25.
KC beobachtete die beiden Wachmänner, die nach genau zwanzig Minuten auf ihrem Rundgang wieder an ihr vorüberkamen, ohne sie zu bemerken. KC wartete ungefähr eine Minute und trat dann aus der Dunkelheit der Mauer der Hagia Sophia. Sie zog zwei kleine schwarze Kästchen aus der Tasche, legte sie neben den Hauptweg, drückte jeweils auf einen Knopf an der Oberseite und richtete die Kästchen dann so lange aus, bis sie einen hellen Ton vernahm, der bestätigte, dass der Laserstrahl einwandfrei arbeitete. Wieder drückte sie auf den Knopf. Stille trat ein und ließ erkennen, dass die unsichtbare Barriere aktiviert war.
KC rannte auf das runde Gebäude zu, in dem sich das Grabmal Selims II. befand, und platzierte etwa sieben Meter vor der Eingangstür ein zweites Paar Sensoren. Als sie die Kästchen drehte, hallte ihr wieder der Alarm in den Ohren, diesmal schriller, lauter und bedrohlicher. Das verschaffte ihr zwar nur ein paar Sekunden Luft, aber eine kurze Vorwarnung war immer noch besser als eine plötzliche böse Überraschung.
So alt das Gebäude auch war, das sich vor ihr auftat, das Schloss war modern. Obwohl es sich unter verwitterter grüner Patina verbarg, die den Eindruck erweckte, es sei uralt, war der innere Mechanismus des Caprice-Zylinderschlosses erstklassig. Es galt als absolut einbruchsicheres Schloss, das nicht zu knacken war, aber wie alles, was mit Sicherheitsvorkehrungen zu tun hatte, war auch dieses Schloss nicht unüberwindbar. KC ließ einen flachen verspiegelten Schlüssel in den schmalen Zylinder gleiten und drückte auf den Knopf dahinter, wodurch sie die Sensoren aktivierte, die nun ihrerseits die Laserentriegelung betätigten. Der Schlüssel ließ sich leicht drehen, und mit einem dumpfen Geräusch öffnete sich das Schloss.
Rasch huschte KC durch die Tür, schloss sie hinter sich und verriegelte auch das Schloss wieder. Sie legte die blaue Reisetasche und ihre Prada-Tasche auf den Boden, drehte sich um und sah sich mit großen Augen in dem aufwendig gestalteten Raum um. Mit wunderschönen Fliesen verziert, war er ein kunstvoller Tribut an einen Mann, dessen Leistungen neben denen seines Vaters, seines Großvaters und seines Großwesirs verblassten, für dessen Leistungen er sich oft hatte würdigen lassen, indem er behauptete, es wären seine eigenen. Doch war er ein Sultan gewesen, der Regent eines der größten Reiche der Welt. Und in diesem Raum wurde ihm Tribut gezollt.
KC stand vor den Sarkophagen, die mit grünen Sargtüchern verhüllt waren. Insgesamt waren es vierundvierzig. Während der Gedanke an die sterblichen Überreste des Sultans und seiner Ehefrauen KC nicht störte – die kleinen, kindsgroßen Särge berührten sie tief. Kinder, Brüder, Schwestern und Söhne, die man ermordet hatte, damit sie gar nicht erst erwachsen wurden und Ansprüche auf den Thron anmeldeten. Mord im Namen der Stabilität des Reiches war im Mittelalter und in der Antike sehr viel üblicher gewesen, als irgendjemand zugeben wollte. Paranoia war normal gewesen unter Königen und Sultanen, Pharaonen und Kaisern; sie hatten alle ihr Leben mit wachsamem Auge auf diejenigen gelebt, die sie umgaben. Denn wenn man erst einmal an der Spitze war, ging es nicht mehr höher hinaus, nur noch ins Grab. Es gab keine Wahlen oder Amtsübergaben. Die Erbfolge bestimmte einzig und allein der Tod.
