55.
Michael machte sich auf den Weg nach unten. Die beiden Wachhunde Silviu und Gianni hielten sich einen Schritt hinter ihm. An manchen Stellen musste Michael auf den unebenen Felsstufen den Kopf einziehen, weil die Decke so niedrig war. Er spürte, dass es zunehmend heißer wurde. Offenbar befand sich ganz in der Nähe ein unterirdischer Schlot, dessen Dampf die Wände erhitzte. Tiefer und tiefer arbeiteten die Männer sich in die Erde. Die ganze Zeit ließ Michael seine Hand an der geländerlosen Wand entlanggleiten. Fünf Minuten waren sie inzwischen unterwegs und stiegen Stufen hinunter, die mal steiler, mal flacher abfielen und schließlich in einem großen, höhlenartigen Raum endeten.
Michael hielt die Fackel hoch. Die Flamme erleuchtete eine Steinhöhle von gewaltigen Ausmaßen. Entlang der Wände befanden sich Tümpel, in denen siedend heißer Schlamm brodelte. Die Luft stank nach Schwefel und war so heiß, dass man einen Menschen in den natürlichen Dampfbädern wahrscheinlich bei lebendigem Leib hätte kochen können.
Michael hörte eine Stimme, doch sie verhallte in dem höhlenartigen Raum. Er drehte sich um die eigene Achse, um festzustellen, woher das Geräusch kam. Die Stimme klang wie ein Flüstern; was sie sagte, war nicht zu verstehen. Michael schaute in die Gesichter der Wachhunde, die das Geräusch aber nicht zu hören schienen.
Michael beschloss, sich nicht weiter damit zu befassen, und drang tiefer in die Höhle vor. In den Wänden steckten Fackeln, die im Fünfundvierzig-Grad-Winkel über dem Gang hingen; ihre Zahl schien so endlos zu sein wie der Tunnel selbst. Michael entzündete ein Dutzend dieser Fackeln, und die verlorene Welt wurde in den orangefarbenen Glanz der Dämmerung getaucht, in der das Licht der Flammen tanzende Schatten an die Wände, die Decke und auf den Boden warf.
Die Decke war wellig und zerklüftet, und an mehreren Stellen hingen Stalaktiten, die sich teilweise schon vor urlanger Zeit mit den Stalagmiten vereinigt und dicke Kalzitsäulen gebildet hatten, von denen es Dutzende gab. Die massigen Säulen sahen aus, als bewahrten sie die Welt vor dem Einsturz.
Unvermittelt stieß Silviu einen keuchenden Laut aus. Hastig drehte Michael sich um und sah, wie der Hüne vor irgendetwas zurückwich, das einen flackernden Schatten an die Wand warf. Michael ging darauf zu, wobei er unbewusst die Luft anhielt.
Auf dem Boden lag ein Skelett; der Kopf war weit nach hinten gekippt, der Kiefer weit aufgerissen wie im Todesschrei. Aus der linken Augenhöhle ragte der Griff eines Messers, den die knöcherne Hand des Toten fest umklammert hielt. Dieser Mensch, wer immer er gewesen war, hatte sich auf die grauenvollste Art selbst getötet, die man sich vorstellen kann. Michael beugte sich über die Leiche und stellte erstaunt fest, dass sie auf einer zerfetzten Lederdecke lag. Michael griff nach der Decke, und erst als er sie berührte, wurde ihm klar, dass er sich geirrt hatte. Es war keine Decke, und sie war erst recht nicht aus Leder, Wolle oder Stoff. Es war menschliche Haut. Dem Toten war die Haut vom Körper gefallen.
Michael untersuchte die Leiche genauer. Aufgrund der Hitze in der Höhle hätte der natürliche Verfall so schnell vonstatten gehen müssen, dass gar keine sterblichen Überreste mehr hätten existieren dürfen. Nach Einsetzen des Verwesungsprozesses hätten Insekten und Ungeziefer die Leiche vollkommen vernichten müssen. In dieser warmen, feuchten Umgebung hätte schon nach wenigen Tagen nichts mehr übrig sein dürfen. Aber das Skelett war Hunderte von Jahren alt. Es war bekleidet mit einem schmutzigen Baumwollhemd. Die zerrissene, um die Gebeine schlotternde graue Hose war aus dickem Wollmaterial, das nach so langer Zeit auch schon längst hätte zerfallen sein müssen.
