16.

Michael und KC verließen das Four Seasons Hotel durch den Haupteingang und gingen die Straße hinauf. Sie schauten sich nicht um; deshalb sahen sie den gelben Fiat nicht, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte und dessen dunkelhaariger Fahrer jede ihrer Bewegungen beobachtete. Und der Fahrer wiederum sah den großen, blonden Amerikaner nicht, der wiederum ihn beobachtete. Busch hielt sich gezielt zurück. Er stand versteckt in der Hotelhalle. Von dort hatte er einen perfekten Überblick, während er durch das Teleobjektiv seiner digitalen Kamera schaute.

Der Fahrer hatte den Autositz so hoch gefahren, dass sein Kopf fast unter das Wagendach stieß. Busch grinste in sich hinein, als er begriff, dass der Mann seinen Sitz nur deshalb so hoch gestellt hatte, um größer zu erscheinen, als er in Wahrheit war.

Das lange braune Haar hing dem Mann ins Gesicht; hin und wieder warf er es mit der rechten Hand nach hinten. Busch konnte seine unschuldigen Züge sehen – ein äußeres Erscheinungsbild, das so ziemlich das genaue Gegenteil seines Charakters war. Sein gefühlloser Blick war weiterhin auf Michael und KC gerichtet, während er irgendetwas zu den beiden Personen sagte, die mit ihm im Wagen saßen. Sie waren kräftig, längst nicht so zierlich wie Iblis, aber sie hatten das gleiche Ziel im Visier.

Busch schoss Fotos von den Männern und knipste den Wagen und dessen Nummernschild zusätzlich mit einem Weitwinkelobjektiv. Aus seiner Zeit als Polizist wusste er, dass Leuten, die andere Personen beobachteten, so gut wie nie auffiel, wenn sie ihrerseits beobachtet wurden.

Als Michael und KC um die Ecke verschwanden, ließ Iblis den Motor an und fädelte sich in den Verkehr ein. Als der Wagen genau an der Hotelhalle vorüberfuhr, trat Busch rasch ein paar Schritte zurück, sodass der hagere Kerl ihn nicht bemerkte. Er prägte sich Iblis’ Gesichtszüge ein und dachte dabei an Simon und daran, wie er blutend und besinnungslos auf dem weißen Marmorboden der Hotelsuite gelegen hatte.

***

Die Strahlen der Spätnachmittagssonne fielen durch Hunderte bemalter Glasfenster wie Regenbogen, die sich über den Fußboden des gewaltigen Hauptschiffes ergossen, das nahezu achtzig Meter lang war – eine riesige Fläche, auf der die ungefähr dreihundert Touristen beinahe verloren aussahen.

Michael und KC liefen schnellen Schrittes über den Marmorboden. Dabei blickten sie die fünfundfünfzig Meter zur Spitze der Kuppel der Hagia Sophia hinauf.

Die Hagia Sophia war eines der unglaublichsten Bauwerke der Welt und gehörte neben dem Petersdom, der St. Paul’s Cathedral in London und dem Mailänder Dom zu den größten Kathedralen der Welt. Die Kuppel, die eine Spannweite von zweiunddreißig Metern hatte, erhob sich wie schwerelos über der Galerie aus vierzig Bogenfenstern, die dazu beitrugen, dass der farbenprächtige Innenraum vom Licht des Spätnachmittags durchflutet wurde.

Die Hagia Sophia war fast tausend Jahre lang die Hauptkirche des Byzantinischen Reiches und der religiöse Mittelpunkt der Orthodoxie gewesen. Über Jahrhunderte hinweg hatte sich hier eine beeindruckende Sammlung der heiligsten Reliquien des Christentums befunden, zu denen unter anderem ein Stein vom Grab Jesu zählte, Gegenstände, die der Jungfrau Maria gehört hatten, das Totenhemd Jesu und die Gebeine mehrerer Heiliger. Doch alle diese Reliquien waren an Kirchen in Zentraleuropa gesandt worden, als es während des Vierten Kreuzzuges im Jahre 1204 zum Angriff auf Konstantinopel kam.

Die Wände waren verkleidet mit Platten aus grünem und weißem Marmor und lila Porphyr und mit aufwendigen goldenen Mosaiken geschmückt, die Jesus, die Jungfrau Maria, Heilige, Kaiser und Kaiserinnen darstellten.

Nach achtwöchiger Belagerung führte Sultan Mehmed II. die Truppenverbände der Türken am 29. Mai 1453 nach Konstantinopel, eroberte die Stadt und beendete damit nicht nur die Herrschaft des Byzantinischen Reiches, die eintausend Jahre gewährt hatte, sondern läutete zugleich das Goldene Zeitalter des Osmanischen Reiches ein.

