35.

Iblis saß auf der kalten Metallbank des Mannschaftswagens der Polizei. Seine Hände und Füße waren gefesselt, und die Ketten klirrten bei jedem Schlagloch, in das sie auf der Fahrt vom Stadtviertel Sultanahmet zum Polizeirevier gerieten. Vier Beamte in dunklen Uniformen saßen mit Iblis auf dem Bänkchen, und aus ihren Augen sprühte der Hass.

Ein großer, dunkelhaariger Mann erhob sich vom Beifahrersitz. Er hatte eine leichte Wampe, die ihn auf den ersten Blick weich erscheinen ließ, doch seine harten Gesichtszüge verwischten diesen Eindruck sofort wieder, weil sie verrieten, dass er jedem Gegner mit seinen schwieligen Händen das Rückgrat brechen konnte. Er klopfte dem Fahrer auf die Schulter und ging nach hinten zu seinen Männern und dem Gefangenen.

Kudret Levant war seit fünfzehn Jahren bei der Polizei und ein erfahrener Detective. Zwölf Stunden zuvor war er von einem erbosten Ahmet Baghatur, dem Polizeichef, aus dem Schlaf gerissen worden, dem wiederum Premierminister Erdem die Hölle heißgemacht hatte. Falls Levant Interesse hatte, seinen Job zu behalten, blieben ihm vierundzwanzig Stunden, um die Terroristen zu finden, die für das Fiasko im Topkapi-Palast verantwortlich waren.

Levant grinste in sich hinein, als er den kleinen, mageren Mann anstarrte. Er hatte seinen Auftrag in gerade mal zwölf Stunden erfüllt. Und es waren weder Terroristen noch Extremisten gewesen – Fakt war, dass es für das Chaos in der Nacht überhaupt keinen politischen Beweggrund gegeben hatte. Es war um Geld gegangen, das universelle Motiv aller Motive.

Das Polizeirevier erhielt einen anonymen Anruf, in dem der Name und die Beschreibung des Täters und sein derzeitiger Aufenthaltsort mitgeteilt wurden. Es war einer von Hunderten von Hinweisen, allerdings war es ein Tipp, für den sie zuvor keinen Anreiz geboten hatten, und derjenige, der diesen Tipp gab, hatte auch keine Belohnung dafür verlangt, sondern lediglich eine Beschreibung des Gegenstands abgegeben, den der Mann bei sich trug, sowie eine Erklärung, welches Motiv hinter den Vorkommnissen der vergangenen Nacht steckte. Also hatte Levant seine Männer zur angegebenen Zeit losgeschickt. Sie platzten fast vor Aufregung, als sie auf der Lauer lagen und den Mann beobachteten, der genau der Beschreibung entsprach und die lange Lederrolle vom Gelände der Blauen Moschee trug. Ihr Vorgesetzter hatte ihnen befohlen, so lange die Stellung zu halten, bis ihre Zielperson wieder auf der Straße war. Sie konnten sich unter gar keinen Umständen einen weiteren Vorfall in einer ihrer erlauchten Touristenattraktionen leisten.

Levant stand im hinteren Teil des Mannschaftswagens und hielt die Lederrolle in der Hand, die genau so aussah, wie die Frau sie beschrieben hatte. Zornig starrte er den Dieb an.

»Sie haben uns Schande bereitet«, sagte Levant mit einer Stimme, die von jahrelangem Rauchen tief und heiser war.

Der milchgesichtige Dieb schwieg und starrte ihn mit eisigen Augen an.

»Und das auf der Weltbühne, denn eine Nummer kleiner ging es wohl nicht«, fuhr Levant fort. »Manchmal hasse ich, dass unsereiner an Gesetze gebunden ist, wie es in Ihrem Beruf sicher auch so mancher hasst. Sie beschneiden unsere Möglichkeiten, unseren Impulsen zu folgen und auf der Stelle Gerechtigkeit walten zu lassen. Konkret hießt das: Ich würde Ihnen am liebsten das dürre Hälschen umdrehen.«

Levant wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Lederrolle zu, öffnete sie und spähte hinein. Die Augen seiner Männer ruhten auf ihm, als er in die Lederröhre griff und das lange, mit Luftpolsterfolie umwickelte Objekt herauszog. Zwei der Beamten pfiffen bewundernd durch die Zähne, als sie die mit Juwelen besetzten Köpfe der beiden Schlangen erblickten, die so aussahen, als würden sie einander jeden Moment angreifen. Levant schaute auf die Noppenfolie und wickelte sie langsam ab. Als der Schaft des Stabes sichtbar wurde, schaute er auf seine Männer, die verwirrt die Köpfe schüttelten. Dann drehte er sich um und hielt Iblis den Stab unter die Nase.

