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»Also gut, Sulayman«, sagte Khalidah, als sie am späten Nachmittag zu der Klause zurückgingen. »Du hast mir eindrucksvoll demonstriert, wozu die Dschinn fähig sind. Aber ich begreife nicht, worin der Sinn einer solchen Kriegerausbildung liegt. Qaf ist nahezu unangreif bar, und abgesehen von den Pferden scheint es hier nicht viel zu geben, was sich zu schützen lohnt. Wozu brauchen sie dann eine Elitearmee?«
Sulayman seufzte. »Genauso gut könntest du fragen, warum die Dschinn überhaupt existieren.«
»Du hast mir versprochen, mir alles zu erklären, sobald wir hier sind«, erinnerte ihn Khalidah. »Und obwohl dieser Tag ausgesprochen interessant und lehrreich war, habe ich noch immer keine Ahnung, wer diese Leute eigentlich sind und was sie von mir wollen.«
»Heute Abend wirst du alles verstehen.«
»Hör auf, in Rätseln zu sprechen.«
»Das tue ich doch gar nicht. Aber glaub mir, im Laufe einer Festnacht der Dschinn erfährst du mehr über sie, als ich dir je erzählen könnte. Außerdem darfst du nicht vergessen, dass ich nicht sehr lange hier war. Du solltest ihnen die Gelegenheit geben, sich dir auf ihre Weise zu offenbaren.«
Ehe Khalidah etwas darauf erwidern konnte, rief jemand ihren Namen. Sie drehte sich um und sah Abi Gul mit ein paar anderen Mädchen auf sich zukommen. Alle waren schweißüberströmt, ihre weißen Gewänder mit Schlamm bespritzt und die Muster auf ihren Gesichtern verschmiert. Sie trugen gepolsterte Lederrüstungen und Metallhelme, hielten Bogen in den Händen, und in ihren Schärpen steckten kurze Schwerter. Nachdem sie gesehen hatte, wie diese Mädchen zu kämpfen verstanden, fühlte sich Khalidah in ihrer Gegenwart unsicher und gehemmt, doch sie registrierte erstaunt, dass sie ihrerseits die jungen Kriegerinnen einzuschüchtern schien. Nur Abi Gul wirkte so ruhig und gelassen wie immer.
»Du hast uns zugeschaut«, stellte sie fest. »Wie fällt dein Urteil aus?«
»Ich war zutiefst beeindruckt«, erwiderte Khalidah aufrichtig. »Ihr stellt selbst die ghuzat meines Vaters in den Schatten.«
Die Mädchen erröteten und begannen verlegen zu kichern. Abi Gul stellte sie Khalidah nacheinander vor. Ambrenn war hochgewachsen und hatte kastanienbraunes Haar; Hila war klein, kräftig, braunäugig und dunkelhäutig; Afshan rosig und und fröhlich und Shahascina eine exquisite Schönheit mit Haar, das so leuchtend gelb schimmerte wie das vieler Franken. Alle hatten goldene Augen, nur die Schattierungen variierten leicht.
»Und das ist Bibi Khalidah«, teilte Abi Gul ihren Freundinnen mit - überflüssigerweise, wie Khalidah fand. Die Mädchen hatten zweifellos bereits ausführlich über ihre Person und den Grund ihrer Anwesenheit hier getuschelt.
»Komm mit uns.« Abi Gul griff nach ihrer Hand. »Es wird Zeit, wir müssen uns fertig machen.«
»Was ist mit Sulayman?« Bei der Vorstellung, mit diesen Mädchen allein gelassen zu werden, wurde Khalidah von Panik erfasst. Unter den Angehörigen ihres Stammes hatte sie nie eine Frau zur Freundin gehabt, und nach ihrer monatelangen gemeinsamen Reise versetzte sie der Gedanke, sich - wenn auch nur vorübergehend - von Sulayman trennen zu müssen, in Angst und Schrecken.
»Geh nur mit ihnen«, beruhigte er sie. »Ich bleibe in deiner Nähe.« Er wandte sich ab, und so entgingen ihm die viel sagenden Blicke, die die Mädchen wechselten. Doch Khalidah bemerkte sie sehr wohl und senkte den Kopf, weil ihre Wangen vor Scham zu brennen begannen.