Doch Selim II. war nicht durch die Hand seiner Söhne oder Brüder gefallen, ebenso wenig durch die Hand seiner Großwesire und Admiräle. Er war weder durch Gift gestorben noch durch ein Schwert oder einen Dolch. Er war einem Unfall zum Opfer gefallen: Seine Amtszeit als Sultan endete mit einem Sturz. Er erlag Verletzungen, die er in unwürdigem und volltrunkenem Zustand im Jahre 1572 in den königlichen Bädern erlitten hatte.
Es dauerte vier Jahre, sein Grabmal zu errichten, eine scheinbar lange Zeit während einer Epoche, als ein König oder Sultan Tausende von Menschen dazu einteilen konnte, innerhalb von drei Jahren einen Palast zu bauen. Die Gruft war von dem großen Architekten Mimar Sinan konzipiert worden, der mehr als dreihundert der großartigsten Bauwerke des Osmanischen Reiches errichtet hatte, zu denen unter anderem der Harem des Topkapi-Palasts gehörte, die Selimiye-Moschee in Edirne und die Süleymaniye-Moschee in Istanbul. Er wurde neunundneunzig Jahre alt und war ein enger Freund des Großwesirs Mehmet Pasha. Sinan galt als einer der größten Architekten der Geschichte und wurde häufig mit Michelangelo verglichen.
Die Leichname und Sarkophage wurden im Schutz der Dunkelheit in das Grabmal gebracht. Erst 1577 wurde das Mausoleum der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
KC zog das grüne Sargtuch herunter und schaute auf einen kunstvoll verzierten Sarkophag, der aus Stein und geschnitztem Zypressenholz gefertigt war. Auf dem Deckel befand sich eine Darstellung Selims II., auf der er einen großen Turban und königliche Gewänder trug und auf einem hohen Berg stand, während sein Königreich ihm zu Füßen lag und seine Untertanen vor ihm knieten, um ihm zu huldigen.
KC umrundete den Sarkophag und betrachtete ihn, um sich ein endgültiges Bild zu machen. Er war wahrhaft für einen König gemacht. Er stand auf einem Granitfundament und war das Werk von Kunsthandwerkern, die sich wahrscheinlich monatelang damit geplagt hatten. Neugieriger geworden, zog KC das grüne Sargtuch von dem Sarkophag, der gleich links neben dem des Sultans stand und in dem seine erste Ehefrau Nur Bana ruhte, die acht Jahre nach ihrem Ehemann gestorben war. Er war sehr viel schlichter aus geschnitztem Zypressenholz gefertigt. Den oberen Teil des Deckels zierte ein Bild, das den Sultan zeigte, sowie ein Bild des Topkapi-Palasts und der Hagia Sophia.
Nur Bana war als Cecillia Venier Baffo zur Welt gekommen, eine junge venezianische Adelige, die von den Osmanen gefangen genommen worden war. Ihr Sohn Murad III. bestieg nach dem Tod seines Vaters den Thron; dadurch bekam sie als Valide Sultan, als Mutter des Königs, immer größere Macht. Acht Jahre lang führte sie zusammen mit Großwesir Mehmet Pasha die Regierungsgeschäfte, um eines Tages unter mysteriösen Umständen ums Leben zu kommen. KC lächelte bei der Vorstellung, dass eine Frau eine Welt regiert hatte, in der man die Rechte der Frauen unterdrückt hatte.
Sie rieb mit der Hand behutsam über den Deckel und über die exquisite Schnitzarbeit, die man einer Ehefrau hatte zuteil werden lassen, die wusste, dass sie nur eine von vielen Frauen ihres Mannes war. Ihr fielen die schlichten Scharniere auf, mit denen der Deckel am Sarg befestigt war, und sie fragte sich, warum man die Särge damals so gebaut hatte, dass man sie öffnen konnte. Schließlich legte KC das Tuch wieder über den Sarg der Frau und wandte sich noch einmal dem Sarkophag von Selim II. zu. Der hatte keine Scharniere, keinen Griff, an dem man ihn einfach hätte öffnen können. KC hätte sich gewünscht, den Deckel einfach hochheben, sich den Stab schnappen und wieder verschwinden zu können.