Der Schaft war ein schlichtes Stück Kiefernholz. Brandneu. Levant flippte mit seinem Zeigefinger gegen den Kopf einer der beiden Schlangen. Als Nächstes griff er in eines der offenen Mäuler und drückte mit dem Finger unter den linken Zahn. Das silberne Stückchen brach ab.

»Soll das ein Witz sein?«, sagte Levant. »Das ist ja nur Schrott.«

Iblis saß da. Seine Augen zeigten nicht die geringste Regung, als er auf den falschen Stab starrte.

Detective Levant blickte noch einmal in die Röhre hinein, legte neugierig den Kopf zur Seite und drehte die Rolle dann auf den Kopf. Wie Wasser rieselte das Objekt in seine Hand. Er hielt es hoch, damit alle es sehen konnten. Die Diamanten funkelten und gleißten in der Sonne, die durch das Rückfenster des Mannschaftswagens schien. Das mit Juwelen besetzte Halsband war einzigartig: Diamanten, die in Silber gefasst waren, mit einem riesigen Saphir-Anhänger in der Mitte.

Ganz kurz zuckte es in Iblis’ Gesicht.

»Und dafür hast du die Reputation der Türkei aufs Spiel gesetzt?«

»Ich will meinen Anwalt anrufen«, sagte Iblis ruhig und ohne jede Regung.

»Du kannst zehn Anwälte anrufen. Niemand kann dir ersparen, was dir bevorsteht.«

Als Iblis wieder in Schweigen verfiel, konnte keiner der Polizisten seine Hände sehen, die hinter seinem Rücken in Handschellen lagen. Das Blut begann bereits zu tropfen und bildete eine Lache auf der Metallbank, weil er seinen Fingernagel immer wieder in das Fleisch seines linken Unterarms grub, immer tiefer bohrte, die Haut herunterriss.

Endlich drehte Iblis den Kopf. Seine Augen ganz groß, als wäre er soeben aufgewacht. Er schaute Levant an und lächelte.

***

KC stürzte durch die Tür der Abendländischen Präsidentensuite des Four Seasons Hotels Istanbul.

Michael saß am Esstisch. Vor ihm lagen die beiden Lederrollen mit dem Diebesgut. Auf dem Tisch stapelte sich eine Flut von Dokumenten, und neben zwei Mobiltelefonen stand eine offene Flasche Whisky.

»Wo ist sie?«, fragte KC keuchend, als sie hereinkam.

»Sie steht unter der Dusche«, erwiderte Michael und sortierte dabei die Papiere.

»Wie geht es ihr?« KC verzog das Gesicht, weil sie Angst vor der Antwort hatte.

»Es geht ihr gut. Sie ist allerdings stinksauer.« Michael sah sie an. »Aber ansonsten geht es ihr gut.«

»Sie ist sauer?« KC schien es nicht fassen zu können. »Weiß sie eigentlich, was wir mitgemacht haben?«

Michael saß ruhig da und machte sich darauf gefasst, dass sie erst einmal ihrem Zorn Luft machte.

»So ist es immer schon gewesen. Sie nimmt nicht mal den Hörer ab, wenn ich anrufe.« KC zeigte auf Cindys Mobiltelefon, das auf dem Tisch lag. »Hat sie gesehen, dass es meine Nummer war? Und einfach nicht reagiert?«

»Na ja …« Michael wollte ihr diese Frage nicht beantworten.