Abi Gul, die ihr über ihre Verlegenheit hinweghelfen wollte, zog sie mit sanftem Nachdruck in Richtung des Schlafsaals. »Wer würde nicht gern solche Worte aus dem Mund eines solchen Mannes hören?«, meinte sie trocken, woraufhin erneut unterdrücktes Gekicher erklang.
»Es ist nicht so, wie du denkst …«, begann Khalidah, doch als Abi Gul die Brauen hochzog, verzichtete sie auf weitere Proteste. Schließlich kam das, was alle vermuteten, der Wahrheit sehr nah.
Seufzend folgte sie ihr in den Schlafsaal, der jetzt von Mädchen im Alter zwischen zwölf und sechzehn wimmelte. Khalidah hatte am Morgen fünfundzwanzig Betten gezählt. Auf dem Übungsfeld hatten jedoch ungefähr doppelt so viele angehende Kriegerinnen trainiert.
»Wo sind denn die anderen?«, fragte sie Abi Gul, die ihre Ausrüstung in einer Nische neben der Tür verstaute.
»Dies ist nicht der einzige Schlafsaal.« Abi Gul wischte ihr Schwert sorgsam ab, ehe sie es in die Scheide schob und es an einen Haken an der Wand hängte. Khalidah bemerkte, dass ihre eigene Waffe neben ihrem Sattel, ihren Taschen und ihrer Reisekleidung in einer Ecke stand. Alles war gründlich gesäubert worden. Von wem?, fragte sie sich. War es eine lästige Pflicht oder eine Ehre?
»Insgesamt gibt es vier«, fuhr Abi Gul fort. »Zwei für die Mädchen und zwei für die Jungen. Wir leben bei unseren Familien, bis wir zwölf Jahre alt sind, dann kommen wir hierher.« Khalidah folgte ihr zu einem der Betten, wo Abi Gul sich auszukleiden begann. »Vier Jahre lang bleiben wir hier und widmen uns einzig und allein unserer Ausbildung. Es ist die einzige Zeit in unserem Leben, wo wir nicht auf den Feldern helfen oder die Herden hüten oder uns sonstwie nützlich machen müssen.«
Sie streifte ein langes Kleidungsstück aus feiner Seide über den Kopf, warf es auf das Bett und stand dann zu Khalidahs äußerster Verlegenheit splitternackt da und legte einen Finger auf die Lippen, als überlege sie, was jetzt als Nächstes zu tun sei. Endlich griff sie nach einem wollenen Gewand, schlüpfte hinein und schlang sich ihre Schärpe um die Taille.
»Wenn wir sechzehn werden«, schloss sie, »werden wir in unsere erste Schlacht geschickt. Wenn wir mutig und ehrenhaft kämpfen - und wenn wir zurückkehren -, dann sind wir Dschinn.«
»Und was seid ihr bis dahin?«, erkundigte sich Khalidah.
Abi Gul zuckte die Achseln. »Kinder.«
Khalidah dachte darüber nach. Obgleich sie sich aufgrund ihres unverheirateten Status in einer Art Übergangsphase befunden hatte, war sie von ihrem Stamm als Frau betrachtet worden, seit bei ihr im Alter von zwölf Jahren die Monatsblutung eingesetzt hatte. Als sie Wadi Tawil verlassen hatte, hatten viele ihrer Altersgenossinnen schon zwei Kinder gehabt, und wenn sie ein Junge gewesen wäre, hätte sie bereits als erfahrener ghazi gegolten. Sie versuchte sich auszumalen, was es hieß, sein ganzes Leben an ein und demselben Ort zu verbringen und ihn zum ersten Mal nur zu dem Zweck zu verlassen, in den Kampf zu ziehen. Es musste einen ungeheuren Mut erfordern; einen Mut, von dem sie nicht wusste, ob sie selbst ihn aufbringen könnte.
