9

Als die Tage verstrichen, gewöhnte sich Khalidah allmählich daran, nachts zu reiten. Die Kälte fraß sich nicht mehr so unerbittlich in ihre Haut, und sie vermochte im Dunkeln besser zu sehen. Am dritten Tag verließen sie die felsige syrische Wüste und gelangten zum Rand der Nafud, der großen Sandwüste Nordarabiens. Khalidah hatte die westliche Grenze der Nafud oft mit ihrem Stamm bereist, sie aber nie durchquert. Niemand durchquerte sie, wenn es nicht unumgänglich nötig war.

Bei den letzten Felsen am Ufer des riesigen Sandmeeres zügelten sie und Sulayman ihre Pferde. Der kalte Wind der hereinbrechenden Nacht zerrte an ihren Keffiehs und den Schweifen der Stuten; ihre Schatten tanzten über den Sand. Doch Khalidah wusste, dass die Wüste sich am nächsten Morgen langsam in ein weißglühendes Inferno verwandeln würde, in dem sie leicht umkommen konnten.

»Dort draußen werden wir kein Versteck finden, wo wir tagsüber ausharren können.« Sie drehte sich zu Sulayman um.

Er saß so reglos auf seinem Pferd wie die Steine neben ihm und blinzelte in den Ostwind. Eine von etwas, was sie nicht sehen konnten, verfolgte Gazellenherde jagte an ihnen vorbei und verschwand in der Ferne. Endlich sah Sulayman sie an. Sein Gesicht verriet nicht, was in ihm vorging; seine Augen lagen im Schatten verborgen.

»Das müssen wir auch nicht«, erwiderte er. »An-Nafud bewahrt ihre Geheimnisse.«

Mit diesen Worten trieb er Asifa an. Khalidah konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass dies der Moment der Wahrheit war: Sowie Zahirahs Hufe den Sand der großen Wüste berührten, würde das letzte Band zwischen ihr, ihrer Heimat und ihrem alten Leben zerreißen, und sie wusste nicht, ob sie Bedauern, Wehmut oder Furcht empfand. Sulayman drehte sich zu ihr um. Zahirah setzte sich in Bewegung und folgte ihm.

 Sie ritten die ganze Nacht und den frühen Morgen hindurch. Als die Sonne zu sengend wurde, errichteten sie unter Zuhilfenahme ihrer Decken einen primitiven Unterschlupf, um darunter die größte Hitze abzuwarten. Obwohl Khalidah vom Reiten erschöpft war, fand sie keinen Schlaf. Eine Vielzahl fruchtloser Gedanken ging ihr durch den Kopf. Endlich setzte sie sich auf, und einen Moment später tat Sulayman es ihr nach. Er öffnete den Beutel mit Datteln und stellte ihn zwischen sie. Sie saßen schweigend da, verzehrten die Früchte und beobachteten die im Schatten des provisorischen Zeltes Nase an Schwanz dastehenden dösenden Pferde. Eine leichte Brise wirbelte Sand wie Rauchwolken um ihre Knöchel, was Khalidah an eine Frage erinnerte, die sie beschäftigte, seit Sulayman ihr von Qaf erzählt hatte.

»Wenn die Dschinn menschlich sind«, sagte sie endlich, »woher rühren dann all diese Geschichten, die über sie im Umlauf sind - über ihre Fähigkeit, ihre Gestalt zu verändern, und über die mit Rauch gefüllten Flaschen, aus denen riesenhafte Geister entweichen, wenn sie entkorkt werden?«

»Danach habe ich nie gefragt«, entgegnete Sulayman. »Aber ich nehme an, sie stammen von den Dschinn selbst.«

»Willst du damit sagen, sie erfinden Legenden über sich selbst und verbreiten sie dann auf den Basaren?«

»Ich glaube nicht, dass sie das nötig haben. Wenn du zum Beispiel hier auf einen von ihnen treffen würdest, würdest du - vorausgesetzt, du überlebst die Begegnung, denn sie treten nur in Erscheinung, wenn sie töten wollen - von ihm nicht mehr sehen als eine Staubwolke von der Höhe eines Mannes zu Pferde. Bis diese Wolke sich verzogen hat, ist der Reiter längst verschwunden, und bis du die nächste Stadt erreichst, kann er sich in deiner Erinnerung sehr leicht in einen Dämonen aus Rauch verwandelt haben. Du erzählst anderen davon, und je länger diese Geschichte von Mund zu Mund geht, umso farbiger wird sie ausgeschmückt. Und wer sollte sie richtigstellen? Ganz sicher nicht die Dschinn selber, sie ziehen es vor, wenn die Leute sie fürchten und meiden.«

