7.

Philippe Venue saß auf der mit einem Schieferdach gedeckten Veranda vor der Bibliothek seiner herrschaftlichen Villa auf der Van Durer Straat und nippte an einem Cognac. Sein Zuhause, das man auch »Gut Azrael« nannte – nach dem Engel des Todes –, war ein rund zweitausend Quadratmeter großes Anwesen im englischen Landhausstil. Da es keine feste Partnerin in Venues Leben gab, hatte das übergroße Haus eine maskuline Ausstrahlung: Alles war aus Mahagoni und Kirschbaum; die Vorhänge waren dick und schwer, dunkelgrün oder tiefrot. Venue besaß eine riesige Kunstsammlung, die er über die Jahre hinweg mit Akribie zusammengestellt hatte und die erheblich umfangreicher war als die, die er in seinem Büro zur Schau stellte. Die Wände seines Herrenhauses schmückten über hundert Gemälde.

Er hatte zwölf Angestellte, zu denen zwei Küchenchefs zählten, zwei Chauffeure und eine kleine Armee von Hausdienern, die ihn rund um die Uhr versorgten. Das Haus stand auf hügeligem Terrain, zu dem Felder und Wälder gehörten und das sich mit einer Fläche von knapp zweihundertfünfzig Hektar über zwei ländliche Vorstädte Amsterdams erstreckte.

Als er den Blick über seinen Besitz gleiten ließ, über seine Gärten und den Swimmingpool und vorüber an den Ställen und Tennisplätzen, stiegen Zorn und Furcht in ihm auf. Alles zerrann ihm zwischen den Fingern. Seine kleine Insel in der Karibik hatten die Gläubiger ihm bereits weggenommen; seine fünfzig Meter lange Jacht Crowley lag im Trockendock, die Besatzung war entlassen, und es war stündlich mit der Beschlagnahmung zu rechnen. Gut Azrael und sein Privatflugzeug waren bezahlt und gehörten ihm, doch da ihm die Banken immer dichter auf den Fersen waren, würde es nicht mehr lange dauern, bis auch hier die Zwangsversteigerungen begannen. Obwohl Venue noch immer über gewaltige Besitztümer verfügte, schrumpfte sein Vermögen immer schneller.

Und was alles noch schlimmer machte, waren die Gerüchte, die plötzlich kursierten: Gerüchte, dass eine andere Gefahr immer größer wurde, eine Bedrohung, neben der selbst der Verlust seines Imperiums verblasste. Manche Sünden wurden niemals vergessen und verziehen – und Gott wusste, dass Venue ein Mann war, der zahlreiche Sünden begangen hatte, für die er würde büßen müssen.

Venue hatte sich in seiner Jugend durch das Leben treiben lassen, ohne ein Ziel zu haben, das über die sofortige Befriedigung seiner Wünsche und Bedürfnisse hinausging. Als er siebzehn war, war er bereits wegen ständiger Prügeleien von mehreren Schulen geflogen, hatte wegen bewaffneten Raubüberfalls eine Jugendhaftstrafe abgesessen und hatte so viele Autos gestohlen, dass er sich schon gar nicht mehr an die Wagen erinnern konnte. Vor Gericht führte er alles darauf zurück, dass seine Mutter gestorben war, als er fünf Jahre alt gewesen war, und dass er deren Stimme aber noch immer hören könne – eine Erklärung, die einen mitleidigen Richter dazu veranlasste, ihn zu seinem alkoholkranken Vater zurückzuschicken.

Aber sein diebisches, gewalttätiges Verhalten ließ niemals nach. An seinem achtzehnten Geburtstag warf sein Vater ihn aus dem Haus und sagte ihm, er solle nie wiederkommen. Die nächsten zwei Jahre wurden zu einer Ein-Mann-Verbrechensorgie, in deren Verlauf die Taten immer schwerwiegender wurden und ihren Höhepunkt schließlich in einem Mord fanden – was paradoxerweise eine glückliche Fügung war, denn wenn Venue diesen Mord nicht begangen hätte, hätte er nie zu seiner Berufung gefunden.

Vierzig Jahre waren seit damals vergangen. In Strafmaßen gerechnet zweimal lebenslänglich.

Damals hatte Venue fünfzigtausend Pfund bei einer Wette auf ein Fußballspiel verloren. Er weigerte sich, seine Wettschulden zu bezahlen. Als der Buchmacher daraufhin herumerzählte, Venue drücke sich vor seiner Verantwortung, schnitt Venue ihm kurzerhand die Zunge aus dem Hals, stach ihm ein Messer ins Herz und schickte damit jedem die Botschaft, dass es gesünder sei, über Philippe Venue nichts Schlechtes zu sagen.