Der Deckel wog mindestens eine halbe Tonne. Da er aus massivem Stein gefertigt war, bedurfte es einer ganzen Mannschaft von Männern mit geschickten Fingern und Handwerkszeugen, um ihn zu öffnen.
KC lächelte. Michael besaß tatsächlich ein außerordentliches Talent, Sicherheitsvorkehrungen zu umlaufen, die schwierigsten Hindernisse zu überwinden und in die unmöglichsten Orte einzubrechen. Sie hatte sich nie auf Verbrechen eingelassen, bei denen es größere Hindernisse gab, sodass das körperliche Risiko nicht mit Erfindungsreichtum auszuschalten war, oder das Ganze Abgänge erforderlich machte, bei denen halsbrecherische Akrobatik vonnöten war. Aber Michael war ein Typ, der gern das Unmögliche versuchte.
KC griff in die blaue Reisetasche und zog die Aluminiumteile heraus. Sie befestigte den stabilisierenden Rahmen am Rückenteil des Sarkophages, ließ den dünnen Fuß unter den eigentlichen Sarg gleiten und hob dann die Abstützung hinter dem Rückenteil hoch und auf das Vorderteil. Sie drückte einen dünnen Keil gegen den Rand des Deckels und klopfte ganz vorsichtig, doch es schallte so laut wie ein Presslufthammer, als das dünne Stahlteilchen in die Vernahtung des Deckels glitt. KC presste die Rahmenstange gegen den Keil und machte beides aneinander fest. Michaels Konstruktion war einfach, ließ sich leicht zusammensetzen und noch leichter auseinandernehmen. Hergestellt hatte Michael das Ganze aus verstärkten Aluminiumteilen, wie man sie für Flugzeugtragflächen und Kupferrohre benutzte; im Grunde handelte es sich dabei um einen tragbaren Flaschenzug, der wahrscheinlich in der Lage war, sogar einen LKW zu heben, trotzdem aber in eine kleine Reisetasche passte. Der Fuß des Bausatzes wurde vom Gewicht des Sarkophags auf dem Boden festgehalten, während der Hebelarm wegen des allgemeinen Drucks fest in Position blieb. Das Gerät war so simpel wie ein Wagenheber.
KC wiederholte den Prozess an den drei verbleibenden Seiten des Sarkophags. Dann zog sie die hydraulischen Röhren aus der Tasche, befestigte sie und schloss den kleinen Luftzylinder an. Sie umfasste den Zylinder ganz fest und begann zu pumpen. Nach einem Augenblick brach die Versiegelung des Sargdeckels mit einem keuchenden Laut, der sich anhörte, als hätte die Geschichte selbst tief durchgeatmet. Der Deckel hob sich zuerst nur langsam, und das uralte Holz und Gestein gab protestierende Quietschlaute von sich. Millimeterweise hob sich der Deckel.
KCs Muskeln wurden rasch müde, doch sie pumpte immer weiter. Der Deckel war nun etwa zwölf Zentimeter weit geöffnet. Da sie der Versuchung nicht widerstehen konnte, schaltete sie ihre Taschenlampe ein und spähte hinein.
Was sie sah, erfüllte sie mit nackter Panik. Es war ganz und gar nicht das, was sie und Michael erwartet hatten. Schlagartig erfasste sie Todesangst um ihre Schwester, denn auf das, was sie vor sich sah, war sie kein bisschen vorbereitet.
Dann meldete sich plötzlich der Alarm. Die Laserschranke auf dem Bürgersteig war durchbrochen worden. Es kam jemand!
KC legte den Hebel für die Entriegelung um. Mit einem lauten Fauchen der Druckluftklappen schloss sich der Deckel des Sarkophags wieder. KC fasste nach den vier Streben, warf sie in ihre Tasche, drapierte das grüne Sargtuch dann wieder über dem Sarkophag und strich es glatt.
