64.
Mit dem Rücken an der Wand saß Michael auf dem Fußboden, direkt unter der einsamen Fackel, deren Lichtschein auf die Berge von Gold und die gewaltigen Stapel Bücher fiel. Seine Hände hatte man ihm im Rücken gefesselt, und er versuchte unablässig, sich von den Kabeln zu befreien. Venue, Iblis und KC standen da und starrten einander an.
»Ich habe nicht die Zeit, mich mit dir zu befassen«, sagte Venue in herablassendem Tonfall. »Du bist genauso dumm wie deine Mutter. Du hättest am Leben bleiben können, aber du bist zurückgekommen. Dafür?« Venue zeigte mit dem Finger auf den am Boden sitzenden Michael.
»Meine Mutter war alles andere als dumm. Sie hat dich gehasst.«
»Ich weiß.« Venue schenkte ihr ein eisiges Grinsen. »Und weißt du auch, warum?«
KC antwortete nicht.
»Sie hat mich gehasst, weil ich war, was ich war: ein Verbrecher. Sie konnte nicht damit fertig werden, dass sie mich trotzdem liebte. Sie hat sich Sorgen gemacht, ich könnte einen schlechten Einfluss auf euch ausüben. Ironie des Schicksals, nicht wahr?«
KC schloss die Augen, als könne sie damit erreichen, auch nichts mehr hören zu müssen.
»Was meinst du wohl, was deine Mutter davon halten würde, wenn sie wüsste, was aus dir geworden ist, Schätzchen?«
»Sie hat dich nie geliebt«, sagte KC mit gequälter Stimme.
»Eltern reden mit ihren Kindern nur selten über ihre Gefühle und über das, was sie wirklich empfinden.«
»Sie wollte nichts mit dir zu tun haben.«
»Von wegen. Deine Mutter wollte unbedingt mit mir zusammen sein. Sie ist mir hinterhergelaufen. Das willst du bloß nicht wahrhaben. Ihr Geisteszustand war nicht der stabilste, KC. Ich habe sie nie wirklich geliebt, wie auch? Sie war einfach nur gut im Bett, und daraus bist du dann entstanden. Du warst bloß die Folge einer Runde Bumsen im Heu im volltrunkenen Zustand. Hat sie dir das nie erzählt?«
KCs Augen nahmen einen leidenden Ausdruck an.
»Das hätte ich mir denken können. Zum Teufel, ich habe sie erst geheiratet, als ich bereits im Gefängnis saß. Und ich habe es nur getan, weil Eheleuten im Knast erlaubt wird, in regelmäßigen Abständen Sex zu haben.«
»Du bist verabscheuungswürdig«, brach es aus KC heraus. »Ich schäme mich, dass dein Blut in meinen Adern fließt.«
Venue antwortete gedehnt und boshaft: »Es wird mir ein Vergnügen sein, dem Abhilfe zu schaffen.«
»Ich danke Gott, dass sie dachte, du wärst tot.«
»Von wegen! Sie gehörte zu den wenigen Menschen, die wussten, dass ich noch am Leben war. Deine Mutter hatte herausgefunden, dass ich nach meinem Ausbruch aus dem Gefängnis meinen Tod nur vorgetäuscht und die Leiche eines anderen als meine eigene ausgegeben hatte. Sie wusste, dass ich am Leben war. Und dann hat sie in einer Zeitung mein Bild gesehen, mich erkannt und ist zu mir gekommen – wegen Geld. Sie hat mir gedroht, mich zu verraten, wenn ich nicht zahle. Also habe ich ihr einen Besuch abgestattet.« Venue hielt einen Moment inne, um seine Worte einwirken zu lassen. »Sie ist nicht von dem Dach gesprungen«, sagte er dann. »Ich habe sie hinuntergestoßen, KC. Doch bevor sie in den Tod gestürzt ist, habe ich ihr etwas mit auf den Weg gegeben. Ich habe ihr etwas gesagt, das sie sogar noch nach ihrem Tod ängstigen würde. Ich sagte ihr, dass ich ihre Töchter – unsere Töchter – eines Tages töten würde.« Venue hielt inne, um seine Worte einwirken zu lassen und das Erzählte zu genießen. »Aber hinterher«, fuhr er dann fort, »nachdem sie tot war, ist mir dann noch etwas Besseres eingefallen. Was, wenn ich euch zu dem machen würde, was sie am meisten gehasst hatte? Die Ironie dieses Schicksals war einfach zu verlockend. Ich hoffe, dass sie weiß, dass du dich zu all dem entwickelt hast, was sie nicht ausstehen konnte, dass du genau wie ich eine Kriminelle geworden bist.«