Michael erkannte, dass er auf einen von Kemal Reis’ Männern schaute, auf einen Korsaren – einen Seemann, der von seiner Heimat gar nicht weiter entfernt hätte sein können. Dieser Mann war seinem Admiral bis zum letzten Atemzug treu ergeben gewesen.
Michael erkannte außerdem, dass es hier unten kein Leben gab, nicht einmal Ungeziefer oder Insekten, die die Verwesung vorangetrieben hätten. Selbst tief in der Erde gab es Bakterien, Ameisen, Würmer und Käfer, und normalerweise hätten sie sich an dem Leichnam gütlich getan. Hier jedoch schien kein Leben zu existieren.
Als Michael sich erhob, sah er, dass Gianni mit seiner Taschenlampe auf weitere Skelette leuchtete. Einige hatten sich selbst erstochen und umklammerten ihre Schwerter wie Samurai, die Seppuku begangen hatten. Andere hielten altertümliche Flinten in den Händen, mit denen sie sich erschossen hatten.
»Warum haben die sich das Leben genommen?«, stieß Silviu in einem Englisch hervor, das von einem starken Akzent gefärbt war.
»Das sind türkische Korsaren«, erwiderte Michael. »Sie zählten zu den härtesten Männern, die es je gegeben hat. Sie waren Piraten, die keine Angst hatten, sich ihren Dämonen zu stellen. Und trotzdem, hier unten …« Michael sprach bewusst nicht weiter und schaute auf die Leichen.
»Was ist hier unten?«, fragte Silviu.
»Hat Iblis euch das nicht erzählt?«
»Er hat gesagt, hier wären Geld und Bücher«, meldete Gianni sich zu Wort.
»Wirklich?« Michael konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Spricht einer von euch Arabisch?«
»Um Himmels willen, ich bin Italiener! Warum stellen Sie so eine dumme Frage?«
Silviu schüttelte bloß den Kopf.
Michael setzte zu einer Antwort an.
Im nächsten Moment hörte er die Stimme wieder. Diesmal war das Flüstern lauter und sandte ihm eisige Schauer über den Rücken und mitten ins Herz.
»Was ist das?«, rief Silviu, drehte sich im Kreis und fuchtelte mit seiner Waffe.
»Das ist die Stimme des Wahnsinns«, wisperte Michael. »Die Stimme des Bösen.«
Sein Blick fiel auf die Steinwand, die sich hinter der Treppe befand, auf der sie hier heruntergekommen waren. Dort war eine Tür, eine große Holztür. Sie war schwarz wie die Nacht, aus glänzendem Ebenholz gefertigt, das im Fackellicht schimmerte. Eisenverstrebungen verstärkten sie am unteren und oberen Rand sowie in der Mitte. Der Türrahmen und die Türschlitze waren mit Pech versiegelt. Diese schwarze, teerartige Substanz diente nicht nur als Brennstoff für die Fackeln, sondern war auch der erste Feuchtigkeitsschutz gewesen, den man bei Schiffen und Fässern benutzt hatte, um Fugen wasserdicht zu machen. Das Pech wurde durch Pyrolyse hergestellt, die trockene Destillation von Holz und Harz, und es erlaubte den ersten Seefahrern der Geschichte, die Weltmeere zu bereisen.
»Halt das mal«, sagte Michael und reichte Silviu die Fackel. Dann griff er mit der Hand an den goldenen Türknauf und zog. Die Tür rührte sich keinen Millimeter, denn das Holz hatte sich durch die Hitze gedehnt, sodass es sich im Rahmen verkantete. Michael hob den rechten Fuß, drückte ihn gegen die Wand und stieß die Tür mit Gewalt auf.
