er.
Ein Anflug von Besorgnis keimte in Numair auf. Vorsichtig fragte er: »Warum nicht? Was hat er denn getan?«
»Er hat mich beleidigt«, grollte de Ridefort. »Und wenn du die Augen offen gehalten hättest, dann wäre dir aufgefallen, dass er sich schon vor einiger Zeit wegen dieses kleinen Ayyubidensodomiten von uns abgewandt hat. Wir können ihn nicht mehr brauchen - im Grunde genommen konnten wir das noch nie.«
De Rideforts eisblaue Augen ruhten mit einem Ausdruck auf Numair, der diesem noch weniger gefiel als seine Worte. »Woher wisst Ihr das?«, fragte er.
»Weil er es mir gesagt hat.«
»Er hat es Euch gesagt?«, wiederholte Numair ungläubig. »Und Ihr habt ihn am Leben gelassen?«
De Ridefort zögerte mit der Antwort, was für Numair den Schluss nahe legte, dass hinter dieser Geschichte noch mehr steckte, als der Großmeister zugab. »Mir blieb nichts anderes übrig«, murmelte er. »Aber es kommt noch schlimmer. Der Sultan hat mich aus seinen Diensten entlassen. Was das bedeutet - für uns beide, wohlgemerkt - brauche ich dir ja wohl nicht zu erklären.«
»Ihr glaubt Saladin hält so große Stücke auf Bilal, dass er in einer solchen Angelegenheit auf seinen Rat hört?«, höhnte Numair.
»Hast du eine bessere Erklärung für diesen plötzlichen Sinneswandel?«
»Kommt es auf den Grund dafür überhaupt noch an?«
»Mir schon«, erwiderte de Ridefort kalt. »Ich lasse mich nicht gern hintergehen.«
Die Anschuldigung, die in seiner Stimme mitschwang, missfiel Numair. »Dafür könnt Ihr mich doch nicht verantworlich machen!«
»Nein? Du warst doch derjenige, der den Jungen in diese Sache mit hineingezogen hat.«
»Und?«
»Also bist du auch derjenige, der ihn da wieder herausholt.«
»Ihr habt mir gar nichts zu befehlen!«, fuhr Numair empört auf.
»Und ob ich das habe.« De Rideforts Augen funkelten vor Bosheit. »Du bist ein Sarazene und befindest dich in einer fränkischen Burg. Ein Wort von mir, und dein Kopf rollt.«
»Wenn Bilal den Sultan gegen Euch aufgehetzt hat, könnt Ihr davon ausgehen, dass er auch an mir kein gutes Haar gelassen hat. Ich werde noch nicht einmal in seine Nähe gelangen.«
Der Templer erhob sich, beugte sich über Numair und umschloss die Lehnen seines Stuhles mit beiden Händen. »Du wirst einen Weg finden, weil dein Kopf sonst meine Lanze schmückt.« Er lachte, als Numair ihn finster anfunkelte. »Und nur für den Fall, dass du daran denkst, dich aus dem Staub zu machen, solltest du nicht vergessen, dass zwischen hier und deiner Heimat ziemlich viel fränkisches Territorium liegt und ich über viele Möglichkeiten verfüge, jeden deiner Schritte beobachten zu lassen.«
»Ihr seid verabscheuungswürdig«, zischte Numair.
»Deswegen arbeiten wir ja auch so gut zusammen«, entgegnete de Ridefort kalt. »Darf ich jetzt davon ausgehen, dass du dich meines kleinen Problems annimmst? Du wirst für deine Dienste natürlich großzügig entlohnt werden.«
Numair verzog verdrossen das Gesicht, denn sie kannten beide die Antwort darauf.
Den Auftrag anzunehmen war eine Sache, ihn auszuführen eine ganz andere. Je nachdem wie der Sultan auf seinen Verrat reagiert hatte, war es möglich, dass seine Kundschafter bereits nach ihm suchten. Numair wusste, dass er sich dem muslimischen Lager nicht nähern durfte. Seine einzige Chance bestand darin, Bilal herauszulocken. Doch Bilal war nicht mehr der leichtgläubige Junge von einst, der blind in jede Falle tappte. Tagelang lag Numair in einem trocknen, windigen Wadi südlich von Tal Ashtara in seinem Zelt, rauchte banj und grübelte finster über die Undurchführbarkeit seiner Mission nach. Und dann fiel ihm mit dem unerklärlichen Glück, das durch und durch skrupellosen Menschen manchmal hold ist, die Lösung seines Problems sozusagen in den Schoß.
Es war der sechste Morgen seit seiner Abreise aus Saffuriyya, und drei Stunden vor Mittag herrschte bereits eine drückende, schwüle Hitze. Numair saß am Rand des Wadis im Schatten eines Tamariskenbaums, säuberte seine Waffen und hoffte auf eine kühlende Brise, als er eine Staubwolke am Horizont bemerkte. Sie kam von Norden her näher, bis sie die Form eines galoppierenden Pferdes annahm. Kurz darauf konnte er auch die Farbe des Tieres erkennen: ein dunkles Kastanienbraun. Und noch während er sich sagte, dass es so einen Zufall einfach nicht geben konnte, erhaschte er einen Blick auf etwas Gelbes - das flatternde Gewand des Reiters - und drei weiße Flecken auf der Flanke des Pferdes.
Mit Armbrust und Schwert bewaffnet verbarg sich Numair, so gut es ihm möglich war, hinter dem kümmerlichen Baum. Er wusste, dass diese Chance höchstwahrscheinlich seine einzige war, also lud er die Armbrust sorgfältig, wartete und schätzte dabei den Abstand mit der geduldigen Präzision ab, die ihn zu einem so herausragenden Jäger gemacht hatte. Er nahm sich einen Moment Zeit, um um Anjum zu trauern, die er selbst auf die Welt geholt und später zugeritten hatte, dann drückte er ab.
