44.
Drei Stunden waren sie inzwischen unterwegs. Die Sonne hatte den Zenit längst überschritten, und Venues Gruppe überstieg die Viertausend-Meter-Marke. Sie waren über den Gebirgspass gewandert, waren an einem Schneefeld vorbeigelaufen und hatten sich über felsiges Gestein in einen zehn Meter breiten Gang vorgearbeitet, der auf beiden Seiten von nacktem Granit gesäumt war, was den Eindruck vermittelte, als befänden sie sich im Inneren eines Schornsteins. Die Winde wurden stärker und peitschen ihnen mit einer Heftigkeit entgegen, dass die ungefähr null Grad kalte Luft sich anfühlte, als wäre sie minus zehn Grad kalt. Sie hatten sich ihre Jacken übergezogen und die Schals umgeschlungen, und ihr Atmen ging keuchend von der dünnen Luft und der Anstrengung.
Auch Venue bewegte sich inzwischen schwerfällig. Seine Wangen waren gerötet und feucht vom Schweiß; sein Alter machte sich bemerkbar. Doch er versprühte weiterhin Optimismus, und damit führte er sein Team und trieb es vorwärts.
Cindy hatte den Anschluss verloren. Niemand wartete auf sie, weil sie immer wieder auf dem glatten Schnee ausrutschte. Da sie an die Härten des Lebens in freier Natur nicht gewöhnt war, sah sie dermaßen erschöpft aus, als hätte sie zwei Marathonläufe hinter sich, ohne vorher je dafür trainiert zu haben.
KC hatte kein Wort mit ihrer Schwester gewechselt, seit sie in Indien gelandet waren, und ihre Wut auf Cindy erleichterte es ihr, voller Aggression weiterzuklettern. Doch als sie sah, wie erschöpft ihre Schwester war, machte sie kehrt und lief die fünfzig Meter zurück zu der Stelle, an der sie sich voranquälte.
»Alles in Ordnung?«, fragte KC.
»Mir geht’s prächtig«, erwiderte Cindy ironisch.
»Dann ist es ja gut«, sagte KC mit kalter Stimme. Das wenige Mitgefühl, das sie gerade noch empfunden hatte, verflüchtigte sich. »Denn wenn es dir nicht prächtig ginge, würde er dich hier zurücklassen – nur, damit du dir keine Illusionen machst. Und wenn der Sturm kommt …«
Cindy blickte hinauf zum wolkenlosen blauen Himmel und schüttelte den Kopf. »Diese Narren und ihre ›Kann es in den Knochen spüren‹-Wettervorhersagen! Die wissen doch gar nicht, wovon sie reden.«
»Sei nicht kindisch, Cindy. Das hier ist nicht irgendein Finanzierungsschema, das du mit mathematischer Genauigkeit kontrollieren kannst. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, du bist hier in der Wildnis und würdest gut daran tun, deinen Hochmut aufzugeben und einen Schritt zuzulegen. Niemand wird dich diesen Berg hinauftragen.«
»Du bildest dir wohl immer noch ein, ich bräuchte dich wie ein Sicherheitsnetz, KC? Ich brauche dich schon seit Jahren nicht mehr. Ich habe viel mehr erreicht, als du dir hattest ausmalen können, und alles ohne deine Hilfe. Mein Leben gehört mir. Ich tue, was mir gefällt.«
»Und es gefällt dir, mit diesem Mann da auf den Berg zu steigen?« KC zeigte auf Venue, der die Gruppe anführte, die sich immer weiter von ihnen entfernte.
»Ja.« Cindy stapfte wieder los. »So ist es.«
»Er wollte bloß die Karte. Das ist der einzige Grund, warum Iblis dir verraten hat, wer er ist. Er schert sich einen Dreck um dich.«
»Bist du so sauer, weil ich mit ihm zusammenarbeiten will oder weil er mich mag?«
»Meine Güte, Cindy, weißt du eigentlich, was du da von dir gibst? Wenn wir ihm wirklich etwas bedeuten würden, hätte er sich in all den Jahren doch mal bei uns gemeldet! Dieser Mann ist genau das, was wir auf keinen Fall werden wollten. Er ist ein Verbrecher.«
»Seltsamerweise«, Cindy blickte KC fest ins Gesicht, »scheinst du dich aber ganz nach seinem Vorbild entwickelt zu haben.«
KC versuchte, die Anspielung zu ignorieren.
»Ist dir eigentlich klar, wohin wir gehen?«, sagte sie und stapfte neben Cindy her. »Weißt du, wie viele Menschen hier oben bereits gestorben sind?«
»Ich dachte immer, du liebst das Risiko, Miss Extremsport. Oder sollte ich sagen, Miss Outdoor?«
»Ja, ich liebe das Risiko und das Gefühl, wenn einem das Adrenalin durch die Adern schießt. Ich habe mich häufig bewusst dazu entschieden, gefährliche Dinge zu tun, aber Selbstmord wollte ich noch nie begehen.«
»Selbstmord?« Cindy schaute auf die Gruppe von Männern, die inzwischen etwa hundert Meter vor ihnen waren und gerade hinter einer Bergkrümmung verschwanden. »Ich glaube, wir werden hier ziemlich gut beschützt.«
»Vor was?«, fuhr KC sie an. »Vor dem Wetter? Das kann niemand aufhalten. Und wenn wir unser Ziel erreichen, wird das, was uns dort erwartet, nur noch lachen über unseren Schutz!«
»Was soll das denn heißen?« Abrupt blieb Cindy stehen.
KC lächelte sie ironisch an. »Was meinst du wohl, warum Simon, Michael und ich so darum gekämpft haben, dass sie diese Karte nicht in die Finger bekommen? Gold und Juwelen interessieren uns einen Dreck. Es geht im Leben um sehr viel mehr als immer nur ums Geld, Cindy. Da oben ist noch etwas anderes.«
»Du müsstest dich mal reden hören!« Cindy lachte, obwohl sie so erschöpft war. »Wer ist jetzt kindisch?«
Der erste Schnee fiel, schwebte sanft in den Aufwinden. Und plötzlich verschwand der blaue Himmel über ihnen, und an seine Stelle traten schwarze, unheilverkündende Wolken und tauchten die Welt verfrüht in das Licht der Abenddämmerung.
Ein lauter Donnerschlag krachte und hallte von den Felsen wider. Die Schneeflocken wurden zu Schneegestöber, das die Sicht um gut die Hälfte verringerte.
»Er führt uns in unseren Tod, ob du es nun wahrhaben willst oder nicht.«
»Ich glaube nicht, dass unser Vater …«
»Vater? Nennst du ihn jetzt Daddy? Ich bin überrascht, dass du so lange damit gewartet hast«, spottete KC. »Es ist wirklich erstaunlich, wie nah ihr euch gekommen seid.«
»Geh zum Teufel.«
KC lachte und begann, doppelt so schnell wie bisher die Steigung hinaufzulaufen. Rasch ließ sie ihre Schwester hinter sich. »Ich glaube, genau zu dem gehen wir.«