Der zweite Alarm schrillte ihr ins Ohr. Die Wachmänner waren auf dem Gehweg und kamen näher.
KC drehte sich um die eigene Achse und suchte überall. Schließlich fiel ihr Blick auf den Sarg der Ehefrau des Sultans. Sie klappte das grüne Tuch zurück. Ohne nachzudenken, rammte sie den Meißel in den Scharnierbolzen und war zutiefst dankbar, dass dieser Sarg nicht von der gleichen schweren Machart war wie der des Sultans.
Sie klappte den Sargdeckel auf und blickte auf die sterblichen Überreste von Selims Ehefrau: ein durchsichtiger weißer Schleier lag über ihrem Schädel, und ihr langes schwarzes Haar sah aus wie eben erst gekämmt. Die wenigen noch existierenden Hautfetzen erinnerten an papierdünnes Leder und lagen ausgetrocknet und schuppig auf den elfenbeinfarbenen Knochen. Sie war klein, weniger als eins sechzig, schätzte KC.
Der Lärm wurde lauter, die Wachen kamen näher.
KC drückte den knöchernen Leichnam zur Seite, warf ihre zwei Taschen in den Sarg und kletterte hinein. Geschickt hielt sie das grüne Tuch fest, als sie den Deckel schloss, um sicherzustellen, dass es so lag, wie es liegen musste.
Lautlos fiel der Deckel zu, und KC war umhüllt von Dunkelheit und dem moderigen Gestank des Todes. Sie kämpfte gegen den Ekel an und versuchte, sich mit dem Verstand vor dem Horror zu schützen, der neben ihr lag, während zugleich die Angst vor der Dunkelheit aus den Tiefen ihres Innern stieg. Nur half das jetzt alles nichts.
Ihr Geist kreischte vor Entsetzen.
Michael starrte in die Untiefen der Hölle, auf die Leiden und Qualen derer, die die Ewigkeit darin fristen mussten. Er hieb den Meißel in den Zenit des abscheulichen Kunstwerks, machte kurzen Prozess, zertrümmerte es mit aller Gewalt, als würde er dem Teufel mitten ins Herz schlagen. Während er bei den beiden anderen Mosaiken, den Darstellungen von Himmel und Erde, die Seiten und Außenränder intakt gelassen hatte, ließ er von der Unterwelt nichts übrig und vernichtete das gesamte Bildnis, bis keine Fliese mehr heil war.
Michael griff in die freigelegte Ausbuchtung und zog eine Kiste heraus, etwa einen Meter lang und um die dreißig Zentimeter breit. Er zögerte einen Moment, als er auf die Holzkiste schaute, denn er hoffte, dass er jetzt nicht die Büchse der Pandora öffnete. Er verfluchte seine Lage. Dann aber dachte er an KC, an den Kummer, der sie plagte, und an die Schuldgefühle, die sie wegen ihrer Schwester und Simon hatte.
Michael riss den Deckel auf, zerbrach dabei die Scharniere und das Schloss. Er griff in die Kiste und nach dem, von dem er wusste, dass es darin war. Er legte die Karte auf den Boden. Die Gazellenhaut war überraschend weich und geschmeidig, und die ausgerissene Ecke ließ nicht den geringsten Zweifel an der Echtheit der Karte. Sie war ungemein detailliert, zeigte den Osten Afrikas, den Indischen und den Pazifischen Ozean, Indien, Australien und den Fernen Osten.
Und Michaels Blick wurde wie magisch auf die Gebirgskette gelenkt, auf den Himalaja, der mit überwältigender Präzision eingezeichnet war. In der Mitte des Gebirgszuges befand sich die ausgefeilte Darstellung eines fünfgipfeligen Berges. Keiner der anderen Orientierungspunkte und keine der anderen Routen auf der Karte waren so detailliert und mit so vielen Anmerkungen versehen wie die Wegstrecke, die vom Meer durch die Flüsse Indiens bis hinein ins Herz des Kontinents führte. Michael war zwar nicht in der Lage, die türkischen Vermerke zu lesen, konnte sich aber denken, was sie besagten. Nach dem, was er über die Reisen des Kemal Reis gelesen hatte und über das Versteck dieser Karte hinter just dieser Mauer, hatte er keinen Zweifel, dass die Anmerkungen auf der Karte Warnungen waren.