»Aber warum?«

Sulayman zuckte die Achseln. »Warum hält das Volk deines Vaters an seinem Land und seinen Traditionen fest?«

Khalidah seufzte. »Ich meine, wieso bevorzugen die Dschinn ein Leben in der Abgeschiedenheit? Du sagtest, sie sind große Krieger, aber was nutzt ihnen das? Für wen oder was kämpfen sie? Bestimmt nicht, um Qaf zu schützen - nicht, wenn es so abgelegen liegt, wie du sagst.«

Sulayman schüttelte den Kopf. »Qaf ist ihr Refugium, und sie haben dafür gesorgt, dass das auch so bleibt. Nein, die Dschinn sind hauptsächlich Mudschaheddin.«

»Aber es sind doch Ungläubige!«

»Vielleicht, aber sie verehren ihre eigenen Götter und kämpfen nur, wenn sie meinen, diese Götter würden es von ihnen verlangen.« Als er Khalidahs zweifelnde Miene sah, seufzte er. »Es ist schwierig,  das alles jemandem zu erklären, der die Dschinn nie kennen gelernt hat. Ich kann nur sagen, dass sie auf ihre Weise ebenso fromm sind wie du und im Grunde genommen stets nur für das Gute kämpfen.«

»Für das Gute?« Khalidah durchbohrte ihn mit einem durchdringenden Blick. »Und was soll denn Gutes daraus entstehen, dass du mich zu ihnen bringst?«

»Was wäre denn Gutes daraus entstanden, wenn du deinen Vetter geheiratet hättest?«

»Wenn ich je eine Ausflucht gehört habe, dann jetzt!«

Sulayman sah sie müde und ein wenig traurig an. »Seit ich Qaf zum ersten Mal gesehen habe, hat es in meinem Leben sehr viele Möglichkeiten und sehr wenig Sicherheit gegeben«, entgegnete er. »Ich finde all das auch äußerst seltsam, Khalidah, und ich weiß selbst nicht viel mehr als du. Aber eines steht fest: Dein Großvater ist ein guter und weiser Mann - der verzweifelt nach dir sucht.«

Khalidah sog zischend den Atem ein. »Nun gut, belassen wir es dabei.« Sie hielt einen Moment inne, dann fragte sie: »Woher hast du eigentlich gewusst, dass ich auf dich hören würde?«

»Bitte?«

»An dem Morgen, an dem du mich gebeten hast, in alles einzuwilligen, was man von mir verlangt - woher wusstest du, dass ich deinem Rat folgen würde? Ich hätte dich ja auch beschuldigen können, mich zu belästigen.«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Es war ein Schuss ins Blaue … oder eine große Dummheit, wenn man so will. Du hättest auch schreien oder in Ohnmacht fallen können.«

»Ich schreie nie«, gab Khalidah indigniert zurück. »Und ohnmächtig bin ich nur ein Mal in meinem Leben geworden, und das auch nur, weil Bilal und ich gewettet haben, ob wir den ganzen Tag laufen können, ohne etwas zu trinken.«

Sulayman lachte. »Nun, du hättest mich ja auch der Hexerei bezichtigen und meinen Kopf auf einem Silbertablett fordern können.«

»Warum bist du dann ein solches Risiko eingegangen?«

»Ich sagte doch schon - es ging um Leben und Tod.«

Und wenn ich gestorben wäre, hättest du Qaf verloren, dachte Khalidah mit einem Anflug von Enttäuschung, den sie sich selbst nicht erklären konnte. Um diesen Gedanken nicht weiter verfolgen zu müssen sagte sie: »Sulayman, würdest du mir einen Gefallen tun?«

Er hob die Brauen. Ein leises Lächeln spielte um seine Lippen. »Jeden, sofern es in meiner Macht steht.«

Khalidah funkelte ihn an. »Ich möchte, dass du mir Lesen und Schreiben beibringst.«

Sulayman sah sie überrascht an. »Damit habe ich nun nicht gerechnet.«

Khalidah überlegte, was er wohl erwartet hatte, mochte ihn aber nicht fragen. »Nun? Bringst du es mir bei?«

»Wenn du das willst?«

Sie wartete darauf, dass er anfing. Als er keine Anstalten dazu machte, deutete sie mit einem ungeduldigen Seufzer über die glutheiße Wüste hinweg. »Hast du andere Pläne für den Nachmittag?«

Seine Augen ruhten nachdenklich auf ihrem Gesicht. »Also gut.« Er brach zwei Zweige von einem verdorrten Busch ab, reichte ihr einen davon und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen neben sie. Dann glättete er den Sand vor ihnen mit einer Hand und zeichnete mit seinem Zweig ein Symbol hinein. »Das ist ’alif.« Er malte ein zweites Zeichen daneben. »Und das ba’a.«

Er ließ sie die Buchstaben mehrmals nachzeichnen und dabei den Namen laut wiederholen. So gingen sie das gesamte Alphabet mehrmals durch. Am Ende schwirrte Khalidah der Kopf, und sie war fast sicher, nie einen Sinn in dem Gewirr aus Symbolen und Lauten sehen zu können.