Tränen der Wut schossen KC in die Augen. Dieser Mann, diese Bestie, die vor ihr stand, hatte ihre Mutter umgebracht und hatte ihnen alles genommen, was sie gehabt hatten. Er hatte sie, KC, zu dem gemacht, was sie war. Ihr ganzes Leben war das Ergebnis von Venues Manipulationen: die verlorene Mutter, die verlorene Kindheit, die verlorene Schwester. Und in dem Moment, da Michael im Begriff war, in ihrer Welt alles wieder gut zu machen, erschien Venue, um ihr alles wieder zu nehmen.
Venue ging zu Iblis hinüber und zog ihm seine Pistole aus dem Schulterholster. Er hob die Waffe und zielte auf KCs Kopf.
»Du hast mir bereits alles genommen«, rief KC ihm herausfordernd zu. »Also los, nimm mir auch noch das Leben.«
»Verdammt noch mal!«, brüllte Michael. »Lass sie in Frieden!«
Venue stand einen Augenblick da. Er wirkte unschlüssig. Dann grinste er plötzlich und richtete die Waffe auf Michael. »Ich habe dir nicht alles genommen, KC. Noch nicht.«
KC stellte sich vor Michael. »Wage es ja nicht«, zischte sie. »Das hier geht allein dich und mich etwas an.«
»Genau. Du wolltest verhindern, dass ich bekomme, was ich haben wollte. Jetzt werde ich dafür sorgen, dass du nicht bekommst, was du haben willst.«
Iblis stand neben Venue und beobachtete die Schlacht, die KC und Venue sich lieferten. Sein Blick glitt zwischen den beiden hin und her.
»KC! Nein!« Michael schrie auf und versuchte, sich von seinen Fesseln loszureißen, trat mit den Füßen, wand sich auf dem Boden. »Du Hurensohn! Du kannst doch nicht deine eigene Tochter töten!«
»Du meinst, ich würde es nicht über mich bringen? Da irrst du dich.«
Venue zielte auf KCs Herz und drückte ab.
Iblis stürzte sich auf Venue, als der Schuss losging, dessen Krachen von den Wänden der Höhle widerhallte.
KCs Augen weiteten sich, während Iblis Venue die Waffe aus der Hand riss und in die Dunkelheit schleuderte. Dann brach KC zusammen.
Augenblicke später schlug auch Iblis’ Körper auf dem Boden auf. Blut tränkte sein Hemd. Zum allgemeinen Entsetzen war er von der Kugel getroffen worden, die für KC bestimmt gewesen war.
Venue starrte hinunter auf seinen Partner, seinen Lakaien und persönlichen Auftragsmörder. Zuerst schien er verwirrt; dann brach er in lautes Gelächter aus.
Iblis starrte zu ihm hinauf. Hass loderte in seinen gespenstisch hellen Augen.
»Du hast dich in sie verliebt«, sagte Venue lachend und beugte sich über ihn. »Habe ich recht? Als ich dich losgeschickt habe, sie zu unterrichten, während all dieser Jahre, als du sie ausgebildet hast …« Wieder lachte Venue. Doch plötzlich verließ ihn der Humor, als ihm etwas klar wurde. »Du hast dem Vatikan den Tipp gegeben, nicht wahr? Deshalb wusste St. Pierre, wo sie war. Deshalb konnte sie aus dem Gefängnis entkommen.«
Iblis schwieg, starrte weiterhin zu Venue empor.