»Du bist ja noch angezogen!«, rief Abi Gul erschrocken. Sie griff nach einem anderen Gewand, das an einem Haken neben dem Nachbarbett hing, und reichte es Khalidah. »Komm, sonst haben wir keine Zeit mehr, dein Haar zu waschen.«
Als Khalidah sich umsah, stellte sie fest, dass der Schlafsaal inzwischen fast leer war. Sie entkleidete sich hastig, hüllte sich in ihr Gewand und schloss sich den anderen an. Die Mädchen strömten hügelabwärts auf ein großes Holzgebäude am Flussufer zu. Aus einem Loch in dem Dach entwichen Rauchwolken. Das Innere war mit Dampf und lachenden, miteinander schwatzenden Mädchen gefüllt. Ihre Kleider hingen an Haken in der Nähe des Eingangs, und sie quiekten und kicherten, während sie sich selbst oder sich gegenseitig die Haare wuschen. Das offenbar vom Fluss hergeleitete Wasser floss durch eine breite Rinne, die sich an der Wand des Gebäudes entlangzog und dann durch eine Öffnung an der anderen Seite wieder ins Freie plätscherte. Ältere, nur mit Leinenhemden bekleidete Frauen erhitzten über einem Feuer in der Mitte des Raumes Wasser in großen Kesseln und schöpften es in die Schalen und Krüge, die die Mädchen ihnen hinhielten.
Khalidah hatte bislang mit niemandem außer Zeyneb zusammen gebadet und wand sich angesichts der Vorstellung, sich vor all diesen fremden Frauen entkleiden zu müssen, innerlich vor Scham, was Abi Gul zu spüren schien, denn sie führte sie zu einer ruhigen Ecke, wo sich Ambrenn und Hila eine Wasserschüssel teilten. »Ich hole mehr«, erbot sich Abi Gul, wandte sich ab und überließ Khalidah der Obhut ihrer Freundinnen.
Hila lächelte ihr freundlich zu, Ambrenn nickte nur stumm. Khalidah konnte nicht sagen, ob sie hochnäsig oder einfach nur schüchtern war, beschloss aber, kein vorschnelles Urteil zu fällen, sondern erst einmal abzuwarten. Sie schenkte dem Mädchen ein breites Lächeln, das diese unsicher zurückgab. Also doch nur schüchtern, entschied Khalidah. Diese Erkenntnis machte ihr Mut, sie streifte ihr Gewand ab und hängte es zu den anderen an die Wand. Als sie sich wieder umdrehte, hielt ihr Ambrenn ein Stück Seife hin.
»Wasch dich mit kaltem Wasser«, sagte sie in einem weniger fließenden und stärker akzentbehafteten Arabisch als dem von Abi Gul. »Und spül dich dann mit warmem ab.«
Khalidah nahm die Seife entgegen und ging zu der Rinne mit dem fließenden Wasser hinüber. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann ein Bad zum letzten Mal ausgiebiger gewesen war als ein rasches Eintauchen in einen eisigen Fluss, und von Seife hatte sie nur träumen können. Also kostete sie den ungewohnten Luxus wonnevoll aus, wusch sich von Kopf bis Fuß und versuchte gerade ohne Erfolg, ihr Haar mit kaltem Wasser auszuspülen, als sich Abi Gul zu ihr gesellte.
»So geht das nicht.« Sie füllte einen Krug halb mit dem heißen Wasser, das sie mitgebracht hatte, und mischte es mit kaltem, bevor sie es über Khalidahs Kopf goss. Das wiederholte sie, bis Khalidahs Haar sauber ausgespült war und das Seifenwasser in den Ritzen des Holzbodens versickerte.
Als sie fertig war, hatte sich Khalidah schon fast an ihre Nacktheit gewöhnt und lauschte Hilas und Ambrenns Unterhaltung, während sie ihr zerzaustes Haar mit einem Kamm entwirrte. Die beiden Mädchen sprachen Paschtu, und je länger sie ihnen zuhörte, desto stärker wurde ihr Gefühl, dass etwas lange Vergessenes wie eine vage Erinnerung an die Oberfläche ihres Bewusstseins drängte. Ein oder zwei Worte schienen die Basis dieses Gespräches zu bilden, und als Abi Gul triefnass und fröstelnd von dem Kaltwasserbecken zurückkam, fragte Khalidah sie nach der Bedeutung dessen, was sie aufgeschnappt hatte. Zur Antwort brach Abi Gul in schallendes Gelächter aus. Sie sagte etwas in raschem Paschtu, woraufhin Hila gleichfalls zu prusten begann, Ambrenn rot anlief und Khalidah sich fragte, was sie denn so Furchtbares gesagt hatte.