»Sag mir die Wahrheit!«

»Sie hat auf das Telefon geschaut und gesehen, dass du es warst. Und da hat sie beschlossen, duschen zu gehen.«

»Ist ihr denn nicht klar, dass ich ihretwegen mein Leben geopfert habe?« KC ging gereizt auf und ab, zermarterte sich das Hirn und drehte sich schließlich wieder zu Michael um. »Und da hat sie die Frechheit, mich zu ignorieren?«

»KC«, sagte Michael mit betont sanfter Stimme, stand auf und ging zu ihr. »Sie muss diese Dingen erst einmal verarbeiten. Sie ist entführt worden. Sie war vorher noch nie mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert. So etwas wie das hier hat sie noch nie erlebt. Das ist hart. Ich weiß noch, wie mein Adoptivvater immer gesagt hat, dass du deine Kinder noch so sehr lieben kannst, dass es aber noch lange nicht bedeutet, dass du sie jeden Tag leiden kannst – und trotzdem hörst du niemals auf, sie zu lieben. Das macht dich nicht zu einem schlechten Vater oder zu einer schlechten Mutter, und es macht dich nicht zu einem schlechten Kind oder einer schlechten Schwester. Es ist nur einfach so im Leben. Es geht nicht immer alles seinen gewohnten Gang, es ist vielmehr ein ständiges Auf und Ab. Wir können einen Menschen nicht nur dann lieben, wenn alles gut und das Leben rosig ist. Wenn wir einen Menschen wirklich lieben, dann lieben wir ihn auch an den schlechten Tagen, an ganz schlimmen Tagen.«

»Es tut weh, Michael«, sagte KC leise.

»Die Menschen, die wir am meisten lieben, können uns am meisten verletzen.«

»Verteidigst du sie?«, fragte KC. Beinahe schien sie es zu hoffen.

»Ich verteidige zwei Menschen, die einander lieben. Ihr seid Schwestern, und jede ist für die andere das Einzige an Familie, die sie noch hat. Ich weiß, dass ihr zwei das schon irgendwie auf die Reihe bekommt.«

KC entspannte sich, atmete tief durch und sah Michael in die Augen; seine beruhigende Stimme, sein Bestreben, Harmonie zu schaffen, wirkten ansteckend. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen.

»Dürfte ich wohl?« KC nahm Michaels Whiskyglas in die Hand. »Ich brauche das jetzt irgendwie.«

KCs Laune hob sich schlagartig, als ihr Blick auf die beiden Lederrollen fiel, die auf dem Esszimmertisch lagen.

»Ich kann mir nicht vorstellen, was im Moment in Iblis’ Kopf vorgeht«, sagte sie, als sie eine der Rollen in die Hand nahm, öffnete und auf die beiden Schlangenköpfe schaute, auf die roten Augen und die Silberzähne, die im Licht des Kronleuchters funkelten. »Wie um alles in der Welt hast du den falschen Kopf hinbekommen?«

»Ich habe ihn heute Morgen angefertigt, als du noch geschlafen hast. Ich habe einen Abdruck vom Kopf gemacht und eine Gussform hergestellt. Sie ist ziemlich primitiv.«

»Sie war gut genug, um ihn zu täuschen. Wo hast du das gemacht?« KC schloss das Behältnis und legte es wieder zurück auf den Tisch.

»In der Werkstatt im Hangar.«

»Du hast letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen, stimmt’s?«, fragte KC und schüttelte den Kopf. »Ich wäre mit dir gegangen.«

»Du brauchtest die Ruhe.«

»Und du nicht?«

»Dein Halsband war ein sehr kostspieliges Stück, um ihm damit was anzuhängen.«

»Glaub mir«, entgegnete KC. »Einen besseren Verwendungszweck hätte es dafür gar nicht geben können.«

»Warte erst mal, was passiert, wenn sie sein Haus unter die Lupe nehmen. Dann wird für die Kunstwelt Weihnachten, Ostern und Pfingsten auf einen Tag fallen.«

»Was hatte er denn an Kunstwerken?«

Michael schwieg einen Moment, um es sich auf der Zunge zergehen zu lassen. »Da Vincis ›Madonna mit der Spindel‹.«

»Was?« KC war ehrlich überrascht.

»Picassos ›Nature Morte à la Charlotte‹«, fuhr Michael fort.

»O Mann, der war ja echt gut drauf.«

»Er hat den Einbruch ins Gardner Museum in Boston gemacht.«

»Du hast die Rembrandts gesehen?«

»Und den Vermeer, den Manet und die fünf Degas.«

KC konnte nicht anders, sie musste lachen, als ihr das gewaltige Ausmaß von Iblis’ Taten bewusst wurde.

»KC?«, sagte Michael.

»Ja?« Sie schüttelte den Kopf, immer noch lachend.