Michael zog seine wasserfeste Digitalkamera aus der Tasche und machte diverse Aufnahmen von der Karte, bevor er die Kamera wieder in das Seitenfach gleiten ließ. Es war eine primitive Sicherheitskopie, aber besser als nichts.
Er rollte die Karte zusammen, nahm die Transportrolle vom Rücken und zog ihren oberen Verschluss ab. Dann drehte er die innere Verriegelung auf, steckte die Karte in die wasserdichte Röhre und verschloss sie luftdicht, was einen kaum hörbaren Zischlaut verursachte. Er legte die Lederklappe darüber, verschnürte sie fest und warf sich den Ledergurt über die Schulter. Dann packte er seine Handwerkszeuge zurück in die Neopren-Tasche, verschloss sie luft- und wasserfest und legte sie sich über die andere Schulter. Schließlich blickte er auf die Armbanduhr und versuchte kurz, Funkkontakt herzustellen, doch es klappte nicht: Die Mauern waren zu dick.
Michaels Nerven waren bei dem Gedanken an KCs Sicherheit zum Zerreißen gespannt. Er hoffte, dass sie längst fertig war mit Selims Grabmal und bereits auf ihn wartete.
Als er sich ein letztes Mal umschaute und den Schaden in Augenschein nahm, den er angerichtet hatte, betete er, es möge nicht vergebens gewesen sein. Dann dachte er an die Bilder auf dem letzten Mosaik – die Bilder einer Welt des Leidens, die sich tief in sein Inneres gegraben hatten. Er beschloss, niemals jemandem zu erzählen, was er gesehen hatte, weder KC noch Busch. Außerdem nahm er sich vor, ihnen nicht zu sagen, wohin die Karte seiner Befürchtung nach führte und was sie möglicherweise bedeutete.
Michael würde Simon freibekommen, und er würde dafür sorgen, dass Cindy sicher zu KC zurückkehrte, aber in einer Hinsicht bestand keine Frage: Er würde diese Karte niemals aus der Hand geben.
***
KC lag regungslos da und versuchte, so wenig zu atmen wie nur möglich, teils um den Sauerstoff zu sparen, der ihr zur Verfügung stand, teils um zu vermeiden, dass sich ihre Lunge mit dem Odem des Todes füllte, weil sie Angst hatte, es könne ansteckend sein. Obwohl die Frau vor fünfhundert Jahren gestorben war, hing der Gestank der Verwesung in der hölzernen Verschalung. Als KC den Leichnam zur Seite schob, überraschte sie das geringe Gewicht. Es war, als würde man dünne Stöcke bewegen, klappernde Knochen, an denen man sich schrammen konnte.
Dann wurde die Tür, die in das Mausoleum führte, mit lautem Krachen aufgerissen. Der Lärm dröhnte bis hinein in den Sarg, in dem KC sich versteckte. Sie lauschte angestrengt, hörte, wie die Wachmänner hereinkamen, und vernahm zwei Stimmen, die in drängendem Tonfall über Störfälle und Sicherheitsvorkehrungen sprachen und sich fragten, warum ausgerechnet sie die Totenwache halten mussten.