Er wurde das Ziel einer landesweiten Fahndung; es war nur noch eine Frage von Tagen, bis man ihn finden würde. Venue wusste nicht mehr, wohin er fliehen sollte. Er wurde nicht nur von der Polizei gejagt; die Unterwelt hatte ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt, weil er einen ihrer Leute getötet hatte. Er konnte sich weder auf der einen noch auf der anderen Seite des Gesetzes verstecken und wurde ein Mann, für den es keine Zuflucht mehr gab und der gezwungen war, sich einen Unterschlupf zu suchen.

Er verließ das Land und wurde Priester. Es war keineswegs so, dass er sich dazu berufen fühlte, aber es gab keine bessere Möglichkeit für ihn, unterzutauchen. Im Priesterseminar fragte ihn niemand nach seinen Absichten oder nach seiner Lebensgeschichte; es war eine Zeit, in der man noch kein Führungszeugnis und keine Empfehlungsschreiben benötigte. Wer danach strebte, das Wort Gottes zu predigen, wurden mit offenen Armen empfangen.

Venue trat dem Priesterseminar von St. Augustine bei, ließ sich zum Geistlichen ausbilden und kehrte damit zur christlichen Religion seiner Jugend zurück. Und tatsächlich kam er innerlich zur Ruhe; seine gewalttätigen Neigungen ließen nach. Nach drei Monaten war er nicht mehr besessen von Verbrechen oder Tod; der Zorn, der ihn jeden Morgen beim Aufwachen begrüßt hatte, war verschwunden.

Die größte Veränderung jedoch fand nach sechs Monaten statt: Venue fand Erfüllung im Glauben. Er fand Gott in seinem Herzen, in seiner Seele, in jedem Atemzug, den er tat.

Philippe Venue hatte seine Berufung gefunden.

Seine Reue war ehrlich, doch behielt er sie für sich. Seinen Priesterbrüdern würde er seine sündhafte Vergangenheit wahrscheinlich niemals gestehen, da er befürchtete, dass seine Verfehlungen zu groß waren, als dass sie ihm vergeben konnten.

Während der nächsten Jahre fand er Erfüllung in seinem wiedergefundenen Glauben und wurde zu einem Bibel-Gelehrten und zu einem Fachmann auf dem Gebiet der Religionsgeschichte. Doch seine Gier nach Wissen ging weit über die traditionelle Literatur der Bibel hinaus in esoterische Gefilde. Er studierte die Evangelien des Thomas, des Judas und des Petrus sowie das Protevangelium des Jakobus. Er erforschte die anderen Weltreligionen und erfasste die Ähnlichkeiten der verschiedenen Glaubensrichtungen: Hinduismus und Islam, Buddhismus und Judentum. Religiöse Texte wie der Koran und die Torah wurden seine Lektüre, und er verschlang sie, wie andere Grisham oder King lesen.

Seine Studien führten ihn schließlich zum Mystizismus, auf den in vielen Religionen angespielt wurde – die Wunder des Christentums, die Heilige Dreifaltigkeit; die Kabbala des Judentums; die Verehrung von Engeln und Dämonen im Islam. Er stürzte sich in Studien über Hexerei und druidische Religion. Er war fasziniert von dem, was Menschen glaubten, von den Fundamenten ihres Glaubens und ihrer schieren Hingabe.

Er erforschte die Schriften Dantes und der Neopaganisten. Er las über Aleister Crowley, den man auch den »sündhaftesten Mann der Welt« nannte, studierte seine Aufsätze und las über seine Suche nach den vergessenen Stätten der Magie und der Religion. Er las Schriften über den Hermetischen Orden der Goldenen Morgenröte, über Geister- und Totenbeschwörung, Satanisten und Teufelsverehrung. Er erfuhr von albtraumhaften, von Grund auf bösen Dingen, von Hexerei und Teufelswerk. Als ein Mann, der selbst Gräueltaten verübt hatte, war er nur schwer zu schockieren, doch was er hier fand, brachte ihn beinahe um den Verstand. Und je mehr er las, desto mehr faszinierte es ihn.

Schließlich konfrontierte er seine Brüder mit diesen Dingen, seine Familie innerhalb der Kirche, und teilte die mystische Welt mit Monsignore Oswyn, einen konservativen Mann, der die Zeiten zurücksehnte, als die Menschen Gott gefürchtet hatten, statt ihn zu hinterfragen.

Oswyn saß an seinem Schreibtisch im Priesterseminar und legte den Kopf zur Seite, wobei die graue Strähne, die er sich immer über den kahlen Schädel kämmte, herunterfiel, während er aufmerksam und höflich Venues Ausführungen lauschte. Er unterbrach ihn kein einziges Mal, schaute kein einziges Mal weg.