»Sein Lieblingsgemälde, das Bild, das er am auffälligsten zur Schau gestellt hat, ist ›Concerto de Oberion‹.«

KCs Lachen verstummte.

»Er hat in Berlin die Museumsangestellten ermordet«, sagte Michael mit Verachtung in der Stimme. »Er hat den Museumsdirektor gefoltert.«

KC und Michael verfielen in Schweigen. Es schien ewig zu währen, als wollten sie damit den Leuten Respekt erweisen, die sechs Jahre zuvor im Franze-Museum ihr Leben gelassen hatten.

»Darf ich mir die Karte mal ansehen?«, fragte KC schließlich, trank den Rest von Michaels Whisky und versuchte, das Thema zu wechseln.

Michael nahm die zweite Lederröhre vom Tisch und öffnete sie. Er zog die Gazellenhaut heraus und rollte sie vor KC auf dem Esstisch aus. Nebeneinander standen sie unter dem Kronleuchter und schauten schweigend auf die aufwendigen Details.

»Sie ist unglaublich komplex …«, flüsterte KC ehrfurchtsvoll, als hätte sie eine Reliquie vor sich.

Die Karte reichte vom östlichen Teil Afrikas über den Indischen Ozean bis zum Südchinesischen Meer und zeigte detaillierte Illustrationen von Indonesien, Japan, Australien und sogar den winzigen Inselgruppen Mikronesiens. Viele der großen Flüsse Asiens waren mit akribischer Genauigkeit eingezeichnet: der Ganges, die Padma, der Jangtsekiang, der Gelbe Fluss und der Perlfluss. Gleiches galt für die Städte und Dörfer an den Ufern.

Im oberen Teil der Karte erblickte KC eine gewaltige Schlange mit Drachenkopf. »Sag mir bitte nicht, dass das der Ort ist, an den das Ganze hier führt.«

»Nein«, sagte Michael. »Das ist Terra Incognita, unbekanntes Land. Manche Kartographen kennzeichneten unerforschte Gebiete auf ihren Karten gern mit ausgefallenen Darstellungen von Ungeheuern aus der Mythologie.«

KC lächelte, hockte sich auf den Tisch und sah sich die Karte weiter an. So glitt ihr Blick schließlich über die Gebirgszüge des Himalaja und blieb auf einen ganz bestimmten Gipfel haften. Die Stelle war mit einer Vielzahl von Anmerkungen in türkischer Sprache versehen sowie Illustrationen von Gold, Silber, Juwelen, Büchern und Getreide.

»Das also ist es, wofür sich alle so interessieren«, flüsterte KC und fuhr dabei mit dem Finger über den eingezeichneten Weg, der vom Golf von Bengalen flussaufwärts an der Padma entlangführte, die im weiteren Verlauf zum Jamuna wurde, sich dann über Land nach Darjeeling in Indien zog und schließlich in der Gipfelwelt des Himalaja endete. »Was meinst du, was da ist?«

»Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht wissen«, antwortete Michael.

»Du bist nicht mal ein kleines bisschen neugierig?«, frotzelte KC.

»Wenn Simon sich davor fürchtet, fürchte ich mich auch.« Michael rollte die Karte zusammen und steckte sie zurück in die Röhre. »Ich muss ihm diese beiden Sachen bringen.«

»Ich komme mit. Ich muss vorher nur noch eben mit Cindy sprechen.« KC hob den Arm, schnüffelte an ihrer Achselhöhle und hob skeptisch die Augenbrauen. »Und duschen muss ich auch.«

»Ich glaube, das würde uns allen zum Wohle gereichen«, witzelte Michael. »Außerdem wollen wir ja nicht, dass du im Krankenhaus jemanden krank machst. Vielleicht stelle ich mich auch eben unter die Dusche. Simon schläft eh noch.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Halbe Stunde?«

»Danke.« KC saß immer noch auf der Tischplatte.

Michael packte seine Papiere zusammen und griff sich sein Mobiltelefon und die Lederrolle mit dem echten Stab.