»Du liebst sie. Aber du musst verrückt sein, wenn du glaubst, eine Frau wie sie könne jemanden wie dich lieben«, spottete Venue. »Dass überhaupt ein Mensch jemanden wie dich lieben könnte.«
KC blickte auf Iblis, der sie aus erlöschenden Augen anschaute, trat einen Schritt zurück und sank langsam auf die Knie. Sie fühlte sich wie betäubt, während sie beobachtete, wie Iblis starb, und lehnte sich schließlich gegen Michael, eine schlichte Geste, mit der sie die Liebe bekundete, die sie für Michael empfand und die zugleich zeigte, dass sie niemals Gefühle für Iblis hegen könnte.
»Und für die hast du dein Leben geopfert?«, höhnte Venue und beobachtete, wie das Leben aus Iblis’ Körper strömte. »Du wirst sterben, bevor ich die Chance bekomme, dich für deinen Verrat zu bestrafen.«
Die beiden Wachhunde standen wie gelähmt da und starrten auf ihren sterbenden Boss. Im nächsten Moment hoben sie ihre Gewehre und richteten sie auf Venue.
»Seht ihr das Gold da?«, fragte Venue gelassen und blickte vom einen zum anderen. »Lasst mich am Leben, und ihr dürft den Anteil behalten, der Iblis zugestanden hätte.«
Die Loyalität der beiden Männer erwies sich als preiswert. Sie grinsten und bekundeten ihr Einverständnis, indem sie ihre Waffen senkten.
Venue trat in den Türrahmen und sah sich in der Höhle um. Dabei fiel sein Blick auf die heißen, brodelnden Tümpel gleich neben der Tür. Er grinste. »Ich habe das perfekte Abschiedsgeschenk«, sagte er, kam wieder in die Kammer, holte sich den goldenen Kelch, den er unlängst in Augenschein genommen hatte, und ging damit zu einem der Tümpel aus kochend heißem Wasser und Schlamm. Er tauchte den Kelch vorsichtig hinein, hielt ihn nur am juwelenbesetzten Stiel fest und füllte das Gefäß bis zum Rand.
»Das passt wunderbar zu diesem Ort. Bevor du stirbst«, Venue kehrte in die Kammer zurück, baute sich vor Iblis auf und hielt den Kelch in die Höhe, »taufe ich dich im Namen der Finsternis und im Namen von Schmerz und Leid, denn sie sind das Einzige, was dir von heute an bis in alle Ewigkeit beschert sein wird.«
Venue schüttete Iblis den siedend heißen Brei ins Gesicht. Er ergoss sich über seine linke Gesichtshälfte, zischte, als er mit Iblis’ makelloser Haut in Berührung kam, dampfte und tropfte zur Seite weg, bis die graue Schmiere die gesamte Gesichtshälfte bedeckte und der Gestank von kochendem Fleisch die Luft erfüllte.
Iblis riss die Augen auf und stieß einen stummen Schrei aus, während er sich auf dem Boden wälzte und mit den Händen nach seinem schmelzenden Fleisch griff.
»Auf dass die letzten Augenblicke deines Lebens die reine Agonie sein mögen!«, rief Venue.
Ein Ruck ging durch Iblis’ Körper. Im nächsten Moment lag er steif und regungslos da.
Venue drehte sich zu Michael und KC um, die mit dem Rücken vor der Wand unter der einsamen Fackel kauerten, die mit flackernder Flamme das grausame Schauspiel und den Schatz erhellten.