»Ich habe ihnen geraten, in deiner Gegenwart darauf zu achten, was sie sagen«, erklärte Abi Gul. »Du hast anscheinend ein gutes Ohr für unsere Sprache. Aghundem heißt ›etwas anziehen‹ und meerre bedeutet wörtlich übersetzt ›Krieger‹, aber in diesem Fall auch ›Gemahl‹. Meine Freundinnen überlegen, wie sie sich heute Abend möglichst vorteilhaft zurechtmachen können, um das Interesse eines potenziellen Ehemannes auf sich zu lenken.«
Die beiden anderen Mädchen erhoben lautstarke Einwände. »Sie muss uns ja für hirnlose Gänse halten!«, empörte sich Hila.
»Ich habe mich mit meinen eigenen Augen davon überzeugen können, dass das ganz und gar nicht zutrifft«, erwiderte Khalidah.
Hila neigte dankend den Kopf und fuhr fort: »Es stimmt, wir haben über die Kleider gesprochen, die wir heute Abend tragen wollen. Ich glaube, es gibt hier kein einziges Mädchen, das nicht darüber spricht - immerhin waren unsere Mütter den ganzen letzten Monat damit beschäftigt, sie für uns anzufertigen.«
»Dann wärt ihr undankbare Töchter, wenn ihr nicht ein wenig damit prahlen würdet.« Khalidah dachte mit plötzlicher Wehmut an das rote Seidengewand, das Zeyneb ihr für ihre Hochzeit geschneidert hatte. Sie fragte sich, was wohl daraus geworden war, verbot sich diese fruchtlosen Überlegungen aber sofort, weil sie ihr nichts als unnötigen Kummer bereiten würden.
»Und dass wir es darauf anlegen, die Augen möglicher Heiratskandidaten auf uns zu lenken, ist auch nur die halbe Wahrheit, wie Abi Gul sehr wohl weiß.« Hila bespritzte ihre Freundin mit Wasser. »Während des psarlay werden die Verlobungen offiziell bekannt gegeben. Und obwohl alle so tun, als kämen diese Neuigkeiten für sie völlig überraschend, wissen sie in Wirklichkeit schon seit Monaten Bescheid … oder wie in Ambrenns Fall seit Jahren.« Sie grinste, Abi Gul kicherte, und die arme Ambrenn errötete noch tiefer.
»Du wist also heiraten?«, sagte Khalidah weich, fragte sich dabei aber, ob jetzt Glückwünsche oder Beileidsbekundungen angebracht waren.
Ambrenn sah zu ihr auf. Ihre leuchtenden Augen und rosigen Wangen verrieten Khalidah, dass Ersteres der Fall war. »Ja«, hauchte sie. »Wenn wir beide aus unserer ersten Schlacht zurückkehren.«
»Was heißt, dass sie und Mirzal sich ihre Keuschheit noch eine Weile bewahren müssen«, neckte Hila sie.
»Woher willst du denn wissen, dass sie keusch geblieben sind?«, gluckste Abi Gul.
»Daran besteht ja wohl kein Zweifel«, gab Hila zurück. »Ambrenn ist zu gut erzogen, um irgendwelche diesbezüglichen Andeutungen zu machen und Mirzal zu weltentrückt, um selbst die Initiative zu ergreifen.« Sie und Abi Gul erstickten fast an unterdrücktem Gelächter, woraufhin sich Ambrenn erhob, ihr Gewand um sich schlang und davonrauschte. Die anderen beiden Mädchen wurden augenblicklich ernst.
»Oh je, jetzt werden wir zu Kreuze kriechen müssen«, seufzte Abi Gul. »Dabei sollte sie mittlerweile doch wirklich wissen, dass wir sie nur aus Neid so aufziehen.«
»Dann ist keine von euch beiden verlobt?« Khalidah hoffte inständig, mit dieser Frage nicht die Grenzen der Schicklichkeit überschritten zu haben.