KC nahm die Rolle mit der Karte in die Hand. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich mir die Karte noch einmal ansehe?«

»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Michael und hängte sich die Tasche mit dem Sultansstab über die Schulter. »Aber lass sie nicht aus den Augen.«

KC rutschte von der Tischplatte, ging zu Michael, hob die Hände und fuhr mit den Fingern durch sein Haar. Dann küsste sie ihn. Es war ein langer und sinnlicher Kuss, und eine Zeit lang schien die Zeit stillzustehen. All ihre Mühen, alle Gefahren und Ängste waren für den Moment vergessen, und sie ergaben sich ganz dem Augenblick.

»Ich gehe nicht davon aus, dass wir jetzt miteinander …«, begann Michael zaghaft, als sie sich voneinander gelöst hatten.

»Später.« KC drehte den Kopf und schaute auf die Treppe, die ins Obergeschoss führte, wo Cindy sich aufhielt.

»Gut. Ich liebe nichts so sehr, wie eiskalt zu duschen«, sagte Michael, wandte sich um und verließ die Suite.

***

Cindy öffnete die Badezimmertür. Sie hatte sich ein großes weißes Badelaken um den Körper geschlungen. Mit einer Bürste kämmte sie ihr nasses kastanienbraunes Haar, als sie das Schlafzimmer betrat.

»Alles in Ordnung?«

Cindy zuckte vor Schreck zusammen, als sie KC auf dem Bett sitzen sah.

Die beiden Schwestern starrten einander an wie Fremde. Im nächsten Moment drehte Cindy KC den Rücken zu und trat vor den Spiegel, um weiter ihr Haar zu bürsten, als wäre KC gar nicht da.

»Es tut mir leid«, sagte KC leise.

Cindy machte sich am Kleiderschrank zu schaffen, zog ein karamellfarbenes Chanel-Kleid heraus, das unter der Plastikhülle einer Reinigung hing, und hängte es an die Tür.

»Ich habe das alles nicht gewollt. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas passieren könnte.« KC senkte den Kopf.

Cindy ignorierte KC weiter, zog die Plastikhülle vom Kleid, knüllte sie zusammen und warf sie in den Papierkorb.

»Ich dachte, ich würde sterben«, sagte sie schließlich. Dabei zitterte ihre Stimme und war kaum lauter als ein Flüstern. Im nächsten Moment wandte sie sich schwungvoll um. In ihren Augen schimmerten Tränen der Wut, und die Haarbürste zitterte in ihren bebenden Händen. »Ich hatte Todesangst, aber nicht wegen der Entführung, KC. Weißt du, was am meisten wehtut? Dass mich der einzige Mensch, dem ich je vertraut habe, hintergangen hat. In jeder Hinsicht. Wärst du mir gegenüber ehrlich gewesen, wäre das alles nicht passiert.« Cindy schüttelte sich vor Abscheu. »Du bist eine Kriminelle. Du bist genau das geworden, was Mom unbedingt verhindern wollte. Du bist eine Verbrecherin, genau wie unser Vater ein Verbrecher war!«

Cindy verstummte. Sie drehte sich wieder zum Spiegel, hielt sich an der Frisierkommode fest und versuchte, sich zu beruhigen.

KCs Blick irrte durchs Zimmer. Die Situation war ihr peinlich, und sie suchte nach Worten. Plötzlich fiel ihr auf, dass etwas fehlte. »Wo ist dein Gepäck?«

»Ich habe es bereits vorgeschickt. Ich fliege mit der Abendmaschine nach London zurück. Ich will nur noch hier weg und diese Stadt nie wiedersehen.« Cindy nahm das Kleid vom Bügel, stülpte es sich über den Kopf, zog es herunter und strich es sich am Körper glatt. »Wahrscheinlich werde ich meinen Job verlieren.«

»Wirst du nicht«, erwiderte KC, wie sie es als große Schwester in solchen Fällen früher auch immer gesagt hatte.

»Glaubst du vielleicht, die hätten Verständnis für so was?«

»Du bist entführt worden«, gab KC zur Antwort, als würde das alles erklären.