Mit starrem Blick schaute er in den Raum hinein. Das schwache Licht der Fackel ließ seinen Körper zu einem Schatten werden, der in der Finsternis tanzte. Zögernd trat er durch die Tür, blieb nach dem ersten Schritt aber gleich wieder stehen, damit seine Augen sich den veränderten Lichtverhältnissen anpassen konnten. Die Luft war trocken und roch im Gegensatz zur feuchten Höhle hinter ihm überhaupt nicht. Michael konnte Berge von Metall erkennen, das im Glanz des schwachen Lichts schimmerte. Überall auf dem Boden lagen uralte, zum Teil zerfallene menschliche Skelette. Kemal Reis’ Besatzung. Die Männer hatten entweder einander oder sich selbst getötet; ihre Überreste bedeckten den ganzen Boden. Sie hielten ihre Säbel immer noch fest in den Knochenhänden.
Als Michael sich tiefer in die Dunkelheit vorwagte und der Mantel der Finsternis ihn schließlich umhüllte, hörte er die Stimmen. Zuerst waren sie leise und klangen wie das Murmeln einer Gruppe in der Ferne. Was die Stimmen sagten, war nicht zu verstehen. Dann aber wurden sie lauter und drängender.
»Michael, erinnerst du dich an mich?«, wisperte eine von ihnen. »Vor vielen Jahren dachtest du, du könntest die Welt von mir befreien. Du hast mich begraben, hast mich versteckt in den Wäldern Deutschlands, aber mich kann man nicht vernichten.«
Michael sehnte sich nach Licht, nach der Fackel, nach irgendetwas, was die Finsternis vertrieb. Er fühlte sich wie ein Kind, das sich vor dem fürchtet, was in der Dunkelheit lauert. Er spürte, wie Urängste in ihm aufstiegen. Zugleich erwachte ein Instinkt, der ihm riet, die Flucht zu ergreifen. Jetzt verstand Michael, was der Mönch gemeint hatte, als er ihm geraten hatte, sich nur ja immer im Licht zu halten, und warum er ihn gewarnt hatte vor der Macht der Finsternis.
»Michael«, wimmerte eine andere Stimme. Michael schauderte; er hatte diese Stimme seit vielen Jahren nicht mehr gehört. Es war eine Stimme, die ihn früher stets hatte trösten können, aber jetzt klang sie verärgert und vorwurfsvoll.
»Ich sterbe, und du gehst hin und ersetzt mich durch einen neuen Vater«, jammerte die Stimme seines Adoptivvaters Alec St. Pierre. »Du zerstörst die Erinnerungen an mich in der Hoffnung, dir bessere schaffen zu können. Mary ist gestorben, und jetzt begräbst du ihr Andenken, indem du sie ebenso ersetzt wie mich.«
In diesem Moment erkannte Michael, dass die Stimmen nichts als Lügen von sich gaben. Sie machten sich seine Ängste zunutze; sie waren sein eigener unbewusster Schrei nach Erlösung von den Fesseln seiner Gedanken. Sie versuchten, seinen Verstand mit Schuldgefühlen und Scham zu verpesten und paranoide Gedanken zu säen, die ihm die Fähigkeit zu klarem Denken raubten. Doch so sehr er sich dagegen wehrte, die Stimmen wollten einfach nicht verstummen. Schließlich konzentrierte Michael sich auf das eine, das seinem Geist Frieden geben und sein inneres Gleichgewicht wiederherstellen konnte.
Auf sein Herz.
KC hatte es zu neuem Leben erweckt, indem sie ihm ihr eigenes Herz geschenkt hatte. Der Gedanke erfüllte Michael mit einem wohligen Gefühl der Wärme, mit dem er nun bewusst seinen Verstand und seine Seele durchflutete, um die Stimmen zum Schweigen zu bringen. Vor seinem geistigen Auge ließ er KCs Bild erstehen, hielt sich fest am Glanz ihrer langen blonden Haare, an ihren Augen, den Spiegeln ihrer reinen Seele. Er stellte sich ihre glatte weiche Haut vor, und wie sie einander umarmten, wie sie einander liebten und zärtlich berührten.
Trotzdem wurden die Stimmen immer lauter und klangen fast schon wie die Schreie von Kreaturen, die es darauf abgesehen hatten, Michael in den Wahnsinn zu treiben. Mit aller Kraft stellte er sich KCs Gesicht vor und hielt sich ganz fest daran. Dann griff er in die Hosentasche und legte die Finger um den Anhänger, den KC ihm zusammen mit dem Brief zurückgegeben hatte. Er hielt ihn ganz fest, während er sich rückwärts aus dem Raum bewegte, sich von den umhertanzenden Schatten entfernte und zurückkehrte ins Licht. Michael zwang sich, nur an KC zu denken und vor seinem geistigen Auge nichts anderes zu sehen als ihr Gesicht.