Abi Gul schüttelte den Kopf. »Wir sind alle noch frei wie die Vögel … obwohl das Gerücht umgeht, dass Sarbaz beim psarlay um Shahascina anhalten will. Er läuft ihr ja wirklich schon lange genug nach, aber sie lässt ihn zappeln … nun, wir werden ja sehen. Kommt jetzt, wir sollten sehen, dass wir uns bei Ambrenn entschuldigen, ehe sie so eingeschnappt ist, dass sie uns das Fest verdirbt.« Die drei jungen Frauen streiften ihre Gewänder über, sammelten ihre Habseligkeiten zusammen und kehrten zum Schlafsaal zurück.
Hier herrschte jetzt erstaunlicherweise Ruhe und Ordnung, wofür Khalidahs Meinung zufolge die ältere Frau verantwortlich war, die in der Mitte des Raumes kauerte und das Feuer schürte. Sie mochte Anfang zwanzig sein, war groß und schlank und hatte blauschwarz schimmerndes, zu Zöpfen geflochtenes Haar und eine auffallend weiße Haut. Abi Gul führte Khalidah zu ihr und stellte sie ihr vor.
»Zhalai, dies ist Bibi Khalidah. Bibi Khalidah, das ist Zhalai, unsere mor - also Mutter.«
Zhalai verbeugte sich lächelnd vor Khalidah, und als sie deren Verwirrung bemerkte, erklärte sie: »Mor ist ein relativer Begriff. Ich beaufsichtige die Mädchen in diesem Schlafsaal für die Zeit, die sie hier leben, übernehme also sozusagen die Pflichten ihrer eigenen Mütter. Daher bin ich so etwas wie eine Ehrenmutter für sie - und es ist mir eine Ehre, dass du in meinem Haus wohnst, Bibi Khalidah.« Wieder verneigte sie sich, und diesmal besann sich Khalidah auf ihre Manieren und erwiderte die Höflichkeitsbezeugung. Zhalai musterte sie forschend. »Ich hoffe, Abi Gul kümmert sich gut um dich?«
»Oh ja«, bestätigte Khalidah. »Vielen Dank.«
»Dank nicht uns.« Zhalais Gesicht wurde plötzlich ernst. Sie holte Luft, als wolle sie noch etwas hinzufügen, besann sich dann aber und bedachte Khalidah nur mit einem eigenartigen Blick von der Art, den sie an diesem Tag schon von mehreren Angehörigen des Volkes ihrer Mutter aufgefangen hatte. Es flößte ihr Unbehagen ein, dass diese Leute anscheinend irgendetwas von ihr erwarteten, worum sie nicht geradeheraus zu bitten wagten. »Du solltest dich jetzt fertig machen«, sagte Zhalai endlich und widmete sich wieder ihrem Feuer.
Khalidah wollte Abi Gul fragen, was das alles zu bedeuten hatte, aber das Mädchen war - vielleicht um genau dieser Frage auszuweichen - in einen Wortschwall ausgebrochen. »Dein Kleid liegt auf deinem Bett«, erklärte sie gerade. »Wenn du es angezogen hast, helfe ich dir mit dem Rest.«
Khalidah nickte. Erst jetzt bemerkte sie, dass jemand auf ihrem Lager ein weiteres weißes Wollgewand ausgebreitet hatte, das feiner gewoben und weitaus kunstvoller bestickt war als das, was sie trug. Als sie es überstreifte, fragte sie sich, wer diese Gewänder wohl für sie angefertigt hatte, sie saßen perfekt und machten nicht den Eindruck, als handele es sich um die abgelegten Kleider anderer Frauen. Doch ehe sie weiter über dieses neue Rätsel nachgrübeln konnte, zückte Abi Gul einen Kamm und bat Khalidah, sich zu setzen, damit sie sie frisieren konnte. Diesmal flocht sie Bänder und Kaurimuscheln in die Zöpfe, und als sie fertig war, förderte sie einen dunkelblauen, mit Pferdefiguren bestickten Schal zu Tage.