Als würde Sulayman spüren, wie entmutigt sie mit einem Mal war, glättete er den Sand erneut und schrieb ›Khalidah‹ hinein. »Das ist dein Name.«

Khalidah betrachtete ihren Namen im Sand eine lange Weile. Es war ein eigenartiges Gefühl, sich selbst dort zu sehen, wenn auch nur vorübergehend. Sie kopierte die Buchstaben sorgfältig, dabei murmelte sie jeden einzelnen vor sich hin.

»Und du?«, fragte sie, als sie fertig war.

Sulayman kratzte seinen eigenen Namen in den Sand. Khalidah schrieb ihn nach. »Sulayman«, flüsterte sie. »Khalidah, Sulayman.« Sie sah strahlend zu ihm auf, was ihm sein geisterhaftes Lächeln entlockte. Die Sonne stand hinter ihm am Nachmittagshimmel. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie viel Zeit vergangen war.

»Was ist mit ›Zahirah‹? ›Asifa‹? ›Bilal‹, ›Zeyneb‹ und ›Abd al-Aziz‹?«

Sulayman schüttelte lachend den Kopf. »Ich muss mich jetzt ausruhen, Khalidah, selbst wenn du keine Ruhe nötig hast. Lehren ist anstrengend.« Als er ihr niedergeschlagenes Gesicht sah, fügte er hinzu: »Keine Sorge. Du bist ein Naturtalent. Wenn wir Domat al-Jandal erreichen, wirst du den Namen der Stadt schreiben können, das verspreche ich dir.«

»Die Festungsstadt? Willst du dort Halt machen?«

»Wir werden Wasser und andere Vorräte brauchen, ehe wir nach Jassirah weiterreiten.«

Zu jeder anderen Zeit hätte Khalidah ihn mit Fragen überschüttet, denn sie war nie in Jassirah gewesen, hatte aber immer auch Bagdad sehen wollen, den Sitz des Kalifen. Doch im Moment konnte sie an nichts anderes denken als an das Wunder ihres Namens im Sand.

»Danke, Sulayman.« Sie deutete auf die Schriftzeichen. »Du weißt nicht, was das für mich bedeutet.«

Sulaymans Lächeln wurde breiter, und Khalidah stellte mit einem Mal fest, dass sie ihn nicht ansehen konnte.

Sie träumte, sie würde in Sulaymans Armen schlafen. Sie hielten einander eng umschlungen - nicht wie Liebende, sondern wie Zwillinge im Mutterleib: zwei zusammengehörende Seelen. In dem Augenblick zwischen Schlaf und Erwachen verspürte Khalidah einen nie gekannten Frieden. Dann schlug sie die Augen auf. Im fahlblauen Zwielicht sah sie, dass Sulayman sie betrachtete. Er sprach kein Wort, doch sie wusste, dass er ihr den Traum so deutlich vom Gesicht abgelesen hatte, als habe er ein aufgeschlagenes Buch vor sich. Einen Moment lang sahen sie sich an, dann rollte sich Khalidah von ihm weg.

Am ganzen Leib zitternd ging sie zu Zahirah und gab ihr mit getrockneter Kamelmilch versetztes Wasser, dann vergrub sie das Gesicht in der Mähne der Stute, während diese trank, und fragte sich, was der Traum wohl zu bedeuten hatte. Sie hatten einander nicht angerührt, und doch fühlte sie sich zutiefst gedemütigt. Sie machte sich grundlose Vorwürfe, und in ihren Eingeweiden tobte ein scharfer Schmerz, als wäre etwas in ihr zerrissen, als sie sich von ihm abgewandt hatte. Sie wollte etwas sagen, fand aber keine Worte. Also sattelten sie schweigend die Pferde und ritten schweigend in die Nacht hinaus. Erst viel später fiel Khalidah ein, dass sie vergessen hatte, ihre Gebete zu sprechen.

 

Wuestentochter
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