Während der Sultan seinen Streitkräften befahl, gegen die Byzantinische Apostelkirche zunächst nicht vorzugehen, damit er dort seinen eigenen Patriarchen einsetzen konnte, um besser mit seinen christlichen Untertanen fertig zu werden, befahl er die sofortige Unwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee. Die Glocken, der Altar und die Opfergefäße wurden entfernt; viele der christlichen Mosaike wurden mit der Zeit zugegipst. Ein Mihrab – eine Gebetsnische –, ein Minbar – eine Kanzel – sowie vier Minarette wurden errichtet. Bis 1935 blieb die Hagia Sophia eine Moschee; dann wurde sie vom türkischen Staat in ein Museum umgewandelt.

Michael und KC verließen das Bauwerk durch den Hinterausgang und liefen einen langen Weg hinunter, während KC geradewegs auf das mittlere der drei Gebäude zuhielt, die sich an der Südwestseite des Museums befanden. Das Grabmal von Selim II. war ein rechteckiges Bauwerk, das man mit einem achteckigen Bau ummantelt hatte, den eine marmorierte Bleikuppel krönte. Der Natursteinbau war mit Marmorplatten verkleidet und befand sich zwischen den Grabmalen von Selims Sohn, Murad III., und seinem Enkel, Mehmed III.

Vor dem Eingang befand sich ein Säulengang mit einer Zentralkuppel und Tonnengewölben über den Seitenteilen. Zwei Wachmänner flankierten den Eingang, standen faul herum und unterhielten sich leise, während die Touristen durch die weit offen stehenden Türen strömten.

Der Innenraum war gut beleuchtet dank zweier übereinanderliegender Reihen vergitterter Fenster, die sich um das gesamte Gebäude herumzogen; eine dritte Fensterreihe befand sich am Unterrand der Kuppel. In der Kuppel selbst waren noch einmal acht Fenster. Die von innen rote Kuppel war mit blauen und goldenen Mosaiken geschmückt. Ein blaues Band zog sich zwischen der oberen und unteren Fensterreihe um den achteckigen Innenraum und schuf eine Trennungslinie zwischen dem Raum unten, den Toten, und dem Himmel oben, der Kuppel. Das Band wurde von weißen arabischen Schriftzeichen geziert.

Die Menschenmenge, die nun, am späten Nachmittag, allmählich kleiner wurde, bewegte sich in feierlichem Schweigen durch das Bauwerk, vorbei an vierundvierzig grün umhüllten Särgen unterschiedlicher Größe. Neben dem Sarkophag von Selim II. gab es den seiner Gemahlin sowie die seiner fünf Söhne und seiner drei Töchter. Hinzu kamen die nur knapp einen Meter langen Särge seiner einundzwanzig Enkel und dreizehn Enkelinnen.

Die Wachmänner blieben die ganze Zeit draußen stehen, waren in ihr Gespräch vertieft und warfen nur hin und wieder einen Blick auf die umherschweifende Menschenmenge.

»Bist du sicher, dass der Stab in dem Sarg ist?«, fragte Michael.

»Ziemlich«, gab KC zur Antwort. »Simon hat gesagt, er wäre da drin, und in seinen Notizen steht es auch. Ich muss mich darauf verlassen.«

»Ganz sicher wärst du dir also erst, wenn wir das Ding öffnen würden? Jetzt gleich?«

»Nur zu«, forderte KC ihn heraus.

Michael ging am Sarg des Sultans vorüber und fasste dabei mit raschem Griff nach einer Ecke des grünen Sargtuchs, das auf Selims Sarkophag lag. Er zog es teilweise herunter, sodass man den Marmorsarg darunter sehen konnte. Die Touristen reagierten schockiert, während KC vor Staunen große Augen bekam. Michael tat verlegen, als wäre das Ganze ein Missgeschick gewesen. Er legte das Tuch wieder richtig hin und strich es glatt, bevor eine der Wachen etwas bemerkte.

Doch Michael hatte gesehen, was er hatte sehen müssen. Der Deckel des Sarkophags war gefälzt, sodass man ihn anheben konnte, obwohl er mehrere hundert Kilo wog.

»Wie soll ich das Ding hochkriegen?«, wisperte KC.

Michael grinste. »Das fragst du? Du verbringst doch so viel Zeit im Fitnessstudio.«

»Sehr witzig.«

»Es wird ein bisschen schwieriger, als wir erwartet haben.«

KC seufzte. »Denkst du wirklich?«

Michael lächelte. »Denken tue ich nur, wenn es unbedingt sein muss.«

KC drehte sich um und ging in Richtung Tür. Sie konnte ihre Wut nicht mehr verbergen. »Na, dann fängst du jetzt besser damit an«, sagte sie über die Schulter, »denn wir sitzen in der Tinte.«