»Keine weiteren Mätzchen mehr«, sagte Venue, schaute die beiden Wachhunde an und zeigte mit den Fingern auf Michael und KC. »Tötet sie.«
***
In dem Durcheinander, das entstand, als Iblis von der Kugel getroffen wurde, bekam niemand mit, dass Michael das Feuerzeug aus seiner hinteren Hosentasche zog – Silvius’ Wegwerffeuerzeug, wie man es überall für neunundneunzig Cents kaufen konnte. Nun hielt Michael es hinter dem Rücken in seinen gefesselten Händen. Und noch etwas anderes fiel niemandem auf: Der dünne graue Streifen Segeltuch, der von seiner Struktur und Farbe nicht von der Wand der Kammer zu unterscheiden war und vom Fußboden bis zur Fackel über ihren Köpfen reichte.
Die Armen auf dem Rücken, knipste Michael das Feuerzeug an und presste seinen Körper gegen die Wand.
Die kleine Flamme erfasste den unteren Zipfel der provisorischen Zündschnur. Sofort fing der Stoffstreifen Feuer, das sich die Wand und am Griff der Fackel emporarbeitete. Mit einem lauten Krachen explodierte der obere Teil der Fackel und löschte die Flamme.
Schlagartig wurde es stockdunkel in der Höhle.
Michael hatte den Stoffstreifen von einem der Segel abgeschnitten, ihn auf ganzer Länge mit dem Schießpulver von zwölf Kugeln bestreut, den Stoff dann zusammengerollt und damit eine Zündschnur hergestellt. Er hatte sie mit Pech versiegelt, das von den Fackeln stammte, und ebenfalls Pech benutzt, um die provisorische Zündschnur an der Wand und an der Fackel zu befestigen. Genau unter der Fackelflamme brachte er einen kleinen Sprengsatz an, der aus dem Schießpulver von sechs Pistolenkugeln bestand.
KC tastete nach der Taschenlampe, die an Michaels Gürtel klemmte.
Er griff nach ihrer Hand. »Kein Licht«, sagte er.
»Aber …«
»Halt dich an mir fest«, flüsterte Michael ihr ins Ohr.
»Warum?«
»Hör nicht auf die Stimmen.«
»Was?« KC war völlig verwirrt.
***
KC versuchte mit aller Macht, die Phobie ihrer Kindheit zu verdrängen, die Furcht vor der Dunkelheit, jedoch vergeblich. Sie verspürte die gleiche Angst wie in der Zisterne in Istanbul, presste den Kopf gegen Michaels Schulter und schlang die Arme um seinen Oberkörper.
Als die Dunkelheit KC verschluckte, überfiel sie Panik. Die boshaften Stimmen sämtlicher Urängste flüsterten ihr ins Ohr. Die Furcht vor der Finsternis, die sie seit ihrer Kindheit gepeinigt hatte, kam zurück und wurde schlimmer denn je. Denn dieses Mal war es nicht ihre Fantasie, die ihr einen Streich spielte. Die Schatten dieser Finsternis waren echt.
Michael konnte spüren, wie KC zu zittern begann.
»O Gott«, hauchte sie mit vor Angst bebender Stimme.
Michael kannte das Gefühl des Wahnsinns, das sich ihrer bemächtigte. »Hör nicht auf das, was dein Verstand dir vorgaukelt, hör mit deinem Herzen«, flüsterte er. »Du hast mich gerettet. Ich verspreche dir, dass ich diesmal dich retten werde.«
Im gleichen Moment erklangen auch in Michaels Kopf die Stimmen. Sie begannen mit einem Fauchen, kratzig und harsch, wie Kreide auf einer Schiefertafel, und ergriffen Besitz von seinem Verstand, während er versuchte, KC festzuhalten. Bald darauf verstummte der Lärm, und Michael konnte das Pochen ihrer beider Herzen spüren, die im Gleichtakt schlugen.
Plötzlich aber erklangen die Stimmen wieder und wurden zu lauten Rufen, das sich zu wildem Kreischen und gellenden Schreien steigerte, in denen Entsetzen mitschwang. Und diesmal bildete Michael sich die Schreie nicht ein; sie waren echt. Die Wachhunde stießen sie aus, als sie verzweifelt versuchten, nicht den Verstand zu verlieren.