Als Venue geendet hatte, fragte Monsignore Oswyn mit so leiser Stimme, dass es beinahe wie ein Flüstern klang: »Kannst du der Bosheit ins Herz blicken, ohne von ihr verzehrt zu werden? Das Böse kann uns versuchen, indem es uns antreibt, nach Wissen zu streben. Nur ist es manchmal ein Wissen, das wir nicht besitzen sollen.«

»Aber wir sind Männer Gottes. Wir können das Böse besser erkennen und bekämpfen als andere«, protestierte Venue.

»Ich wünschte, das wäre wahr«, sagte Oswyn. »Ich habe erlebt, wie unser Flehen um Frieden, unsere Gebete um die Erlösung der Menschheit nicht erhört wurden. Stoßen sie auf taube Ohren, oder gewinnt das Böse den Krieg um unsere Seelen?«

»Umso mehr Grund haben wir, das Böse zu verstehen.«

»Für Euch, Vater, ist das zu einer Besessenheit geworden, auf die man sogar außerhalb unserer Gemeinschaft aufmerksam geworden ist und die verurteilt wird. Selbst der Vatikan hat Nachforschungen über Eure Studien angestellt.«

Venue saß da und lauschte den Worten Oswyns, der sorgenvoll die grauen Augenbrauen hob.

»Ihr werdet mit diesem Unsinn aufhören, mit dieser Erforschung der Finsternis und des Bösen. Ihr habt Euch einen Einblick verschafft, aber Eure Hingabe ist zur Besessenheit geworden. Das muss ein Ende haben.«

»Aber um Gottes Güte zu erfassen, müssen wir dazu nicht das Böse in seiner düstersten Gestalt verstehen?«

Oswyn wollte kein weiteres Wort hören und befahl Venue, seine fruchtlosen Recherchen einzustellen und seine Aufmerksamkeit Gott und den Bedürfnissen der Menschheit zu weihen.

Zum ersten Mal seit vielen Jahren empfand Venue Zorn. Er verzehrte seine Seele. Es war jenes Gefühl, das in seiner Jugend ständig in seinem Körper getobt hatte und von dem er geglaubt hatte, es wäre verschwunden, seit er Priester geworden war. Doch schließlich fasste er sich wieder, senkte den Kopf, um seine Hochachtung zu entbieten, und verließ das Büro des Monsignores.

Venue hatte nicht die Absicht, mit irgendetwas aufzuhören. Was er tat, das tat er mit Leidenschaft, und wenn er seine Nachforschungen eingestellt hätte, wäre das so gewesen, als hätte er seine Seele verkauft.

Also machte er weiter. Aleister Crowley, der Okkultist, begann ihn zu faszinieren, seine Schriften und seine Hingabe gegenüber allem Übersinnlichen. Er studierte die Schriften von Dr. Robert Woodman, einem der Gründerväter des Hermetischen Ordens der Goldenen Morgenröte; die Arbeiten von Blanche Barton, einer Hohepriesterin der Church of Satan, sowie die Lebensgeschichte von Madame Blavatsky, einer bekannten Okkultistin, die behauptete, mit den Toten sprechen zu können.

Doch während dieser Zeit war er weiterhin von seinem Glauben erfüllt. Die Kirche war sein Zuhause, seine Familie, die Luft, die er atmete. Seine Interessen standen seinem Glauben nicht im Weg; sie machten ihn vielmehr besser. Denn wenn es das Böse gab, wenn die Finsternis und der Teufel existierten, dann gab es mit absoluter Sicherheit einen Gott, und Christus war sein Erlöser.

Im Gegensatz zu seinen Priesterbrüdern hatte Venue das Böse auf der Straße mit eigenen Augen gesehen: Er hatte es in den Herzen und den Hirnen der Unterwelt gesehen. Er hatte es in seinem eigenen Herzen gesehen … und er hatte die Stimmen in seinem Kopf gehört, die ihn beinahe in den Wahnsinn getrieben hatten. Und da er sich selbst für das perfekte Beispiel hielt, glaubte er fest daran, dass das Böse zu besiegen war, dass man die Finsternis begraben und mit Licht ersetzen könne. Stimmen konnten zum Schweigen gebracht werden, Irrsinn konnte vergehen, doch das Böse war eine gleichwertige gegnerische Macht. Eine, die erst das Gleichgewicht schuf und die niemals ignoriert werden durfte.