»Was redest du da? Ich kann denen doch nicht erzählen, dass ich entführt wurde. Wie hört sich das denn an? Wie die jämmerlichste aller jämmerlichen Ausreden. Das ist ja noch schlimmer als ›Der Hund hat meine Hausaufgaben gefressen‹. Und außerdem: Hast du an irgendeinem Punkt die Istanbuler Polizei angerufen und eine Vermisstenmeldung aufgegeben? Nein, hast du nicht. Denn du hattest wahrscheinlich Angst, dass man dich sofort verhaften würde. Siehst du, deshalb gibt es keine Beweise, dass ich entführt worden bin. Und wie sollte ich denen als Nächstes verklickern, dass ich freigekommen bin?« Cindy streckte die Arme aus, die Handflächen nach oben gedreht, und spielte die Szene. »›Meine Schwester und ihr Freund sind losgegangen und haben eine antike Seekarte geklaut, und dann haben sie den Tresor eines Verrückten geknackt, um mich zu befreien.‹ Ich kann mir nicht vorstellen, dass das bei der Personalabteilung gut ankommen würde.«

KC saß da, hörte einfach nur zu und begriff allmählich.

»Wenn meine Vorgesetzten herausfinden, dass meine Schwester eine Diebin ist … was meinst du wohl, wie groß dann meine Aussichten wären, meinen Job zu behalten? Das heißt also, dass ich es jetzt genauso machen muss wie du und mir irgendeine Lüge einfallen lassen muss. Hättest du vielleicht einen guten Rat?«, fragte Cindy frostig. »Sie haben mich bei meinem Bewerbungsgespräch gefragt, welchen Menschen in meinem Leben ich am meisten bewundere, wer mich am meisten geprägt und beeinflusst hat. Und weißt du, was ich geantwortet habe?« Cindy schüttelte enttäuscht den Kopf. »Die Antwort auf jede dieser Fragen warst du.«

Cindy nahm ihre Bürste wieder in die Hand und fuhr sich ein letztes Mal durch ihr Haar, bevor sie es mit einer großen schwarzen Spange zusammensteckte.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, flüsterte KC niedergeschlagen.

»Weißt du eigentlich etwas über Arbeit?«, fragte Cindy. »Legale Arbeit?«

KC bemerkte, wie sie allmählich die Rollen tauschten. Bisher war sie immer diejenige gewesen, die den Ton angab, die sagte, wo es langging, die über Recht und Unrecht referierte und ihrer Schwester sagte, was sie zu tun hatte. Aber jetzt baute Cindy sich vor ihr auf, und ihre Worte bohrten sich wie Dolche in KCs Herz. KC fühlte sich wie ein Kind, das die Erwartungen nicht erfüllt und ihre Schwester enttäuscht hatte.

»Sieh es positiv, KC: Dad wäre mächtig stolz auf dich.« Cindy drehte sich um und ging zurück ins Bad.

KC blieb auf dem Bett sitzen. Ihr Herz klopfte heftiger als in jenen Minuten in der Hagia Sophia, als sie Angst gehabt hatte, geschnappt zu werden, heftiger als auf den Straßen Istanbuls, als sie mit Michael um ihr Leben gerannt war. Obwohl sie in beiden Fällen der Angst ins Auge geblickt hatte, alles zu verlieren, was ihr lieb und teuer war – es war nichts gewesen im Vergleich zu den Gefühlen, die sie jetzt übermannten. Ihre Angst, dass Cindy beschließen könnte, aus ihrem Leben zu verschwinden und sie zu verlassen, war sehr viel größer. Cindy war alles, was sie hatte.

Das Läuten eines Mobiltelefons schreckte KC aus ihren Gedanken. Cindy kam aus dem Bad, verließ das Schlafzimmer und eilte ins Untergeschoss. KC konnte hören, wie sie das Gespräch entgegennahm und leise mit jemandem redete. Allein mit ihren Gedanken fühlte KC sich plötzlich einsam. Cindy hatte bereits gepackt, im räumlichen wie im übertragenen, gefühlsmäßigen Sinn.

»Großartig«, sagte Cindy, als sie forschen Schrittes ins Schlafzimmer zurückkam. »Da hatte ich gedacht, ich würde nach London zurückkehren, um darum zu kämpfen, meinen neuen Job zu behalten, und jetzt muss ich darum kämpfen, ihn zurückzubekommen. Vielen Dank, dass du nicht nur mein Vertrauen zerstört, sondern auch meine Karriere ruiniert hast.« Cindy schnappte sich ihre Handtasche, ging zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal um und starrte KC wütend an.

»Halt dich aus meinem Leben raus«, sagte sie mit wohlüberlegter Schärfe. Und dann ging sie.

KC empfand überwältigende Schuldgefühle: Sie hatte nicht nur das Leben ihrer Schwester zerstört, ihre Karriere, ihr Vertrauen, sie hatte ihr auch sämtliche Hoffnung geraubt.