Dann fielen Schüsse. Das Krachen war in der Enge ohrenbetäubend laut. Michael warf sich auf KC, schützte sie mit seinem Körper und drückte sie gegen die Wand, wobei er jeden Muskel seines Körpers spannte, weil er damit rechnete, getroffen zu werden. Jedem Schuss folgte das ekelerregende Geräusch von Kugeln, die in Fleisch einschlugen – nasse, gedämpfte Laute in rascher Folge. Dumpfe Geräusche waren zu hören, als Körper auf dem Boden aufschlugen. Dann war es vorbei.
KC zog die Taschenlampe von Michaels Gürtel und knipste sie an. Sie sah, dass die beiden Wachhunde tot in ihrem eigenen Blut lagen; sie hatten sich gegenseitig erschossen.
KC quälte sich auf die Beine und zog einem der Männer die Pistole aus der Hand. Rasch drehte sie sich um, die Waffe im Anschlag, leuchtete mit der Taschenlampe durch die Kammer und suchte nach ihrem Vater. Er hatte keinen Laut von sich gegeben, hatte nicht vor Furcht und Panik geschrien wie seine Wachhunde. Bald darauf fand KC ihn. Venue lag der Länge nach auf den Büchern und beschützte sie vor den Pistolenkugeln, als wären sie Kinder.
KC schnappte sich einen Dolch, der auf einem der Goldstapel lag, und schnitt Michael die Fesseln von den Handgelenken. Michael stand auf, knipste das Feuerzeug an und entzündete die Fackel wieder. Innerhalb von Sekunden war es hell in der Kammer.
Michael und KC brauchten einen Moment, um zur Besinnung zu kommen. Michael nahm den toten Wachhunden die Gewehre ab und reichte eines an KC weiter; dann nahm er ihr die Taschenlampe aus der Hand und befestigte sie wieder an seinem Gürtel.
»Was willst du mit ihm machen?«, fragte Michael und wies auf Venue.
»Ich würde ihn gern umbringen«, erwiderte KC, »aber dann wäre ich wirklich so wie er.«
»Das bist du schon«, höhnte Venue. »Ich lebe in dir, KC. Du hast es doch selbst gesagt, mein Blut fließt in deinen Adern.«
KC starrte ihn an. Ihre Augen funkelten vor Wut.
Michael legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Egal, was du tun willst, KC, du hast meine volle Unterstützung.«
»Er hat Cindy ermordet!«
»Ich weiß. Es tut mir sehr leid«, sagte Michael mit sanfter Stimme. »Und er hat versucht, dich zu ermorden.«
»Sie könnte noch am Leben sein, KC«, sagte Venue, »wenn du nicht aufgetaucht wärst.«
»Hör nicht auf ihn«, sagte Michael. »Er kann sich nicht damit abfinden, dass er alles verloren hat. Er ist nichts weiter als ein kleiner Straßenganove, der mit allem gescheitert ist, was er versucht hat.« Michaels Stimme bekam einen anklagenden Ton. »Er betrügt die Welt und baut sich ein Imperium auf, nur um es wieder zu verlieren. Er findet die Stelle, an der sich eine der großartigsten Stätten der Menschheitsgeschichte befindet, und beschließt, es einfach zu ignorieren – zugunsten von dem hier.« Michael zeigte auf das Gold und die Bücher. »Lass ihn hier unten, KC, allein, in der Dunkelheit. Bei seinem Gold und seinen kostbaren Büchern.«
KC nickte Michael zu. Dann drehte sie sich zu Venue um, zu ihrem Vater, ihrem letzten noch lebenden Blutsverwandten, dessen kahler Schädel im Schein des Fackellichts glänzte. Er stand für alles, was sie hasste in der Welt: Gier und Geiz, Arglist und Hass. Er hatte keine Achtung vor dem menschlichen Leben. Niedertracht und Lieblosigkeit regierten sein Inneres. In dieser gottverlassenen Höhle war er tatsächlich genau dort, wo er hingehörte.