***

Die Morgensonne flutete durch die bunten Glasfenster der Kapelle. Rot- und Violetttöne färbten den Marmoraltar, vor dem Venue im stummen Gebet kniete, dankbar für sein Leben und seine Erlösung.

Es war das letzte Mal, dass er zu Gott betete.

Vater Oswyn näherte sich ihm von hinten. Er blieb stehen und wartete, bis Venue sich umwandte.

»Vater?«, sagte Oswyn, ohne ihm dabei in die Augen zu blicken. »Würdet Ihr bitte mit mir kommen?«

Venue folgte ihm durch die Kirche und das Pfarrhaus in einen großen, einschüchternden Konferenzraum, in dem es nach Weihrauch und Leder roch. Sechs Priester hatten sich um den Tisch versammelt. Die zwei Stühle vor Kopf waren leer. Venue und Oswyn nahmen darauf Platz. Keiner der sechs anderen Männer blickte Venue in die Augen, als der sich setzte.

Ohne ein Wort zu sagen, legte Oswyn Bücher auf den Tisch – Werke über Hexerei und Okkultismus, Teufelsverehrung und druidische Religion.

»Das hier ist beunruhigend, Vater«, sagte Oswyn. »Ihr versteckt sehr viel vor uns. Ihr versteckt es in Eurem Herzen.«

Venue schaute sich an, was alles auf dem Tisch lag; dann musterte er nacheinander jeden der sieben Priester, die vor ihm saßen. Schließlich blieb sein Blick auf Oswyn ruhen. »Ihr durchsucht also meine persönlichen Sachen und verurteilt mich für das, was ich lese?«

»Was uns beunruhigt ist das, was wir in Eurem Herzen gefunden haben.«

»Wir können unsere Augen nicht verschließen vor dem Bösen, das es in der Welt gibt, das seht Ihr doch sicherlich ein«, sagte Venue. »Mit Schweigen kann man das Böse nicht besiegen. Wissen ist Macht.«

»Wir streben aber nicht nach Macht.« Oswyn schwieg zunächst; der Augenblick der Stille zog sich endlos hin. »Und das ist das Beunruhigende«, sagte er schließlich.

»Ihr verurteilt mich dafür, dass ich lese!«, stieß Venue hervor. »Ihr sitzt hier alle, um mich dafür zu richten, dass ich hinter den Vorhang schaue. Ihr seid blind für das Böse, für die Finsternis in dieser Welt.«

»Wir sind nicht blind, Venue.« Oswyn förderte eine Aktenmappe zutage und legte sie auf den Tisch. »Vater Nolan hat Erkundigungen angestellt.«

Venue starrte auf die Akte. Seinetwegen brauchte man sie nicht zu öffnen; er wusste auch so, was sie enthielt.

»Und es ist mehr als beunruhigend, was er dabei herausgefunden hat.«

»Die Polizei ist da«, murmelte der älteste Priester, ohne Venue anzusehen.

»Möchtet Ihr, dass wir Euch die Beichte abnehmen?« Nolans Stimme bebte vor Furcht.

Venue sah ihn an. Er wusste nicht, ob ihn das Ganze erheitern oder verärgern sollte.

»Ihr solltet wissen, dass uns Eure Verbrechen im Zusammenspiel mit Euren privaten Interessen an diesen Punkt gebracht haben. Eure Handlungsweise hat uns keine andere Wahl gelassen. Ihr werdet nicht nur aus der Priesterschaft entlassen, sondern wegen der Verbrechen, die Ihr begangen habt, wegen der Irreführungen, die Ihr verbreitet habt, und wegen des Bösen, das Ihr in Eurem Herzen tragt und im Namen der Kirche verbreiten werdet, exkommuniziert!«

Oswyns Worte waren wie ein Blitz, der in Venues Seele schlug. Er wurde aus der einzigen wirklichen Familie, die er jemals gehabt hatte, hinausgeworfen und verbannt aus dem einzigen Ort, den er ein Zuhause genannt hatte.

In diesem Augenblick legte sich Finsternis über Venues Herz. Zorn erfüllte seine Seele. Mit hasserfüllten Augen starrte er die Priester an. Wenn die Kirche ihn nicht wollte, wenn Gott sich von ihm abwandte, dann gab es andere Orte, an die er gehen konnte.

Lautlos betraten zwei Polizeibeamte den Raum. Kein Wort wurde gesprochen, als sie sich neben ihn stellten und ihn dann zur Tür eskortierten. Venue drehte sich noch einmal um, nahm jeden der schon ziemlich betagten Priester in Augenschein und prägte sich ihre Gesichter ein. Er wusste, dass er einen Weg finden würde, sich an den Männern zu rächen, die sein Leben zerstört hatten.