KC schaltete ihre Taschenlampe nicht ein und versuchte das Bild des verrotteten Skeletts zu verdrängen, das gegen ihren Körper drückte. Sie hatte es nur für einen kurzen Moment gesehen, und doch würde sie den Anblick für den Rest ihres Lebens nicht vergessen. Sie kämpfte gegen die Übelkeit an, die so übermächtig war, dass sich ihr der Magen umdrehte, und gegen den Ekel, dass sie neben einer Toten lag. Dennoch versuchte sie den Wachmännern zu lauschen und die gedämpfte Unterhaltung zu verfolgen, obwohl sie nur ein paar Fetzen davon mitbekam. Das Gerede schien sich über Stunden hinzuziehen, obwohl der Streifengang der Wachen durch das Mausoleum in Wahrheit nur ein paar Minuten dauerte.
Doch so grauenerregend der Ort auch war, an dem KC lag, und so Furcht erregend die Vorstellung, man könne sie schnappen – es war nichts verglichen mit dem, was sie im Sarkophag von Sultan Selim II. gesehen hatte. Es ließ ihr Herz zu Eis gefrieren.
Dann war das laute Knallen der Tür zu vernehmen. Im nächsten Moment fiel sie ins Schloss. KC hörte, wie sie verriegelt wurde. Es dauerte ein paar Sekunden, bevor der Alarm in ihrem Ohr ertönte und das Signal gab, dass die Wachen die erste Laserschranke durchbrochen hatten. Als der zweite Piepton erklang, wusste sie, dass sie fort waren.
Langsam hob KC den Deckel und leuchtete mit der Taschenlampe auf den Leichnam neben ihr. Der Kopf hatte sich vom Körper gelöst, und das einstmals elegant frisierte Haar hatte sich verheddert und hing wild um den Schädel. Voller Abscheu sprang KC aus dem Sarg. Im nächsten Moment schämte sie sich. Schließlich hatte sie den Frieden einer Toten gestört. KC erwog, die sterblichen Überreste wieder zurechtzulegen, wusste aber, dass ihr die Zeit davonlief.
Schnell machte sie sich am Sarkophag des Sultans an die Arbeit. Sie brauchte nur eine Minute, um das grüne Sargtuch herunterzunehmen und die Stützstäbe anzubringen. Eine weitere Minute benötigte sie, um den Deckel zu heben; aber dieses Mal hob sie ihn nicht nur ein paar Zentimeter, sondern pumpte so lange, bis der Deckel gut einen halben Meter weit offen stand.
Sie knipste ihre Taschenlampe ein und leuchtete hinein in die Finsternis und auf das, was sie bei ihrem ersten Versuch dort vorgefunden hatte.
Da war kein Leichnam. Es gab weder einen Sultan noch einen Stab. Der Sarg war so leer, wie er leerer nicht hätte sein können. Er hatte keinen Boden. Er war vielmehr der Eingang zu einer anderen Welt – der Zugang zum eigentlichen Grabmal.
Jetzt wusste KC, warum es vier Jahre gedauert hatte, dies alles zu bauen: Es hatte an dem Grabmal darunter gelegen. Die Hagia Sophia war früher eine Kirche gewesen, eine prunkvolle Basilika, und es war allgemein üblich gewesen, Kirchen über Krypten zu errichten. So war es vielerorts: im Vatikan, in der St. Patrick’s Kathedrale in New York City, in der Kathedrale Notre-Dame de Paris und anderswo. Als die Hagia Sophia im sechsten Jahrhundert als christliche Basilika erbaut worden war, hatte auch sie eine Krypta gehabt. Doch als die christliche Kirche 1453 in eine Moschee umgewandelt wurde, hatte man nirgendwo vermerkt, was aus den Krypten darunter geworden war. Jetzt, da KC in Selims Sarkophag schaute, war ihr auf einmal alles klar.
KC drapierte das grüne Tuch über den offenen Sarg; dann schnappte sie sich ihre zwei Taschen und den hydraulischen Zylinder, hob das grüne Tuch vorsichtig an und kletterte hinein in den Sarkophag. Die steilen, schmalen Stufen waren aus Stein und vor über vierhundert Jahren in den Fels gemeißelt worden.