Noch ehe der Bolzen sein Ziel traf, wusste er, dass ihm ein perfekter Schuss gelungen war. Das Pferd strauchelte und schleuderte seinen Reiter in den Sand, und ehe der überrumpelte Bilal überhaupt begriff, was geschehen war, hatte sich Numair schon auf ihn gestürzt. Er zog sein Schwert und setzte es Bilal an den Hals, wo es auf die eisernen Glieder eines Kettenhemdes traf.
»Hast du dem Prinzen seine Rüstung abgeschwatzt?«, schnarrte er, dann begann er das Kettenhemd zur Seite zu schieben.
Doch Bilal packte die Spitze der Klinge und drückte sie mit einer Kraft, mit der Numair eindeutig nicht gerechnet hatte, von seiner Kehle weg, bis er sich zur Seite rollen und aufspringen konnte. Dann zog er sein eigenes Schwert und betete inbrünstig, dass er sich seinen Arm kein zweites Mal brechen würde. Er war gerade erst notdürftig verheilt und noch immer so empfindlich, dass er ihn zum Reiten mit nassen Lederstreifen umwickelte, die hart wurden, wenn sie trockneten, und ihn so vor Schaden bewahrten. Aber er bezweifelte, dass diese provisorische Schiene Schwerthiebe abmildern würde, und, schlimmer noch, Numair war das nicht entgangen.
»Was ist denn das?«, spöttelte er. »Das Ergebnis eines Liebespaarstreits?«
»Was willst du hier, Numair?«, fragte Bilal kalt, während sie einander umkreisten.
»Dich töten. Liegt das nicht auf der Hand?«
»Wie sollte es? Du konntest ja nicht wissen, dass ich ausgerechnet hierherkommen würde.«
Numair schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich betrachte das als Zeichen dafür, dass Allah mir für mein Vorhaben seinen Segen erteilt hat. Und jetzt …«
Er ging zum Angriff über. Bilal parierte den Hieb. Eine Weile trafen ihre Klingen klirrend und Funken sprühend aufeinander. Bilal wehrte Numairs Attacken ab, so gut er konnte, doch dieser hatte den Anflug von Schmerz auf seinem Gesicht bemerkt, als sein verletzter Arm einen Schlag abfangen musste.
»Wenn du wie ein guter Junge vor mir niederkniest«, er musterte seinen Gegner aus erbarmungslosen Reptilienaugen, »dann verspreche ich dir, es kurz und schmerzlos zu machen.«
»Ehe ich vor dir niederknie erleide ich lieber den schlimmsten aller Tode!«
»Wie du willst.«
Numair griff erneut an, und obwohl Bilal sich mit aller Kraft zur Wehr setzte, wusste er, dass er so gut wie geschlagen war. Sie befanden sich in weiter Entfernung vom Lager des Sultans, und er wäre selbst mit zwei gesunden Armen kein ebenbürtiger Gegner für Numair gewesen. Numair trieb ihn zum Rand des Tales und führte dann einen heimtückischen Hieb gegen seine Beine, sodass er gegen seinen Willen doch auf die Knie fiel.
Der Sturz von der unglücklichen Anjum, die Hitze und die Schmerzen forderten jetzt ihren Tribut. Bilal vermochte sich nicht wieder auf die Füße zu ziehen; konnte sogar nur mit Mühe verhindern, dass er in das Tal hinter ihm hinunterrollte. Das Blut rauschte in seinen Ohren, die Welt ringsum drohte schwarz zu werden, und vor seinen Augen tanzten kleine Sterne … und noch etwas anderes. Etwas, was nicht hätte dort sein dürfen und es doch war: ein dunkler Keil am Horizont, der sich rasch als eine Schar schwarz gekleideter Reiter entpuppte. An ihrer Spitze ritt ein in leuchtendes Gelb gwandeter Mann mit langen dunklen Haaren. Einen Moment lang dachte Bilal, jetzt kämen Engel, um ihn zum Paradies zu geleiten, doch der kurz darauf folgende dumpfe Einschlag eines Pfeils und Numairs schmerzverzerrtes Gesicht, als er stolperte, nach dem Pfeil in seinem Rücken tastete, dann zusammenbrach und den Hang ins Tal hinabrollte, belehrte ihn eines Besseren.
Bilal klammerte sich an den Stamm des Tamariskenbaums und blickte benommen nach unten, doch er musste den reglosen Körper auf der Talsohle lange Zeit anstarren, bis das Bild in sein Bewusstsein einsickerte und er begriff, was geschehen war. Erst als sich eine Hand auf seine Schulter legte, erinnerte er sich wieder an seine Retter. Er hob den Kopf und blickte zu Salim auf, dessen Gesicht noch vor Entsetzen darüber, wie knapp sein Freund dem sicheren Tod entronnen war, gezeichnet war. Doch nachdem der Prinz ihm aufgeholfen hatte, wäre Bilal beinahe wieder in sich zusammengesackt, weil seine Beine ihn nicht mehr zu tragen drohten. Das schwarz gekleidete Gefolge Salims hatte zu Saladins Sohn aufgeschlossen, und der Anführer schob gerade seine Keffieh zur Seite.
»As-salaamu’aleikum, Bilal ibn Zeyneb«, sagte Abd al-Aziz ruhig. Sein schmales, zerfurchtes Gesicht verzog sich zu einem schwer zu deutenden Lächeln. »Du hast uns das Leben während der letzten Monate nicht gerade leicht gemacht. Wir mussten dich kreuz und quer durch die Wüste verfolgen … und wie es aussieht, haben wir dich gerade noch zur rechten Zeit gefunden.«