Venue erwiderte KCs Blicke voller Trotz und Wut. So schauten sie einander in die Augen, voller Ekel und Abscheu voreinander.
»Ja, du hast recht. Das war es schließlich, was er wollte«, sagte KC zu Michael, ohne den Blick von Venue zu nehmen. »Lassen wir ihn einfach hier zurück.«
Michael nahm die Taschenlampe vom Gürtel, knipste sie an und reichte sie KC. Gemeinsam liefen sie aus der Kammer und auf die Treppe zu.
»Warte hier einen Moment«, sagte Michael, drehte sich um und lief noch einmal zurück.
Flüchtig schaute er zu Venue, der mit zornigem Blick vor seinen kostbaren Büchern und Pergamenten saß, nicht eingestehen wollte, dass er besiegt worden war, und sich weigerte, um sein Leben zu betteln.
Michael hob die Fackel aus der Wandhalterung. Die Schatten schienen umherzuhuschen, als würden sie von neuem Leben erfüllt.
»Ich brauche mehr Licht!«, rief Venue.
Michael sah sich in der Kammer um und schaute auf die leeren Wandhalterungen an den Wänden. Er stellte sich vor den Stapel zusammengefalteter Kemal-Reis-Segel, bückte sich und riss ein Stück herunter.
»Das muss unter uns bleiben«, sagte er und zog Silvius Feuerzeug aus der Tasche. »So sehr KC Sie hasst, ich möchte Sie nicht ganz allein in dieser ewigen Dunkelheit zurücklassen.« Mit diesen Worten wickelte er das graue Segeltuch mehrmals um das Feuerzeug, ließ das Ganze auf den Boden fallen und trat mit dem Fuß darauf.
»Benutzen Sie alles, was Sie finden können, um die Kammer beleuchtet zu halten, denn wenn das Licht erst einmal aus ist …«
Michael hob das zertrümmerte Feuerzeug vom Boden auf. Der Geruch des auslaufenden Butangases, das ins Leinentuch sickerte, stach ihm in die Nase. Ohne zu zögern hielt Michael es gegen die Fackel, entzündete damit einen Feuerball und warf die provisorische Fackel hoch in die Luft.
Venue schaute ihm zu. Er war völlig verwirrt, als die Fackel über seinen Kopf hinweg flog und um Haaresbreite auf seine kostbaren Bücher fiel, die so trocken waren wie Wüstenwind und so brennbar wie Zunder. Etwa drei Meter dahinter fiel die orangefarbene Feuersglut auf den Boden. Das Pergament, das Papier und die Tierhäute hatten Zeitalter überdauert in diesem luftdicht verschlossenen Raum, in dem es nicht feucht war wie in der Höhle draußen. Für sie war es ein Segen gewesen, dass es hier keine Insekten gab, keine Ratten und keine Mäuse, keinerlei Ungeziefer, das diese Bibliothek des Bösen bereits vor Jahrhunderten hätte zerstören können.
Durch Michaels Feuerball, der hinter den Schriftstücken lag, wurde die Kammer plötzlich in ein ganz neues Licht getaucht, in einen orangefarbenen Schein, der immer intensiver wurde. Venue starrte verstört darauf. Im nächsten Moment huschte sein Blick über die Wände, über die leeren Wandhalter …
Und er begriff.