KC hielt den Zylinder ganz fest, aus dem der Luftschlauch ragte, der mit den Hebearmen verbunden war. Dann öffnete sie die Entriegelungsklappe. Als der Sargdeckel sich langsam über sie senkte, geschah dies mit einem leisen Fauchen. Kurz bevor der Deckel ganz zuschlug, schloss KC die Entriegelungsklappe, sodass er nicht weiter sinken konnte und gerade so weit offen stand, dass Platz für den Luftschlauch war. Wer oben im Mausoleum stand, konnte nur den mit dem Sargtuch bedeckten Sarkophag sehen. Sollte der Deckel allerdings zufallen und den Luftschlauch abdrücken, würde KC fortan hier unten residieren, zusammen mit all den Scheußlichkeiten, von denen sie im Augenblick noch gar nicht wusste, um was es sich handelte.
KC lief über die Treppe nach unten. Die Taschenlampe wies ihr den Weg in die versteckte Welt. Als sie die letzte Stufe nahm, fand sie sich in einer Totenstadt wieder. Es war eine alte Krypta; so prachtvoll die ehemalige Basilika war, so prachtvoll war es auch hier. Die Grabanlage war auf dem Höhepunkt des Byzantinischen Reiches erbaut worden und mit Rundbögen und Marmorsäulen versehen, die später von den Osmanen renoviert und weiter ausgebaut worden waren. Die Wände schmückten Büsten und Mosaike, die christliche Heilige zeigten, muslimische Herrscher und die Glorie des Paradieses.
KC stand in einem Vestibül, das etwa fünf mal fünf Meter maß und sehr beengt war – eine Welt unter den Toten.
Sie leuchtete mit ihrer Taschenlampe umher und fand einen dunklen Gang, durch den sie in einen großen, offenen Raum gelangte, in dessen Mitte der wirkliche Sarkophag stand. Großwesir Mehmet Pasha war zu weit größerer Irreführung und Täuschung fähig gewesen, als je einem Menschen bewusst gewesen war. Der Raum war dekoriert mit Schätzen aus dem Osmanischen Reich, mit Säbeln und Koranen, blauen Mosaikkacheln und Kriegsbeute, von der Selim II. kein einziges Stück selbst beschafft hatte, denn er war nie in einen Krieg gezogen, hatte nicht einmal strategisch einen Krieg geplant. Stattdessen hatte er alles seinen Beratern überlassen und hinterher die Lorbeeren eingeheimst.
Da waren Kelche aus dem alten Rom, Juwelen aus Ägypten, Statuen von Pharaonen und Königen. KC war schockiert von einer goldenen Inschrift an der Wand, die selbst nach all den Jahrhunderten noch hell schimmerte: Sie war in Arabisch, Türkisch und Lateinisch verfasst und eine Warnung an die ganze Welt. KC las die Worte des Großwesirs: Wer den Inhalt dieses Grabmals an sich nimmt, den erwartet ewige Knechtschaft in der Hölle.
Dies erklärte vielleicht, warum keine der Kostbarkeiten je gestohlen worden war – nicht von denen, die dieses Grabmal erbaut hatten, ja, nicht einmal von Dieben, denen es möglicherweise gelungen war, bis nach hier unten vorzudringen.
KC war bereit, ihr Leben zu opfern, wenn sie damit ihre Schwester retten konnte. Sie würde alles tun, um Cindys Rückkehr und das Überleben ihres Freundes Simon zu gewährleisten.
Nun stand sie vor dem Sarkophag. Er war aus Gold, kunstvoll verziert, und schimmerte im Schein der Taschenlampe. KC kam sich vor wie Howard Carter, der erste Mensch, der den Sarkophag von König Tutanchamun erblickt hatte. Sie schaute auf ein Geheimnis, das seit Jahrhunderten gehütet worden war. Die Reliefarbeiten waren von Meistern ihres Fachs geschaffen worden; es schien, als hätten sie ihre magische Kunst in eine Darstellung des Himmels eingearbeitet.