KC hörte, wie die Tür der Suite zuschlug, und lief aus dem Schlafzimmer auf den Treppenabsatz, von dem man auf den großen Wohnraum blicken konnte. Sie schaute hinunter auf die lederne Transportrolle, die auf dem Esszimmertisch stand. Die Welt hatte diese Karte noch gar nicht zu Gesicht bekommen, und doch hatte sie bereits das Leben mehrerer Menschen zerstört.

Mit starrem Blick auf die Flasche Jack Daniels, die Michael zurückgelassen hatte, stieg KC die Treppe hinunter. Sie schenkte sich einen Drink ein und schaute aus den riesigen Fenstern auf die Minarette der Hagia Sophia, die in den Himmel stachen. Sie stellte sich vor, wie friedlich und unbeschwert man sich fühlen musste, wenn man auf dem obersten Balkon stand, hoch über der Stadt, fern der Widrigkeiten des Lebens.

Sie nahm die Lederrolle in die Hand, hob die Verschlussklappe, drehte die Verriegelung der innenliegenden Metallröhre auf und stellte das Ganze auf den Kopf. Sie musste noch einmal einen Blick auf dieses Werk werfen, das ihr eine solche Last auf die Schultern gelegt hatte – auf die Karte, die so voller Geheimnisse schien und Simon mit so viel Furcht erfüllt hatte.

Aber nichts rutschte aus der Röhre heraus. Sie war leer.

Die Karte war verschwunden!

KCs Mobiltelefon läutete. Sie riss es aus der Hosentasche, war aber so verwirrt, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Immer wieder irrte ihr Blick durch das Zimmer und zurück auf die Lederrolle.

Wieder läutete KCs Telefon. Voller Hoffnung schaute sie auf die Nummer, aber es war nicht Cindy, die anrief. KC kannte die Nummer gar nicht. Sie erwog, den Anruf zur Mailbox weiterzuleiten, verwarf den Gedanken dann aber, klappte das Gerät auf und nahm das Gespräch entgegen.

»Hallo«, meldete sie sich.

»Hallo, KC.«

KC stockte der Atem. Die Wände des Zimmers schienen mit einem Mal näher zu kommen, und die Luft wurde ihr knapp. Verwirrt lauschte sie der Stimme des Anrufers. Die verschwundene Karte wurde nebensächlich.

»Erinnerst du dich, was ich dir gesagt habe?«, wisperte Iblis. »Was passiert, wenn du mich betrügst?«

***

Cindy lief durch die Halle des Four Seasons Istanbul und nach draußen auf die Straße.

»Guten Abend, Ma’am.« Der Türsteher nickte ihr zu. »Darf ich Ihnen ein Taxi besorgen?«

Cindy ignorierte den Mann und schaute die Straße hinauf und hinunter. Schließlich sah sie den Chauffeur der Limousine, der das Schild in der Hand hielt, auf dem »Ryan« zu lesen war. Er stand südlich vom Hotel und lehnte sich gegen einen schwarzen Mercedes. Die Longchamp-Tasche über der Schulter, die Handtasche unter dem Arm, ging Cindy auf den Wagen zu. In ihrem Chanel-Kleid und den Prada-Schuhen sah sie wie eine Dame der Gesellschaft aus.

»Einen schönen Abend noch!«, rief der Türsteher.

Cindy machte sich nicht die Mühe, den Mann eines Blickes zu würdigen, und ging auf den Chauffeur der Limousine zu, der ihr die Tür offenhielt. Er war groß und drahtig und erkennbar ein Einheimischer. Cindy vermied es, ihm in die Augen zu sehen, und schwieg, als er sie begrüßte. Dumpf fiel die Autotür hinter ihr zu. Cindy sah sich drei großen schweren Männern gegenüber, die sie schweigend musterten. Die Waffen, die sie trugen, waren nicht zu übersehen. Das Zuschnappen der Türschlösser hallte überlaut im Innern des klimatisierten Wagens wider.

***

Iblis drückte sich das Mobiltelefon fest gegen das Ohr. Blut rann über seinen Arm, sammelte sich in seiner Armbeuge und tropfte auf den Metallboden des Mannschaftswagens der Polizei. Jeder Tropfen ließ die Blutpfütze, in der Iblis stand, größer werden. Zu seinen Füßen lagen mehrere tote Polizisten.