Die mit Pech bestrichenen Fackeln lagen verstreut hinter den Stapeln von Pergamenten und Büchern, Schriftrollen und Tierhäuten. Die uralten Fackeln waren genauso leicht entzündlich wie an dem Tag, an dem man sie hergestellt hatte, und fingen sofort Feuer. Im Nu breiteten die Flammen sich aus und erfassten den Fußboden. Venue sprang auf. Er sah, dass Michael einen Teil des Segeltuchs auf den Boden gelegt und sowohl hinter als auch unter seinen kostbaren Fund gestopft hatte. Das trockene Leinenmaterial war ein gefundenes Fressen für die Feuersbrunst. Binnen Sekunden leckten die Flammen an der ersten Schriftrolle, ein zweitausend Jahre altes Gebet an Satan.
Venue kroch auf dem Boden herum wie ein verstörtes Kind, als die Welt um ihn her Feuer fing. Flammen und Funken sprangen auf die neueren Texte und auf tausend Jahre alte Pergamente über. Das Feuer zischte und entsandte schwarze und graue Rauchfahnen, die sich zu dicken Wolken ballten und gegen die Decke drückten. Mit bloßen Händen schlug Venue auf die tanzenden Flammen ein, zog so viele Bücher weg, wie er eben konnte, bevor sie verloren gingen.
Ein letztes Mal ließ Michael den Blick durch die Kammer schweifen, über die Berge aus Gold und Edelsteinen, die goldenen Kunstwerke und Artefakte, deren schimmerndes Metall im Licht des Feuers glühte. Es war ein Schatz, den nie wieder jemand zu Gesicht bekommen würde. Ein Schatz, der Milliarden wert war und der sich im Laufe von Jahrtausenden angehäuft hatte, der gestohlen worden war von namenlosen Männern, um schließlich auf hoher See zu enden.
Kemal Reis, ein gefürchteter Korsar, ein gefeierter Admiral der türkischen Flotte, hatte sein Leben geopfert, um diesen Schatz zurückzubringen – sowie viele der unheilvollen Schriften, die jetzt im Feuer lagen, das sich immer weiter ausbreitete.
In diesem Moment wurde Michael bewusst, dass eine Sache fehlte. Eilig rannte er aus der Kammer, ließ Venue zurück und verschloss die Tür. Dann packte er KC bei der Hand und stürmte mit ihr die Treppen hinauf.
***
Michael und KC stürzten keuchend aus dem dunklen Türrahmen, völlig außer Atem von dem dreiminütigen Aufstieg. Gemeinsam lehnten sie sich gegen die gewaltige schwarze Tür, pressten sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen und drückten sie zu. Mit einem dumpfen Dröhnen fiel sie zu und sperrte Venue und diesen finsteren Teil der Welt für immer aus.
Michael ergriff den Stab – den Caduceus oder Hermesstab –, um den sich die beiden Schlangen wanden und der in der Mitte der Tür steckte. Er zog so lange daran, bis er ihn in der Hand hielt. Als das Schloss einrastete, gab die Tür einen Laut von sich, der wie ein raues Fauchen klang. Dann wurde es totenstill. Ein letztes Mal schaute Michael auf die Tür, auf ihre abscheulichen Darstellungen des Todes und des Bösen, der Dämonen der Finsternis und des Leidens der Menschen, die in der Dunkelheit dahinvegetierten. Mit einem Mal begriff er, dass diese Darstellungen gar kein Verherrlichung des Bösen waren, sondern Warnungen, die sich auf das bezogen, was sich hinter der Tür verbarg.
Michael hob die lederne Transportrolle vom Boden, die immer noch an der gleichen Stelle lag, an der Venue sie hatte liegen lassen, schob den Stab wieder hinein und schloss die innere Verriegelung und die Lederklappe. Dann nahm er KCs Hand. Beide stiegen die Treppe hinauf, die zum Mandala-Vestibül führte. Auf dem oberen Absatz wurden sie bereits erwartet: Busch zielte mit seinem Gewehr auf sie und war erleichtert, als er sah, dass sie keine Eindringlinge waren.
»Gott sei Dank. Alles in Ordnung mit euch?«
Beide nickten, obwohl sie noch nicht verarbeitet hatten, was alles geschehen war.
»Venue?«, fragte Busch.
Michael schüttelte bloß den Kopf.