»Er ist wunderschön.« Khalidah fuhr bewundernd mit dem Finger über die feinen Stiche. »Wer war denn die Künstlerin?«
Abi Gul schwieg darauf, aber das Blut, das ihr in die Wangen stieg und die mit Stolz gepaarte Verlegenheit in ihren Augen waren für Khalidah Antwort genug. Gerührt sagte sie: »Vielen Dank, Abi Gul … ich hoffe, es kränkt dich nicht, wenn ich dich frage, wie du darauf gekommen bist …«
»Wir wussten schon lange, dass du zu uns kommen würdest, Khalidah bint Brekhna«, unterbrach Abi Gul sie, griff nach einem Tiegel mit kohl und einem Pinsel und begann Khalidahs Augen schwarz zu umranden. »Ist es dir unangenehm, wenn ich das sage?«
Die Antwort kam für Khalidah ebenso unerwartet, aber nicht überraschend wie der Umstand, dass sie bestimmte Paschtu-Worte verstand. »Wie könnte es - nachdem ihr mich so herzlich aufgenommen habt«, gab sie zurück.
»Eines würde mich wirklich interessieren.« Abi Gul hielt mit ihrem Tun inne, der Pinsel verharrte reglos in der Luft. »Wie hat Sulayman dich dazu gebracht, mit ihm zu gehen?«
Khalidah, die mit einer solchen Frage schon lange gerechnet hatte, holte tief Atem, dann erzählte sie von ihrer kurzen Verlobung mit ihrem Vetter, Sulaymans Warnung und ihrer darauf folgenden Flucht. Abi Gul lauschte mit einer Mischung aus Belustigung und Ehrfurcht, und als Khalidah zum Ende kam, stellte sie nur sachlich fest: »Da zeigt sich dein Dschinn-Blut.« Dann stellte sie den kohl-Tiegel beiseite und holte ein anderes Schälchen und einen zweiten Pinsel, der nur aus einigen wenigen Haaren zu bestehen schien.
»Was ist das?« Khalidah musterte den Inhalt der Schale argwöhnisch.
»Farbe. Sie wird aus … ach, mir fällt das arabische Wort nicht ein … aus tut gemacht, wie wir sagen.«
»Aus Maulbeeren«, entfuhr es Khalidah.
Abi Gul nickte überrascht. »Ja, aus Maulbeeren … aber woher wusstest du das?«
»Ich habe darüber nachgedacht, seit Sulayman mir erzählt hat, dass ich in dem Traum in meiner ersten Nacht hier Paschtu gesprochen habe - ich glaube, meine Mutter muss es vor langer, langer Zeit mit mir gesprochen haben und ich vielleicht auch mit ihr, oder ich habe es zumindest verstanden. Und seit ich hier bin, kommen einige Worte nach und nach zurück.«
Abi Gul nickte. »Das ergibt einen Sinn. Vielleicht lernst du es ja schnell wieder. Wie dem auch sei … diese Tinte wird aus tut hergestellt, und wir malen uns damit die harquus auf unsere Gesichter.« Sie begann, ein Muster auf Khalidahs Stirn zu zeichnen. »Wenn wir aus unserer ersten Schlacht zurückkehren«, fuhr sie fort, »erhalten wir die eigentlichen harquus, die Zeichen der Dschinn. Damit werden wir vollwertige Mitglieder des Stammes.«
»Bei den Männern habe ich solche Zeichen aber nicht gesehen.«
»Sie tragen sie auf dem Rücken.«
»Warum?«
»Warum nicht?«
Darauf fiel Khalidah keine Antwort ein. Sie saß schweigend da und hing ihren Gedanken nach, bis Abi Gul mit ihrem Werk fertig war und ihr einen Spiegel hinhielt. Sie hatte Khalidahs Stirn mit einem Dreieck aus filigranen Ranken und ihre Wangen mit kleinen Mandalas verziert. Zu ihrer beiderseitigen Überraschung beugte sich Khalidah vor und umarmte sie.
»Ich bin froh, bei euch zu sein«, flüsterte sie.
»Und wir sind froh, dich hier zu haben«, erwiderte Abi Gul weich.