Es kostete ihn alle Kraft, doch endlich drehte er sich um und lief durch die Tür aus Ebenholz zurück ins Licht. Die Stimmen verstummten, als hätte es sie nie gegeben und als wäre Michaels Verstand in ein Wasserloch aus purem Wahnsinn gestürzt, um knochentrocken wieder aufzutauchen und sich an nichts mehr erinnern zu können.
»Was ist da drin?«, fragte Gianni und trat einen Schritt auf die Tür zu.
Michael sah die beiden Wachhunde an und fragte sich, ob sie auch nur eine Minute in diesem finsteren, von Gott verlassenen Raum überleben konnten.
Silviu trat einen Schritt zurück, während Gianni noch weiter auf die Tür zuging und mit seiner Taschenlampe in die Kammer hineinleuchtete. Im gleichen Moment wurde der Schatz sichtbar, Berge von Gold und Juwelen, die sich an den Wänden stapelten und deren Glitzern und Funkeln sich im Strahl der Lampe brach. Münzen und Kelche, Barren, Becher und Rüstungen, kistenweise Juwelen und Edelsteine. Im wahrsten Sinne des Wortes eine ganze Schiffsladung. Ein Schatz, den man irgendwann und irgendwie aus diesem Raum hier gestohlen hatte und der über die Weltmeere gesegelt war, nur um von Kemal Reis und seinen Männern wieder hierher zurückgebracht zu werden, in diese versteckte Höhle hoch über der Erde.
Vor der Wand lagen zusammengefaltet mehrere gewaltige Abdeckplanen, die grau und zerrissen waren und so gar nicht zum Rest der Kammer passten. Es dauerte einen Moment, bis Michael begriff, dass es Segel waren – riesige, alte, zerrissene graue Leinensegel.
Er fragte sich, was dieses Schiffszubehör so weit vom Meer entfernt zu suchen hatte, doch als er länger darauf blickte, wurde ihm klar, dass Kemal und seine Männer die Segel dazu benutzt hatten, das Gold den Berg hinauf und durch den Tempel und die Höhle zu tragen.
Und schließlich sah er in einer Ecke die Bücher, die Schriftrollen, Pergamente und Steinplatten, die verstaubt auf hölzernen Stapelbrettern lagen, versteckt vor der Welt – Hunderte von Dokumenten, angefertigt auf den jeweiligen Schreibmaterialien ihrer Zeit: Tierhaut, Vellum, Stein, Leder und Papier. Nun wurde offensichtlich, warum man die Tür mit Pech versiegelt hatte: Das Pech hielt die Feuchtigkeit fern und schützte das Papier, die Häute und Felle vor Zerfall, indem es ein trockenes Umfeld schuf und eine Barriere zu der feuchten Hölle vor der Tür bildete.
Michael brauchte sich die Dokumente nicht anzuschauen. Er wusste auch so, worum es sich dabei handelte. Er hatte die Etiketten oben in der Bibliothek gelesen, wo man die Schriften früher aufbewahrt hatte; er wusste, mit welchen Themen sie sich befassten und was sie offenbarten.
Michael wurde klar, dass der Reichtum dieser Kammer nicht nur in den Edelmetallen und Juwelen bestand, von denen die Wachhunde so fasziniert waren, sondern auch in den Worten und Informationen, diesem gesammelten Wissen, das die Mysterien der Finsternis aufdecken würde, ihre Macht, ihre Fähigkeiten, ihre Quellen und ihre Geheimnisse.
»Mein Gott«, murmelte Gianni und starrte auf die Berge aus Gold und Edelsteine.
Michael nahm dem Wachhund die Fackel aus der Hand, denn er hatte beschlossen, sich in diesen unterirdischen Gefilden ohne Lichtquelle keinen Zentimeter mehr von der Stelle zu rühren.
»Ich glaube, man darf getrost behaupten, dass Gott mit dem hier nichts zu tun hat«, sagte er und fügte nach einem Moment des Schweigens hinzu: »Ihr könnt Venue melden, dass wir gefunden haben, wonach er sucht.«