In der freien Hand hielt Iblis eine dünne, zehn Zentimeter lange Metallklinge. Er hielt sie mit dem gleichen Stolz, mit dem ein Tennisspieler den Schläger hält, mit dem er gerade den Matchball verwandelt hat.

Mit dieser Klinge hatte er die Polizisten blitzschnell durch Schnitte in den Hals getötet. Die schmale, scharfe Waffe hatte in einer dünnen Umhüllung aus medizinischem Plastik gesteckt. Ein Jahr zuvor hatte Iblis sich mit seinem Jagdmesser den Unterarm aufgeschnitten, um das Spezialmaterial, das er zu einem dünnen Messerhalter geformt hatte, unter der Haut zu implantieren. Das messerförmige Instrument war aus Wolframstahl und besaß eine hauchdünne Klinge, die im Tageslicht funkelte. Es war schmal und perfekt dazu geeignet, nicht nur Handschellen und verschlossene Türen zu öffnen, sondern auch Fleisch vom Knochen zu lösen.

Iblis hatte es unter seine Haut implantiert für den Fall, dass er irgendwann in Not geriet. Dafür hatte er gern in Kauf genommen, an jedem Flughafen das »Metallrohr« erklären zu müssen, das angeblich seinen Ellbogen zusammenhielt, wobei er dann auch jedes Mal die »chirurgische« Narbe zeigte, die als unbestreitbarer Beweis seinen Unterarm verunzierte.

Jetzt hatte er das Messer aus seinem Arm herausgeschnitten, hatte seine Fingernägel benutzt, um die Oberhaut aufzuritzen und dann tief ins eigene Fleisch zu graben. Der Schmerz war grauenhaft gewesen; sich die eigene Haut vom Leib zu reißen, ohne Betäubung und ohne sehen zu können, war eine Tortur gewesen. Niemand im Mannschaftswagen hatte etwas bemerkt, als er schließlich das blutverschmierte Plastik mit einem nass klingenden Laut aus dem Fleisch gezerrt hatte. Als er die Waffe in der Hand hielt, die er ein Jahr zuvor wie einen Schatz versteckt hatte, legte sich ein grausames Lächeln auf seine Lippen.

Mit den Handschellen machte er kurzen Prozess. Als er dann die Hände frei hatte, benutzte er sie, um die ahnungslosen Männer zu töten, die ihn verhaftet hatten. Der Fahrer war in der Sekunde gestorben, in der die dünne Metallklinge in seinen Hirnstamm schoss. Der Mannschaftswagen blieb stehen, wo er stand, als die Ampel auf Grün schaltete.

Iblis blickte auf den toten Detective Kudret Levant, der ihn so verhöhnt hatte wegen seiner angeblichen Schuld und der nicht begriffen hatte, dass Iblis das Opfer war. Iblis tat das Einzige, was er für angemessen hielt: Er schnitt Levant die Augen aus dem Kopf. Dann fesselte er ihn mit seinen eigenen Handschellen, was von pfeifenden Geräuschen untermalt wurde, die von Levants Atem herrührten, der durch das kleine Loch unter seinem Adamsapfel zischte – einem Luftröhrenschnitt, den Iblis keineswegs aus Entgegenkommen vorgenommen hatte. Vielmehr stopfte er chirurgische Gummihandschuhe in Levants Nase und Mund, die aus dem Erste-Hilfe-Kasten des Mannschaftswagens stammten und luftundurchlässig waren. So war dafür gesorgt, dass Levant qualvoll starb, sobald das Blut um den Luftröhrenschnitt herum gerann, sodass er langsam erstickte.

Nun stand der Mannschaftswagen mitten auf der Straße und bewegte sich keinen Millimeter, obwohl die Ampel auf Grün sprang, doch seine rot und blau blinkenden Signalleuchten hielten jeden davon ab, zu hupen oder sich dem Fahrzeug zu nähern.

Iblis hielt Levants Mobiltelefon fest in der rechten Hand. In seiner Stimme schwangen trotz der Morde, die er soeben verübt hatte, weder Nervosität noch Erschöpfung mit.

»KC«, sagte er ruhig, »du wirst dir jetzt genau anhören, was ich zu sagen habe.«