»Und was ist mit Iblis?«, fragte Busch, als sie den Korridor hinuntergingen.
»Tot«, sagte KC nur.
Michael wusste, dass sie in Gedanken bei ihrer Schwester war, an ihren Tod dachte und an die Leere, die er in ihr zurückließ. Michael verlangsamte seine Schritte, bis KC ihnen ein Stück voraus war, und wandte sich an Busch: »Hast du da hinten jemanden herauskommen sehen?« Er zeigte mit dem Finger in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Nein«, erwiderte Busch und legte verwirrt den Kopf zur Seite. »Über wen reden wir hier?«
Michael schüttelte den Kopf. Er hatte gesehen, wie Iblis zu Boden gestürzt war, hatte die Schusswunde in seiner Brust gesehen, hatte mit angesehen, wie Venue ihm den siedenden Schlamm ins Gesicht gegossen hatte und wie Iblis’ Körper im Todeskampf gezuckt hatte.
Doch als Michael sich vorhin umgedreht hatte, um die Kammer mit dem Gold und den uralten Schriften zu verlassen, nachdem er die Bücher und Pergamente in Brand gesetzt hatte, war keine Spur mehr von Iblis’ zu sehen gewesen.
Iblis’ Leiche war verschwunden.
***
Michael und KC drangen mit Busch in den Gang ein, in dem Kunchen und Sonam mit ihren Gewehren standen, die Tür bewachten und dafür sorgten, dass niemand hinein oder heraus kam. Sämtliche Mönche befanden sich im Raum hinter der Tür, konnten sich frei bewegen und waren nicht mehr gefesselt, hatten bisher aber nicht gehen dürfen.
»Paul?« Michael schaute ihn mit fragendem Blick an.
»Es ist jetzt alles in Ordnung«, erklärte Busch den beiden Sherpas, die daraufhin ihre Waffen niederlegten und in den Raum gingen.
KC folgte ihnen. Ihr Blick fiel auf eine Gruppe von zehn Mönchen. Ihre Augen waren sanft und weise; sie schienen die ältesten der vierzig Männer zu sein. Drei knieten auf dem Fußboden, sieben standen.
Als KC näher trat, machten sie ihr Platz. KC sah Cindy, die man auf Gebetsteppiche gebettet hatte. Um sie herum brannten zahllose Kerzen, und der Duft von Weihrauch strömte aus kleinen, ausgehöhlten Steinen und erfüllte die Luft mit Wohlgeruch.
KC kauerte sich neben den Leichnam ihrer Schwester und brach in Tränen aus.
Michael wollte sich zu ihr setzen.
»Warte«, flüsterte Busch und hielt ihn zurück, indem er die Hand auf Michaels Brust legte.
KC strich Cindy das kastanienbraune Haar aus dem Gesicht, das so unschuldig und kindlich rein wirkte. Sie lag da, unter einer Decke, und die Mönche knieten an ihrer Seite. Stille und Friede herrschten in dem Raum. Es war genau das Gegenteil von dem, was KC unten in der Höhle empfunden hatte. Es erfüllte sie mit einer Wärme und Gelassenheit, die sie nie zuvor empfunden hatte, mit Gefühlen, die eigentlich unvereinbar waren mit dem Tod eines geliebten Menschen.
KC blickte in die besonnenen, alterslosen Gesichter der drei knienden Mönche. Die Männer waren der Inbegriff inneren Friedens. Sie erwiderten KCs Blick ohne jede Regung, sahen ihr nur lange und fest in die Augen und blickten dann wieder auf Cindy.
Und als KC ihrem Blick folgte, geschah etwas, was sie schockierte und mit grenzenloser Glückseligkeit erfüllte: Cindy öffnete die Augen und lächelte.
Michael starrte Busch fassungslos an.
»Sieht so aus, als hätten die Jungs hier nicht nur Ahnung von Göttern und Religion«, meinte Busch grinsend.