KC schob die Finger unter den Deckel, und die Versiegelung brach sofort auf. Das Gewicht war zu bewältigen, wie sie beim Anheben feststellte, doch sie machte den Deckel wieder zu und schaute sich noch einmal in dem Raum um, blickte auf den Reichtum und auf die Kunstwerke längst versunkener Epochen. Schließlich fiel ihr Blick noch einmal auf die Warnung an der Wand. Knechtschaft in der Hölle. KC dachte an die Ewigkeit und daran, wie es wohl sein würde, in die Unterwelt verbannt zu werden, und ob ein solcher Ort überhaupt existierte. Sie war im katholischen Glauben erzogen worden und hielt nach wie vor daran fest, wobei ihr bewusst war, dass sie bereits gegen zahllose Gebote verstoßen hatte. Aber manchmal ist man gezwungen, die Gesetze Gottes und der Menschen zu brechen, um diejenigen zu retten, die einem am nächsten stehen, ungeachtet der Konsequenzen.
Zur Hölle mit Flüchen und Warnungen!
KC hob den Sargdeckel an.
Sultan Selim II. lag aufgebahrt da. Er hatte sich längst nicht so gut gehalten wie seine Ehefrau. Sein Gesicht war eingefallen und an manchen Stellen zerbröselt. Das wenige Haar, das er noch besaß, war braun mit grauen Strähnen und sah aus, als hätten Ratten daran genagt. Sein kunstvoller Kopfputz war auf die Seite gerutscht, und gut die Hälfte seines Schädels steckte darin. Er trug einen weißen Umhang, der mit Goldfäden bestickt war, und um seine nicht existierende Taille war eine grüne Schärpe geschlungen. Sein verwitterter Leichnam bestand nur noch aus den Spelzen eines zerbröckelten Skeletts.
Mit seinen knochigen Händen umklammerte er den Stab, hielt ihn wie ein Zepter vor der Brust. Die Stange des Hermesstabes war aus dunklem Holz gefertigt; im Licht von KCs Taschenlampe besaß sie einen tiefroten Schimmer. Wie beschrieben, wanden sich zwei Schlangen an dem Stab empor; mit ihren Rubinaugen starrten sie einander mit tödlichem Blick an. Die silbernen Vipernzähne waren gefletscht.
KC hatte noch nie eine Leichenplünderung begangen und hatte auch noch niemals über die geisterbeschwörende Natur einer solchen Tat nachgedacht. Wären die Umstände auch nur ansatzweise andere gewesen, hätte sie das Ganze angewidert, aber das hier war etwas anderes. Das hier bedeutete, Menschenleben zu bewahren. Es bedeutete, ihre Schwester und Simon zu retten.
Sie griff mit beiden Händen in den Sarg, ergriff den Stab und hob ihn langsam an, aber das Skelett leistete Widerstand, als kämpfe es aus den Höhen des Himmels oder aus den Tiefen der Hölle mit ihr. Mit einem Mal hatte KC panische Angst, der tote König könnte sich plötzlich aufsetzen und sie mit seinen knöchernen Händen packen.
Dann aber ließ der Sultan plötzlich vom Stab ab – mit einem laut knackenden Geräusch. KC hob den Stab in die Luft und sah ihn sich genauer an. Die Schlangenköpfe waren so detailliert gearbeitet, dass man sogar die Schuppen auf der Haut sehen konnte. Und die roten Augen schienen lebendig zu werden und zu flackern, als sie darauf starrte.
Auf einmal wurde KC schwindelig und übel. Sie war umgeben von Tod und hatte in den Vorhof zur Hölle klettern müssen, um das Leben ihrer Schwester zu retten. Nun wurde ihr alles zu viel. Ihr Verstand war plötzlich so benebelt, dass sie benommen auf den Leichnam starrte, der vor ihr lag.
Sie riss sich zusammen, wandte den Blick ab und schob den Stab schnell in die Transportrolle aus Leder, die Michael ihr gegeben hatte. Dann versiegelte sie den Hermesstab in der luftdichten Röhre und schwor sich, ihn nie wieder anzusehen.